Kinder – im Netz gefangen und gebannt!

 

Von den

Lebensbedürfnissen des Kindes

und dem Kapitalinteresse

elektronischer Massenmedien

 


© by Vontobel, Feldmeilen/Zürich


Die Welt?
Ein Kind beim Spiel,
Die Brettsteine setzend,
Kindes Königsherrschaft.

Heraklit,  um 500 v.Chr.

 

Der Bremer Bildungssenator Horst-Werner Franke (in einem Interview der Bremer Senatsinformationen vom 8.6.89):

 
"Natürlich ist es wichtig, den Umgang mit dem Fernsehen, das nun mal zu unserem Leben gehört, zu lernen,
 

aber nicht vor dem 7. Lebensjahr!"

 

 Jede Stunde, in der ein Kind nicht fernsieht, sondern mit anderen Kindern draußen im Hof spielt, ist eine geschenkte Stunde für das Kind!“

   Das sagte der für Kinder- und Familiensendungen zuständige renommierte Hauptabteilungsleiter eines großen öffentlich-rechtlichen Senders in der Mitte der achtziger Jahre vor einer Gruppe von medienpolitisch engagierten Bürgern. Als dann wenig später – nach jahrelangen erbitterten  Diskussionen -  das Quotenfernsehen in Westdeutschland per Rundfunkgesetzgebung „salonfähig“ gemacht wurde, wechselte dieser Mann in eine andere Abteilung seines Senders. Denn er war nicht bereit, das mitzumachen, was von nun an den Kindern – von der Medienpolitik forciert und vorangetrieben – mehr und mehr zugemutet werden sollte - auch in sogenannten „Kinderserien“ des öffentlich-rechtlichen Fernsehens.

   Von Silvio Berlusconi, der in Italien sein Billig-Quotenfernsehen mit allen Mitteln durchsetzte, weiß man, daß er seine Kinder auf eine Waldorfschule schickte (für die Kinder-Fernsehen bekanntlich Tabu ist), um seine eigenen Kinder vor den Einflüssen dessen zu schützen, was er allen übrigen Kindern in seinem Land als bestends verträgliche „geistige Kost“ täglich in Massen verabreichte. Zugleich ließen und lassen er und andere „Medien-Tycoone“ weltweit ein Heer sogenannter „Medienexperten“ für sich arbeiten, die „im Namen der Wissenschaft“ die Eltern in gut platzierten Zeitschriften-Artikeln laufend vor einer "Verteufelung" des Kinder-Fernsehens warnen. Denn Kinder-TV fördere - so die Botschaft - die „intellektuelle Entwicklung" des Kindes; wer also seine Kinder vom Fernsehen abhalte, sei hoffnungslos rückständig und mache sich schuldig an ihnen, weil er ihre Zukunftschancen verringere.

   Inzwischen hat sich bekanntlich das elektronische "Kommunikations-Angebot" für Kinder und Heranwachsende noch einmal immens vergrößert, und wieder sind sie es - die Jüngsten unter uns -, die in den stürmischen Phasen ihrer Entwicklung und auf ihrem schwierigen Weg zu einem reifen Erwachsenendasein durch derlei "Angebote" am leichtesten zu erreichen und auszubeuten sind.

   Dies aber ist heute - in einer extrem kritischen Phase unserer Weltgeschichte - längst weit mehr als "nur" eine Privatangelegenheit der involvierten Eltern! Sondern gefragt sind heute vor allem auch verantwortungsbewußte Politikerinnen und Politiker, die es wagen, gegen den Strom zu schwimmen: die mutig genug sind, das hier zur Sprache gebrachte, mehr und mehr gravierende Menschheitsproblem endlich beim Namen zu nennen, und die sich durch Wort und Tat für seine Überwindung einsetzen!

