Eine Sendung des
Deutschlandfunks August 2015

Leidenswege nach Europa:

Was Flüchtlinge ertragen
und Schlepper verdienen
 

Flüchtlinge erleben auf ihrem Weg nach Europa eine Tortur. Und die Flucht kostet nicht nur Kraft, sondern auch viel Geld. Vor allem die Schlepper profitieren von den immer höher werdenden Zäunen, mit denen die europäischen Staaten die Menschen fernhalten wollen.

Von Karl Hoffmann
 

Ein weinendes Mädchen hinter einem Stacheldrahtzaun (picture alliance/dpa/Vassil Donev)

Seit einigen Wochen ist Gevgelija in Mazedonien zum Symbol einer europäischen Zeitenwende geworden (picture alliance/dpa/Vassil Donev)
Gevgelija war bis vor wenigen Wochen ein fast unbekannter Ort. Ein kleines verschlafenes Städtchen im Balkanstaat Mazedonien, direkt an der Grenze zu Griechenland. Die einzigen Besucher kamen bisher aus der 80 Kilometer entfernten Millionenstadt Thessaloniki, um sich in den drei Spielkasinos von Gevgelija zu vergnügen. Doch seit einigen Wochen ist Gevgelija zum Symbol einer europäischen Zeitenwende geworden. An kaum einem Ort ist die Migration so dramatisch sichtbar wie hier.

Auf den anderen Flüchtlingsrouten zerteilt sich der Menschenstrom oft in viele Rinnsale. Im Kanal von Sizilien etwa werden die Flüchtlinge aus den brüchigen Holzbooten gerettet und dann in verschiedene Hafenstädte in Italien gebracht. Von dort verteilen sie sich auf vielen Wegen Richtung Norden, oft in kleinen Gruppen, in Zügen oder Bussen. In Gevgelija aber ist der Flüchtlingstreck ein einziger massiver Strom, der kaum je abreißt.

Wenn sie der Hölle in den Lagern auf den griechischen Inseln entkommen sind, wollen die Flüchtlinge so schnell wie möglich Griechenland verlassen. Mit dem Zug fahren sie nach Thessaloniki und von dort weiter mit dem Bus bis nahe an die Grenze zu Mazedonien. Manche haben auf der Flucht bis hier so viel Geld verloren, dass sie sich nicht einmal mehr die Busfahrkarte leisten können.
 

Flucht über Mazedonien
 

Shigatsu heißt der junge Mann, der die Schuhe ausgezogen hat und sich die Füße massiert. Zusammen mit seinem Freund sei er aus Kamerun in die Türkei gekommen. Dort hätten die beiden monatelang gearbeitet, erzählt Shigatsu. Irgendwann hätten sie keine Jobs mehr bekommen und sich auf die Reise nach Europa gemacht. Erschöpft sitzen die beiden vor den mazedonischen Grenzern und warten darauf, dass sie durchgelassen werden.

- "Das ist kein Leben mehr, kann ich Ihnen sagen. Wir sind zu Fuß aus Thessaloniki hierhergekommen, nicht mit dem Autobus, traurig aber wahr."
- "Da wart ihr bestimmt drei Tage unterwegs?"
- "Nein, nur einen Tag. Wir sind gestern losgelaufen und waren die ganze Nacht unterwegs."

Die beiden stehen zusammen mit schätzungsweise 500 weiteren Männern, Frauen und Kindern vor einem dunkelgrauen Geländefahrzeug, das die griechisch-mazedonische Grenze markiert. Drei Beamte regeln den Durchfluss der Flüchtlinge so gut sie können. Sie lassen Gruppen von jeweils 40 Menschen bilden. Und schicken sie im Abstand von einer Viertelstunde zu Fuß weiter. Und prompt gibt es Ärger.

"Die Leute da hinten durften weiterziehen und wir mussten warten, obwohl wir doch so viele kleine Kinder haben."

Beklagt sich dieser Kurde aus der Gegend der umkämpften syrischen Stadt Kobane. Dabei hatte er noch Glück, Tage später lässt die mazedonische Regierung Militär auffahren, Stacheldraht ausrollen und die Grenze schließen.

Es ist eine sinnlose Entscheidung. Tausende Flüchtlinge stehen fassungslos auf dem inzwischen zur desolaten Müllhalde verkommenen Acker. Unzählige weitere Flüchtlinge strömen nach, bis die Situation unhaltbar wird. Ihre Reaktion ist vorhersehbar. Sie protestieren gegen die Versperrung ihres Fluchtweges, reißen den provisorischen Grenzzaun nieder und strömen unaufhaltsam weiter. Die mazedonische Regierung gibt nach und winkt die Flüchtlinge erneut durch.
 

