Nach dem Terror von Paris:


Die Selbstbehauptung
einer Gesellschaft

Von Stephan Detjen

Hauptstadtstudio des Deutschlandfunks


 


 

Nach dem Anschlag auf "Charlie Hebdo"
 solidarisieren sich europaweit Menschen mit dem Satiremagazin
 (dpa / picture alliance / Cyril Dodergny)

 

Die Gemeinsamkeit im Verständnis der Meinungsfreiheit ist weder in Europa noch innerhalb Deutschlands so groß, wie es angesichts der Beteuerungen aus allen Richtungen nach den Pariser Terrorakten erscheinen mag, meint Stephan Detjen. Die Grenzen müssen in unseren heterogenen Gesellschaften immer neu definiert werden.

Auch der Bundespräsident hat es gestern gesagt: Wir sind alle Charlie. Jeder konnte spontan verstehen, was gemeint war. Das französische Satiremagazin ist in den vergangenen Tagen zum Synonym für ein weit über die Pressefreiheit hinausreichendes Werteverständnis geworden. Es geht um Toleranz, Pluralität und die Herrschaft des Rechts.

Es geht um die Selbstbehauptung einer Gesellschaft, die in den blutigen Religionskriegen vergangener Jahrhunderte gelernt hat, ihre inneren Konflikte nicht mit der Waffe in der Hand auszutragen.

Diese Intention leitet auch die zahllosen Journalisten, Zeitungen und Medienorganisationen, die in diesen Tagen den Satz "Je suis Charlie" auf Titelseiten druckten oder Fotos veröffentlichten, auf denen versammelte Redaktionen Schilder mit dem schwarz-weißen Emblem in die Höhe hielten.

Medien und Politik dürfen sich nicht miteinander identifizieren

Doch gerade weil es um die Verteidigung von Pluralität und Meinungsfreiheit geht, wird auch deutlich werden müssen, dass die Besinnung auf diese Grundwerte auf keinen Fall missbraucht werden darf, um Konformität in den Diskussionen zu erzwingen, die auch nach den Anschlägen von Frankreich fortgeführt oder neu aufgenommen werden müssen.

Es geht zunächst darum, nach dem Schulterschluss unter unmittelbaren Eindruck des Schreckens wieder in die Verteilung unterschiedlicher Rollen zurückzufinden, die eine auf der Gewaltenteilung beruhende Verfassungsordnung fordert. Politiker müssen sich mit Journalisten solidarisieren, die unter den Beschuss von Terroristen geraten. Aber Medien und Politik dürfen sich nicht miteinander identifizieren. Regierung und Opposition müssen sich im Angesicht des Terrors der Gemeinsamkeit der Demokraten versichern. Aber sie müssen auch – wenn es darum geht, Konsequenzen aus den Erlebnissen der letzten Tage zu ziehen – die Freiheit zum Streit über unterschiedliche Antworten ausschöpfen.

In Frankreich wurde der Satz "Je ne suis pas Charlie" flugs vom Altvater des rechtspopulistischen Front National, Jean Marie Le Pen, gekapert. Das zeigt, wie schnell die Räume für eine offene Diskussion eng werden.

 Denn in der Tat gibt es ja gute Gründe für den Hinweis, dass die Solidarisierung mit den ermordeten Karikaturisten von Charlie Hebdo nicht die Identifikation mit ihrer Art der Zeichenkunst bedeuten muss. Auch ohne Salafist oder katholischer Fundamentalist zu sein, kann man darin vor allem den Ausdruck einer aggressiven Polemik sehen, die den Dialog in multireligiösen Gesellschaften eher erschwert als befördert.
 

Boden für breiten Dialog

Die Gemeinsamkeit im Verständnis der Meinungsfreiheit ist jedenfalls weder in Europa noch innerhalb Deutschlands so groß, wie es angesichts der Beteuerungen aus allen politischen und weltanschaulichen Richtungen erscheinen mag.

 Satire, Tabubruch und Blasphemie müsse eine Gesellschaft aushalten, schreibt heute der Präsident des Bundesverbandes Deutscher Zeitungsverleger und blendet aus, dass auch im deutschen Recht ein Blasphemieverbot gilt, das die Beschimpfung religiöser und weltanschaulicher Bekenntnisse mit bis zu drei Jahren Haft bedroht.

 Wenn es um die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus oder Antisemitismus geht, werden in der deutschen Öffentlichkeit Tabugrenzen verteidigt, die deutlich über die ebenfalls strafrechtlich sanktionierte Leugnung des Holocaust hinausgehen. In Frankreich wurde erst jüngst die Leugnung des Völkermordes an den Armeniern unter Strafe gestellt. Es gibt für all diese Normen gute Gründe. Sie belegen aber zugleich, dass es auch in laizistisch-aufgeklärten Gesellschaften Bereiche rechtlicher ebenso wie zivilreligiöser Übereinstimmungen gibt, die der Meinungsfreiheit Grenzen setzen.

In heterogenen Zuwanderungsgesellschaften müssen diese Grenzen immer wieder neu verhandelt werden.

 
Neben dem Schulterschluss der Demokraten in Europa hat die Terrorserie in Frankreich vor allem unter Muslimen schon jetzt die Diskussion über eine islamische Theologie befördert, die mit den Grundwerten liberaler und pluraler Demokratien vereinbar ist. Dieser Prozess könnte sich als bedeutsamer erweisen als die Wiederholung mancher politischer Debatte über die Verschärfung von Sicherheitsgesetzen.

 Er könnte den Boden für einen breiten Dialog bereiten, der zuvor allenfalls in kleinen Kreisen möglich war. Dieser Dialog wird aber auch die Bereitschaft erfordern, manche Gewissheit infrage zu stellen, die dieser Tage im Zeichen des Schreckens und der Bedrohung behauptet wird.

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Januar 2015

 

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