   Das Kapitalinteresse - als unstillbares Bedürfnis nach Anhäufung maximaler Gewinne - hält den gigantischen Markt elektronischer Massenmedien in rastloser Bewegung. In deren Strategiekonzept fungieren Kinder als besonders wichtige "Zielgruppe". Schon 1989 kritisierte der oben schon zitierte Bremer Bildungssenator Horst-Werner Franke (in den erwähnten Bremer Senatsinformationen vom 8.6.89), es gebe eine

 "mächtige Fernsehlobby in Verbindung mit Wirtschaft und Werbung, die eine frühe Heranführung der Kinder an das Fernsehen vorsieht und verteidigt".1

   Die Eltern in unserer Gesellschaft wurden jedoch bis zum heutigen Tag nicht darüber aufgeklärt, daß die rigorose Anpassung ihrer Kinder an das Medium Fernsehen längst einem eisern vorgegebenen Generalplan folgt. Diese Informations-Unterdrückung großen Stils ist umso bemerkenswerter, als ja gerade die hier in Frage stehenden Groß-Lobbyisten im übrigen nicht müde werden, die Segnungen der "Welt-Informations-Gesellschaft" begeistert zu feiern.

   Kein Weg führt allerdings an den Eltern vorbei, wenn man ungehindert an ihre Kinder herankommen will. Wer also die "Heranführung" der Kinder ans Fernsehen vorsieht und verteidigt, muß vor allem dafür sorgen, daß die Eltern sich diesem Vorhaben nicht etwa störrisch in den Weg stellen. Besänftigendes "Expertenwissen" - publikumswirksam "unter die Leute gebracht": Was wäre besser geeignet, elterliche Bedenken in bezug auf die Kinder-Verträglichkeit des Fernsehens nachhaltig zu zerstreuen? Und so attestieren denn  "Medienexperten" (mit einer wie auch immer gearteten Vorbildung und Berufsauffassung) dem Kinderfernsehen immer wieder Unbedenklichkeit, ja "Unverzichtbarkeit" in unserer modernen Informationsgesellschaft. Medienwissenschaftler der Universitäten Kansas und Massachusetts beispielsweise empfahlen, Kinder "zur Förderung ihres Intellekts" schon vom zehnten Lebensmonat an mit dem Fernsehen zu konfrontieren (laut SPIEGEL-Bericht vom 5.12.1988).2

 


Berthe Morisot


Baby-Fernsehen?

Noli me tangere ...
Rührt meine
S
eele nicht an ...!
 

   Unter dem Titel "Baby-Fernsehen in Japan" kritisierte die Zeitschrift Psychologie Heute in ihrer Ausgabe vom April 1983:

"Die Tatsache, daß in Japan nahezu alle Dreijährigen (98 Prozent) durchschnittlich dreieinhalb Stunden - und sogar eineinhalbjährige Kinder schon zwei Stunden vor dem Bildschirm sitzen, mag deutschen Eltern wie eine Schreckensvision erscheinen. Nicht so bei japanischen Medienpädagogen und Erziehern: Diese betrachten das kindliche Fernsehverhalten als sinnvolle Verbindung zwischen Erziehung und schulischem wie außerschulischem Leben.

So ist denn auch die Nutzung von Fernsehprogrammen für Kinderkrippen (86 Prozent), Kindergärten (83 Prozent) und Grundschulen (95 Prozent) im japanischen Erziehungsalltag ganz selbstverständlich. Die zahlreichen kommerziellen Fernsehanstalten Japans (82 allein im Großraum Tokio) wissen sich darauf einzustellen. Durchschnittlich strahlen sie 82 Stunden in der Woche Kinderprogramme aus, von denen fast ein Viertel (18 Stunden) aus Werbung besteht.