Gevgelija ist die reinste Schikane
 

Trotzdem ist dieser Ort die reinste Schikane. Alte, Kranke, Kinder, Einbeinige auf Krücken – alle müssen kilometerweit zu Fuß bis zur Bahnstation von Gevgelija laufen. 2.000 bis 3.000 Menschen täglich schleppen sich hier über eine Grenze, die eigentlich gar nicht erkennbar ist.

Weil all diese Menschen illegale Grenzgänger sind, dürfen sie nicht an der normalen Zollstelle zwischen Griechenland und Mazedonien einreisen. Sie müssen vorher bereits den Bus aus Thessaloniki verlassen, der zehn Euro pro Person kostet, und dann durch die hügelige Landschaft laufen. Im Schlamm, wenn es regnet, in glühender Hitze, wenn die Sonne scheint. Sie folgen den Bahngleisen, auf denen nur Güterzüge die Grenze passieren dürfen. Und stürmen die kleine Bahnstation von Gevgelija, in der Hoffnung auf einen Platz im Zug Richtung Norden, weiter bis zur nächsten Grenze nach Serbien, wo sich das Ganze so oder so ähnlich wiederholt.

Die eingleisige Bahnstrecke ist das Nadelöhr, durch das sich jetzt praktisch sämtliche Migranten aus der Türkei und Griechenland hindurchquälen. Die wenigen Mitarbeiter der UN-Flüchtlingshilfe werden regelrecht überrollt von der Flüchtlingswelle. Aber das sei kein Grund zur Panik, meint Nicola in seinem blitzsauberen weißen T-Shirt mit der blauen Aufschrift UNHCR:

"Eigentlich haben wir gar keine Probleme hier. Nur die Flüchtlinge haben Probleme, sie sind hungrig, durstig. Sie sind müde. Und sie sind ungeduldig. In einigen wenigen Fällen musste die Polizei gewaltsam eingreifen, um Ordnung in diese Menschenmasse zu bringen. Aber dafür ist die Polizei hier nicht korrupt."

 

Migranten nahe der mazedonischen Stadt Gevgelija an der Grenze zu Griechenland. (Picture Alliance / dpa / ROBERT ATANASOVSKI)

Migranten in der Nacht zu Donnerstag nahe der mazedonischen Stadt Gevgelija
 an der Grenze zu Griechenland. (Picture Alliance / dpa / ROBERT ATANASOVSKI)

Am Bahnhof von Gevgelija stehen hunderte von Menschen an einem Fahrkartenschalter an, wo sie für einen lächerlich niedrigen Fahrpreis Karten kaufen. Es ist eine unendliche Mühe, der Fahrkartenschalter öffnet erst eine halbe Stunde vor Abfahrt der Züge Richtung Norden und ist ausgelegt auf 50 Fahrgäste täglich. Jetzt kommen rund 2000 am Tag.

Ähnlich überlastet sind die Züge. Die uralten abgenutzten Waggons tragen außen die Sitzplatznummern 1–120, jeder Zug besteht aus nur zwei Waggons. Damit lassen sich im besten Fall 300 Menschen transportieren. Seit dem Ansturm der Fremden haben sich die Bahnhofspolizisten hinter Zäunen verbarrikadiert. Von dort verteilen sie Papiere mit Stempeln, die zur Weiterfahrt berechtigen, so, als ob diese Weiterfahrt irgendwie zu verhindern wäre und damit auch legitimiert werden könnte.

Für die Flüchtlinge sind nicht die Stempel das Problem, sondern überhaupt in einen der Züge hineinzukommen. Gevgelija ist wie ein Trichter, durch den sich der gesamte Strom der Flüchtlinge aus dem Orient quälen muss. Wollte man verhindern, was hier an Unmenschlichkeiten passiert, dann müsste man einige Hundert Kilometer weiter südöstlich nach Lösungen suchen.
 

Izmir hat riesiges Potenzial für Schlepper
 

Izmir, die drittgrößte Stadt der Türkei mit mehr als vier Millionen Einwohnern. In Izmir gibt es derzeit ein riesiges Potenzial an Kundschaft für die Schlepper, das bestätigt auch Ahmet Gunay von der türkischen Flüchtlingshilfe.

"Offiziell halten sich 65.000 Syrer in Izmir auf, aber dazu kommen geschätzt noch weitere 400.000 Migranten, die nicht registriert sind, vorwiegend aus Syrien, die alle versuchen aus der Türkei wegzukommen."