Um die Effektivität, das heißt den Nutzungsgrad der Fernsehsendungen auch für eineinhalb- bis zweijährige Kleinkinder zu erhöhen, hat ein öffentlich-rechtlicher Sender in Tokio gemeinsam mit einem technologischen Forschungsinstitut ein spezielles Fernsehprogramm für diese Konsumentengruppe entwickelt. Durch direkte Messung und durch Befragung der Eltern werden dabei physische und psychische Reaktionen auf verschiedene auditive und visuelle Darstellungsmuster und -mittel erforscht. Der Grund, warum man sich so eifrig um die Krabbelkinder bemüht: Sie nutzen das vormittägliche Fernsehprogramm zuhause, während die Dreijährigen bereits im Kindergarten Fernsehen konsumieren. (3)

Solche Medienforschung, die letztlich den kommerziellen Fernsehanstalten zu Diensten ist, propagiert denn auch Ergebnisse wie dieses: 'Grundschulkinder, die die Wetternachrichten und die Wetterkarte sehen, haben ein signifikant höheres Wissen über Klimaverhältnisse als Kinder, die die Wetterkarte nicht sehen.'"



Anthonis van Dyck

 

   "Gutachten", die die angebliche Nützlichkeit des Fernsehens für Kinder - und selbst für die kleinsten unter ihnen - zu beweisen vorgeben (4), werden bedenkenlos verbreitet, obwohl seit langem bekannt ist, daß Kinder bis zur Vollendung ihres zweiten Lebensjahres die Welt in einer Weise erfahren, die sich radikal von unserer eigenen Realitätserfahrung unterscheidet.

   Dies betrifft vor allem die Art ihrer Beziehung zu Objekten (Personen und Dingen): Nur in winzigen Schritten lernt ja das Kind allmählich, daß es ein Selbst - ein Ich - ein von der Welt um es herum klar unterschiedenes Subjekt ist. (Siehe hierzu u.a. die Untersuchungen von Jean Piaget, René Spitz, D.W. Winnicott und Bruno Bettelheim.)5)
 

Beseelte Welt:
Vom animistischen Denken des Kindes

W
ie Jean Piaget in seiner bahnbrechenden, 1926 erschienenen Arbeit "Das Weltbild des Kindes" darlegt, bleibt das Denken des Kindes bis zum Beginn der Pubertät überwiegend animistisch, d.h. in den Augen des Kindes ist die Natur, und sind selbst leblose Gegenstände (wie z.B. Spieltiere und Puppen) beseelt.6) Bettelheim bemerkt dazu in seinem Buch "Kinder brauchen Märchen":7)

 


© Forum Bürgerfernsehen
 
© Forum Bürgerfernsehen


"(Erwachsene) ... sagen dem Kind, daß die Dinge nicht fühlen und handeln können; und wenn das Kind auch vorgibt, dies zu glauben, um den Erwachsenen zu gefallen oder um nicht lächerlich gemacht zu werden, hegt es doch tief im Herzen eine andere Überzeugung. Unter dem Einfluß der rationalen Lehren anderer vergräbt das Kind sein "wahres Wissen" nur umso tiefer in sich; (dieses Wissen) ... kann aber von dem, was die Märchen zu sagen haben, geformt und erweitert werden."

   Der "archaischen" Denkart des Kindes (Hedwig v. Beit)8) kommt das Volksmärchen, als einzigartige Kunstform, besonders entgegen - wenn es dem Kind erzählt oder vorgelesen wird. Das hier folgende Beispiel (in dem Bettelheim einen Bericht von Bettina v. Arnim zitiert) beschreibt besonders anschaulich die Wechselseitigkeit der Beziehung zwischen Kind und Erzähler und die produktiven Prozesse, die beim Erzählen und Zuhören in beiden ausgelöst werden können:
 

 

Adolph v. Menzel

 

"Im Alter erzählte Goethes Mutter, wie sie ihrem Sohn Luft, Feuer, Wasser und Erde als wunderschöne Prinzessinnen dargestellt habe, und wie dadurch die ganze Natur reicher an Bedeutungen wurde ... Der kleine Junge verschlang sie fast mit den Augen, und wenn es einer seiner Lieblingsgestalten nicht so erging, wie er sich das vorstellte, konnte sie es seinem ärgerlichen Gesicht ansehen, oder sie merkte, wieviel Mühe er hatte, seine Tränen zurückzuhalten. Manchmal schaltete er sich auch in den Gang der Handlung ein und bestand darauf, daß der 'elende Schneider' die Prinzessin nicht heiraten werde, selbst wenn er den Riesen erschlagen sollte. Die Mutter unterbrach dann ihre Erzählung bis zum nächsten Abend. Oft wurde so ihre Einbildungskraft durch die ihres Kindes ersetzt, und wenn sie am nächsten Abend die Schicksale so ordnete, wie er es vorgeschlagen hatte, und fortfuhr, daß er es erraten habe, war er entzückt, und es klopfte ihm das Herz bis zum Halse."9)

 


© Forum Bürgerfernsehen

   In diesem Buch, das in der Präzision der Analyse und der Kunst der Darstellung seinesgleichen sucht und auch in Bettelheims eigenem Lebenswerk einen Höhepunkt seiner Forschungsarbeit und seines literarischen Schaffens darstellt, beschäftigt sich Bettelheim auch mit der Frage der Buch-Illustration von Volksmärchen. Solche "erläuternden" Bebilderungen mögen zwar, wie er schreibt, Erwachsenen großes ästhetisches Vergnügen bereiten und rufen vielleicht nostalgische Erinnerungen an die eigene Kindheit in ihnen hervor. Aber so ansprechend und reizvoll (für sich genommen) die "Veranschaulichung" der bildmächtigen alten Märchen sein kann: sie drängt doch naturgemäß der selbstschaffenden Phantasie des Kindes die Vorstellungen des Künstlers auf und schränkt insofern die entwicklungsnotwendige freie Imagination des Kindes bereits ein.(10)

   Um wieviel mehr muß dies dann für die rastlos wechselnden "bewegten Bilder" im Fernsehen gelten - ganz unabhängig von dem, was sie darstellen! Sie setzen ja nicht nur des Kindes eigene schöpferische Phantasie zeitweilig außer Kraft, sondern der Ablaufzwang der Bilder nötigt das Kind obendrein zur gleichsam atemlosen, punktuellen Konzentration auf eben diese rasch aufeinaderfolgenden Bilder bzw. Bildsequenzen. Die Wirkung solcher hochdynamischen Bildabfolgen besteht deshalb vor allem darin, daß im Kind rasch wechselnde Gefühle ausgelöst werden, daß es - sozusagen - "von Emotion zu Emotion" gejagt wird.11) So bleibt dem Kind keine Zeit und keine Ruhe, "Abstand" zu nehmen und das ihm vorgeführte Geschehen innerlich zu verarbeiten. (Würde ihm die Geschichte "nur" erzählt oder vorgelesen werden, so könnte das Kind die Ereignisse, von denen da berichtet wird, vor seinem inneren Auge gemächlich vorbeiziehen lassen und den Zusammenhang und die Bedeutung der Geschichte in Ruhe mitdenkend erfassen.)

   Wenn Kinder viel allein sind, laufen sie Gefahr, sich in dem Netz wirklichkeitsfremder Bilderwelten immer tiefer zu verstricken. Um dieser Gefahr entrinnen zu können, brauchen sie den beständigen "Dialog mit der Welt" - vor allem im vertrauensvoll-geselligen Umgang mit ihren Eltern, im ausgiebigen Spiel mit anderen Kindern, in der praktischen Erkundung und Erprobung der realen Welt.12) Auf diesem Weg vollzieht sich im Laufe der Kindheit unmerklich die Metamorphose des kindlichen Denkens: die inneren Bilder des Kindes von einer beseelten Natur (die mit guten und auch bösen Absichten erfüllt ist) treten langsam in den Hintergrund, und es erkennt mit der Zeit, daß in dieser Welt, wenigstens was ihre sinnlich erfaßbare Seite angeht, verläßliche Naturgesetze walten.
 