Bei vielen Syrern in der Türkei sind die Hoffnungen auf ein baldiges Ende des Krieges in ihrer Heimat ebenso geschwunden wie ihre Ersparnisse. Als arme Schlucker sind sie längst keine willkommenen Gäste mehr. Das Altstadtviertel Basmane ist zum bevorzugten Zwischenstopp syrischer Migranten geworden. Hier finden sie billige Herbergen und Schlepper, die sie zur Küste bringen und von dort aus weiter mit Schlauchbooten zu den wenige Kilometer entfernten griechischen Inseln.

 

Die Hände syrischer Flüchtlinge greifen an einen Maschendrahtzaun (Bulent Kilic / AFP)

Syrische Flüchtlinge in einem Flüchtlingscamp der Türkei (Bulent Kilic / AFP)

Die Journalistin Banu Sen arbeitet für die türkische Tageszeitung "Hurryiet" und berichtet seit Jahren von dem stetig wachsenden Durchlauf von Flüchtlingen Richtung Europa:

"Zu Anfang ging es hier zu wie in einem schlechten Film. Die Schlepper brachten die Leute an irgendeinen Strand und behaupteten, sie befänden sich nun Griechenland. Das hat dazu geführt, dass die Syrer den Schleppern, die meistens Türken waren, nicht mehr getraut haben. Inzwischen arbeiten in den Schlepperorganisationen viele Syrer, die das Geld einsammeln - weil Syrer einander vertrauen."

Ebenso wie die Geschäftsbedingungen haben sich auch die Transportarten verfeinert, schildert Banu Sen:

"Vor einiger Zeit passierte Folgendes: Sie steckten 66 Menschen in eine Motorjacht und sperrten sie unter Deck, damit sie nicht auffielen. Doch kaum war die Jacht losgefahren, da rammte sie einen Felsen und sank. Alle Passagiere starben. Es war das schlimmste Unglück hier in der Gegend. Seither fahren sie die Flüchtlinge nicht mehr mit Motorjachten. Wenn die nämlich von der Polizei oder der Küstenwacht erwischt werden, dann wandern die Bootsführer hinter Gitter. Die Schlepper übergeben den Flüchtlingen jetzt die Schlauchboote. Und es gibt gar keinen Bootsführer mehr. Die Schlepper liefern die Boote, lassen die Flüchtlinge einsteigen, werfen den Motor an und bedeuten ihnen die Richtung, in die sie fahren müssen. Und wenn die Küstenwacht oder die Polizei die Boote abfangen, dann finden sie darauf keinen Schlepper mehr."
 

Schlepper minimieren ihr Risiko
 

Während die Schlepper ihr eigenes Risiko also so weit wie möglich reduzieren, wächst der Druck auf die Flüchtlinge. Seit zwei Monaten ist in der Türkei ein Gesetz in Kraft, das die nicht genehmigte Ausreise – etwa die heimliche Überfahrt Richtung Griechenland - zu einer Straftat macht. Wer erwischt wird, riskiert also ein Gerichtsverfahren und Geld- oder Haftstrafen. Doch anders als es scheint, verhindert dieses Gesetz den Exodus der Flüchtlinge aus der Türkei nicht. Im Gegenteil: Es befeuert ihn nur noch mehr. Die Flüchtlinge versuchen jetzt umso verzweifelter, die Türkei so schnell wie möglich zu verlassen.

Aber das ist nicht der einzige Grund für die massenhafte Migration in Richtung Europa, die sich in den überfüllten Aufnahmelagern auf griechischen Inseln, an der Grenze zu Mazedonien, in Serbien, Ungarn und schließlich bis nach Deutschland fortsetzt. Vor allem die Syrer werden in der Türkei immer unbeliebter. Mehmet Akin ist Stadtviertelbeauftragter in Altinordu, einem bevorzugten Ziel syrischer Migranten.

"Am Anfang hat man sie noch gerne aufgenommen, aber es kommen immer mehr zwielichtige Gestalten, auch Diebe. Und die einheimische Bevölkerung im Viertel mag die Syrer nicht mehr."
 

Ausbeutung der Flüchtlinge
 

Mit dem massenhaften Andrang der Flüchtlinge blühen auch die Vorurteile. Zumal die Einheimischen besorgt sind um ihre Arbeitsplätze.

"Die Syrer haben angefangen, im Textilgewerbe zu arbeiten, oder auch als Schuhmacher. Und weil sie für viel weniger Geld arbeiten, feuern die Geschäftsleute ihr türkisches Personal."