© Forum Bürgerfernsehen


  
Man kann ermessen, was Fernsehen unter diesen Bedingungen für ein Kind in Wahrheit bedeutet (das dafür selbst keine Worte findet). Selbst wenn also bestimmte "Kinderserien" und "Familienprogramme" zur "besten", d.h. einschaltquoten-günstigsten Sendezeit vom Erwachsenenstandpunkt aus gut gemacht sein mögen: sie überlagern, irritieren und verletzen doch immer von neuem die Eigengesetzlichkeit und Eigendynamik der inneren Entwicklung des Kindes.

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Fußnoten:

1) Eltern, Oktober 1996

2) FOCUS, Titelbeitrag: Kinder müssen fernsehen. Die Wissenschaft bricht mit einem Tabu. Warum TV für die Entwicklung wichtig ist. März 2002
(Richtig hätte der Titel lauten müssen: Kinder müssen fernsehen. Warum Kinder-TV für die Entwicklung der (FOCUS)-TV-Einschaltquoten wichtig ist).
- Eltern, November 1993

In Eltern erschienen jedoch auch (wie in der oben schon genannten Oktober-Ausgabe 1996) Beiträge, die in Sachen Kinderfernsehen unzweideutig Stellung zugunsten des Kindes beziehen. Besondere Beachtung verdient dabei ein Interview mit dem im Text schon zitierten Bremer Kultursenator Horst-Werner Franke, das hier wegen seines Seltenheitswertes - in bezug auf die Offenheit, Informationsdichte und Konsequenz in der Argumentation - ungekürzt wiedergegeben wird:
Asgodom, Sabine: "Fernsehverbot für Kinder!" Interview mit Horst-Werner Franke in: Eltern, Juli 1996:

ELTERN: Sie haben ein Fernsehverbot für Kinder unter sechs Jahren gefordert. Was ist so schlimm am Fernsehen?

Franke: Wir sind durch Untersuchungen in Bremen darauf gekommen, daß Schüler immer weniger in der Lage sind, mit Texten umzugehen und sie zu erfassen. Das heißt, sie können "lesen", also Buchstaben erkennen, aber den Sinn des Gelesenen zu begreifen, fällt ihnen schwer. Die offensichtliche Textunlust wird dazu führen, daß diese Kinder im Laufe ihres Lebens zu Analphabeten werden. Die Amerikaner behaupten jetzt schon in Untersuchungen, daß 20 Prozent der erwachsenen Bevölkerung unfähig sind, Geschriebenes zu verstehen.

ELTERN: Und daran ist das Fernsehen schuld?

Franke: Ja. Kinder werden, schon bevor sie in die Schule kommen, vom Fernsehen geprägt. Viele dieser Kinder haben schon mehr Stunden ferngesehen, als sie jemals Deutschunterricht haben werden. Fernsehen erzeugt ohne Frage einen ungeheuren emotionalen Lustgewinn. Und Kinder sind so auf den Lustbringer Fernsehen fixiert, daß sie die intellektuelle Leistung, die Lesen bedeutet, nur noch als Belastung ansehen. Die Schulen haben keine Chance, die Lust am Lesen entgegenzusetzen. Deshalb gehören kleine Kinder überhaupt nicht vor den Fernseher!

ELTERN: Sehen Sie die Gefahr, die vom Fernsehen ausgeht, nur in der Leseunlust?

Franke: Exzessives Fernsehen bringt bei allen Menschen, auch bei Erwachsenen, aber vermehrt bei kleinen Kindern die Gesamtpersönlichkeit ins Taumeln. In Amerika gibt es inzwischen die ersten Entwöhnungskliniken für fernsehsüchtige Kleinkinder. Diese Kinder reagieren auf Fernsehentzug mit regelrechten Entzugserscheinungen, ähnlich wie ein Heroinabhängiger. Ich glaube natürlich nicht, daß alle deutschen Kinder schon süchtig sind, aber gerade Extreme zeigen die Gefahren auf.