Und so werden sogar Kinder und Jugendliche wie Sklaven ausgebeutet. Imen ist 15. Sie und ihr Bruder arbeiten als Tellerwäscher:

"Ich muss morgens um 7 Uhr anfangen und arbeite bis halb neun abends für siebeneinhalb Lira. Wir müssen arbeiten, weil unser Vater krank ist."

Mit diesem 13-Stunden-Job in einer Teestube verdienten sie und ihr Bruder zusammen fünf Euro – am Tag. Seit Imen mit ihrer Familie vor drei Jahren in die Türkei kam.

"In Syrien bin ich in die Schule gegangen, aber seither nicht mehr. Türkisch kann ich zwar sprechen, aber weder schreiben noch lesen."

Um eine Chance auf Bildung und gerechte Arbeit zu bekommen, müsste Imen mit ihrer Familie die Türkei verlassen, bevor es zu spät ist. Auch deshalb hat der Flüchtlingsstrom Richtung Griechenland stark zugenommen. Das bestätigt Ahmet Gunay von der Flüchtlingshilfe:

"Die Syrer leben in wachsender Unsicherheit, haben immer weniger Geld. Und daher herrscht immer größere Nachfrage nach den Schleppern. Die bringen derzeit locker tausend Menschen täglich auf die griechischen Inseln, das ist nicht gerade wenig."

Bis zum Winter würden wohl 20.000 bis 30.000 Menschen die Türkei verlassen, schätzt Guney. In der Türkei gibt es keinerlei politischen Willen, diesen Exodus zu bremsen. Ankara will eine Pufferzone im Grenzgebiet zu Syrien einrichten und dort die inzwischen unbeliebten syrischen Flüchtlinge konzentrieren. Mit der Aussicht auf einen jahrelangen Aufenthalt in Flüchtlingslagern, ohne jede Hoffnung, jemals wieder in die Heimat zurückkehren zu können, fliehen Hunderttausende lieber in die entgegengesetzte Richtung. Hinzu kommen zahlreiche Menschen, die bereits seit geraumer Zeit in anderen Ländern Zuflucht gefunden haben und auch dort nicht länger geduldet werden.
 

Eine ungeheuerliche Odyssee
 

Shady Abdulrahman ist 32 Jahre alt. Er liegt in einem französischen Krankenhaus und muss gefüttert werden - doch dazu später. Er berichtet von einer ungeheuerlichen Odyssee, die er mit Fotos und Handyvideos glaubhaft dokumentieren kann. In Syrien hatte er Jura studiert, dann floh er mit einem Teil seiner Familie in den Libanon, wo die Familie immer mehr verarmte. Mit seinem letzten Geld machte er sich auf den Weg nach Europa. In der südtürkischen Hafenstadt Mersin wartete er fünf Monate auf eine Schiffspassage nach Italien. Zwölfmal wurde er zu einem wartenden Schiff gebracht, das dann doch nicht abfuhr. Als er endlich auf dem Wasser war, brachte die türkische Polizei das Schiff auf und verhaftete ihn samt 400 weiteren Passagieren. Die Schlepper verschwanden mit dem Geld der Flüchtlinge.

"Dann ging ich nach Izmir und fuhr mit einem kleinen Boot auf die griechische Insel Kios. Zwei Tage verbrachte ich dort in einem Lager, aber es war schrecklich, ich schlief auf dem Fußboden und es war sehr schmutzig. Ein großes Problem."
 

Schlepper kassieren für die Flucht
 

Bis dahin hatte die Reise Shady bereits einen Großteil seiner Ersparnisse gekostet. 340 Dollar für den Flug von Beirut nach Adana, 3.500 Euro für die von der türkischen Küstenwacht vereitelte Schiffspassage, 1.200 Euro für die endlich geglückte Bootsfahrt nach Kios. Und es war noch lange nicht das Ende seiner Irrfahrt.

"Ich nahm eine Fähre nach Athen. Mit der Eisenbahn ging es weiter nach Thessaloniki und von dort mit einem Bus zur Grenze nach Mazedonien. Einmal, ein zweites Mal versuchte ich, über die Grenze zu kommen, aber die Polizei fing mich und trieb mich nach Griechenland zurück. Am Ende ist es mir gelungen, in einer großen Gruppe, die Grenzer zu überrollen. Und dann liefen wir quer durchs Land, sieben, acht Tage lang."

Diese Etappe war Shadys Erzählung zufolge billig, kaum 150 Euro für die Fähre, den Zug und den Bus. Er habe sich von Billigkonserven ernährt und die Nächte in Zelten oder Scheunen verbracht, bis er schließlich die serbische Grenze erreichte:

"Mit einem Taxi fuhr ich von der Grenze zur nächsten Busstation. Von dort ging es nach Belgrad, sieben Stunden lang. Ich habe mich drei, vier Tage ausgeruht in einem billigen Hotel. Dann fuhr ich mit einem Bus zur ungarischen Grenze. Und die überquerte ich dann in der Nacht, acht Stunden lief ich am Stück. Als ich endlich in einem Dorf ankam, nahm ich ein Taxi und ließ mich bis Budapest fahren."
 

Ein Flüchtling klettert auf das Gelände des Eurotunnels in Calais. (dpa / picture-alliance / Zoltan Balogh)
Ein Flüchtling klettert auf das Gelände des Eurotunnels in Calais.
 (dpa / picture-alliance / Zoltan Balogh)
 

Wieder ein paar hundert Euro, für Taxis, Hotels, für Essen und Trinken. Und eine letzte Hürde, von der er berichtet: Die Polizei nahm ihn fest, er musste seine Fingerabdrücke abliefern und bekam einen Ausreisebescheid, denn in Ungarn wollte Shady auf keinen Fall bleiben. Von nun an fürchtete er, man könnte auf seiner Weiterreise in der EU auf seinen Aufenthalt in Ungarn stoßen und ihn hierher zurückschicken, wie es die Dublin-Vereinbarungen vorsehen.

Ungarn gilt bei allen Flüchtlingen als eine Art Ort des Schreckens, weshalb die Menschenschmuggler hier gute Geschäfte machen können: Sie kommen mit Mietautos aus Deutschland und fahren die Flüchtlinge über die Grenze nach Wien oder nach Skandinavien, Fahrpreis zwischen 500 und 1000 Euro. Shady ließ sich nach Frankfurt bringen. Von dort fuhr er mit dem Zug nach Paris und schließlich nach Calais. Er wähnte sich praktisch am Ziel nach seiner siebenmonatigen Flucht quer durch Europa.

"Als ich hier in Calais ankam, sah ich zuerst die vielen hängengebliebenen Flüchtlinge, die in schlimmsten Verhältnissen lebten, ihr miserables Essen. Und ich hoffte, ich würde ganz schnell weiterkommen nach England, denn hier ist kein Ort, um zu bleiben."

Doch dann sei er auf einen Betrüger hereingefallen, Shadys Bericht zufolge steckte der ihn in einen Laster und versprach, er werde gleich mit der Fähre nach England übersetzen. Doch der LKW war gerade aus England gekommen und fuhr in Richtung Belgien. Er habe geschrien, bis der LKW-Fahrer ihn befreite, dann sei er die 30 Kilometer zurück nach Calais gelaufen, über den Zaun am Hafen geklettert, auf das Dach der Kontrollstellen. Er sprang in die Tiefe. Neun Meter, auf den blanken Asphalt.

"Bei dem Sprung habe ich mir beide Arme gebrochen, den Kopf und die Nase verletzt. Ich hatte wahnsinnige Schmerzen, ich schrie: Hilfe, Hilfe, Hilfe!"

Kurz vor dem Ziel, praktisch vor der geöffneten Ladeluke der Englandfähre, musste Shady aufgeben. Seit dem 15. Juni wird er in einem hochmodernen Krankenhaus in Calais in einem Einzelzimmer behandelt. Er kann seine Arme nicht bewegen, ist hilflos, muss gefüttert werden. Um seine komplizierten Brüche zu heilen, wurden ihm Metallplatten eingesetzt. Er bekommt regelmäßig Physiotherapie, damit er seine Finger eines Tages vielleicht wieder halbwegs bewegen kann.

Frankreichs Gesundheitssystem gibt für Shady und viele andere Flüchtlinge hunderttausende Euro aus. Für Flüchtlinge, die sich nur deshalb verletzen, weil sie immer höhere Hürden überwinden müssen. Hürden, die gebaut werden, um den Menschenfluss zu stoppen. So wie an der ungarischen Grenze, wo bald ein 175 Kilometer langer Zaun fertiggestellt wird und den Flüchtlingsstrom aufhalten soll. Doch auch der dürfte nur die Kosten der Flucht in die Höhe treiben. Die Flüchtlinge werden neue Schlepper bezahlen oder nach alternativen Routen suchen, über Albanien, Kosovo, Kroatien. Es werden neue Leidenswege sein.

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