ELTERN: Wie wollen Sie ein Fernsehverbot durchsetzen?

Franke: Also, mein Landtag in Bremen würde natürlich staunen, wenn ich dort einen entsprechenden Gesetzentwurf einbrächte. Aber ich hoffe, daß ich mit dem Vorstoß erreiche, daß sich in der Öffentlichkeit die Überzeugung durchsetzt: Eltern, die ihre kleinen Kinder vor den Fernseher setzen, machen etwas Falsches. Ich bekomme zur Zeit stapelweise Briefe von Eltern, die mir teilweise zustimmen und sagen: Klar, das Fernsehen darf kein elektronischer Babysitter sein, aber es gibt doch Sendungen, die gut für Kinder sind. Vielleicht sind manche nicht ganz so schlimm, aber selbst die "Sendung mit der Maus" oder die "Sesamstraße" ist nicht gut! Sehen Sie, kleine Kinder nehmen das, was sie auf dem Bildschirm sehen, als Wirklichkeit. Sie können nicht begreifen, daß es sich um einen Film handelt, um eine Trickzeichnung, eine erfundene Geschichte. Das feststehende Bild eines Bilderbuchs kann von einem Kind erwandert werden. Das Kind kann sich Zeit nehmen, zu einem Punkt zurückzukehren, Fragen zu stellen. Aber die rasend schnelle Bildabfolge des Fernsehens reißt es mit, die kann es nicht mehr verarbeiten.
 

ELTERN: Müssen nicht Kinder den Umgang mit dem Fernsehen lernen?

Franke: Natürlich ist es wichtig, den Umgang mit dem Fernsehen, das nun mal zu unserem Leben gehört, zu lernen, aber nicht vor dem 7. Lebensjahr!

ELTERN: Ist es nicht von Eltern zuviel verlangt, ihren Kindern das Fernsehen zu verweigern, wenn ein Vorschulprogramm weiter angeboten wird?

Franke: Am besten wäre es, wenn überhaupt keine Sendungen für Vorschulkinder mehr ausgestrahlt würden. Und noch mehr: Es wäre gut, wenn das Fernsehen den Eltern helfen würde, etwas zusammen mit ihren Kindern zu unternehmen, in einer Art Elternschule. Denn ich höre wirklich oft die Frage: Was sollen wir denn mit den Kindern machen, wenn die nicht mehr fernsehen dürfen?
Das Fernsehen ist dazu aufgerufen, sich selbst in Frage zu stellen.

ELTERN: Wenn ein Verbot unrealistisch ist, wie wollen Sie tatsächlich etwas bewirken?

Franke: Wir werden eine Kampagne in Bremen starten unter dem Motto: "Fernsehverbot für Kinder!" Dazu wird es im Herbst eine Expertenanhörung geben, bei der die wissenschaftliche, die politische und die Elternseite zu Wort kommen. Erstes, realistisches Ziel ist: Je weniger Fernsehen, umso besser.
Also, liebe Eltern, jede Stunde weniger Fernsehen ist eine gewonnene Schlacht für das Seelenheil eurer Kinder!
 

3) Winn, Marie: The Plug-In Drug, The Viking Press, New York 1977; deutsch: Die Droge im Wohnzimmer, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg, 16. - 18. Tausend März 1988 Unter der Überschrift "Eine gefährliche Bewußtseinsveränderung" (S. 27 ff.) schreibt die Autorin über das Fernsehen von Kindern im Vorschulalter:

 "'Ich halte das Fernsehen für eine ziemlich bemerkenswerte geistige Leistung', erklärte Dr. Edward Palmer, der wissenschaftliche Leiter von ‚Sesamstraße' ... Durch die Schilderungen, die Mütter von dem Verhalten ihrer kleinen Kinder geben, wird der Eindruck, daß das Fernsehen eine anregende, geistige Beschäftigung sei, jedoch keineswegs erhärtet ... Wenn Charles vom Kindergarten nach Hause kommt, macht er es sich mit seiner gesamten Ausrüstung – seiner Decke und seinem Daumen – vor dem Kasten bequem. Dann versinkt er in einen Trancezustand. Es ist fast unmöglich, seine Aufmerksamkeit zu erlangen. So sieht er stundenlang zu, wenn ich ihn lasse. Aber obwohl er nicht den Eindruck macht, wirklich ganz wach zu sein, scheint er auch nicht zu schlafen ... Ich weiß nicht, was es ist. Er scheint einfach mesmeriert zu sein.'

‚Mein Fünfjähriger ist völlig weggetreten, wenn er fernsieht. Er wird von den Vorgängen auf dem Bildschirm total gefangengenommen. Er ist vollkommen gefesselt, wenn er zuschaut, und nimmt nichts um sich herum wahr. Wenn ich ihn anspreche, während er fernsieht, hört er mich einfach nicht. Um zu ihm durchzudringen, muß ich das Gerät abschalten. Dann kommt er wieder zu sich.'

‚Wenn Tom fernsieht, geht er nicht ans Telefon, obwohl es gleich neben ihm laut läutet. Er hört es einfach nicht.' Immer wieder schildern Eltern, oft mit beträchtlicher Sorge, den tranceartigen Zustand, in den ihre Kinder beim Fernsehen geraten. Der Gesichtsausdruck des Kindes verändert sich. Der Kiefer ist entspannt und hängt leicht geöffnet herab; die Zunge berührt die Schneidezähne (soweit vorhanden). Die Augen machen einen glasigen, leeren Eindruck. In Anbetracht der unbegrenzten Vielfalt kindlicher Persönlichkeiten und Verhaltensmuster staunt man umso mehr, wie sehr sich der Bewußtseinszustand der Kinder während des Fernsehens zu gleichen scheint.

Dr. Brazleton, ein Pädriatiker, der über Kinder schreibt, beschreibt ein Experiment mit Neugeborenen, das für die Fernsehtrance relevant sein könnte: ‚Wir setzten eine Gruppe ruhig daliegender Säuglinge einem beunruhigenden visuellen Reiz aus – einer grellen Operationslampe, die in 60 cm Entfernung über ihren Köpfen angebracht war. Die Lampe wurde drei Sekunden lang eingeschaltet, dann eine Minute lang abgeschaltet. Dieser Vorgang wurde zwanzigmal wiederholt. Während des ganzen Tests wurden der Herzschlag, die Atmung und die Gehirnwellen der Babies gemessen. Beim ersten Anschalten des Lichts waren die Säuglinge sichtlich beunruhigt; die Heftigkeit ihrer Reaktion verringerte sich jedoch nach mehrmaliger Wiederholung des Lichtreizes sehr rasch. Nach dem zehntenmal waren keine Veränderungen des Verhaltens, des Herzschlags oder der Atmung feststellbar. Nach dem fünfzehnten Anschalten tauchten EEG-Schlafmuster auf, obwohl kein Zweifel bestand, daß ihre Augen noch Licht aufnahmen. Nach Ablauf dieses Reizgeschehens erwachten die Kinder schreiend und um sich schlagend aus ihrem ‚induzierten' Schlaf. Unser Experiment bewies, daß das Neugeborene nicht auf Gnade oder Ungnade seiner Umgebung ausgeliefert ist. Es verfügt über eine Art von Abschaltvorrichtung, durch die es ihm gelingt, mit beunruhigenden Reizen fertig zu werden.: Es kann sich abkapseln und in einen schlafähnlichen Zustand versinken. Aber wenn wir uns vorstellen, wieviel Energie das Kleinkind auf dieses Abschalten verwenden muß – Energie, die es für bessere Zwecke brauchen könnte -, dann verstehen wir, wie teuer es diese Fähigkeit bezahlen muß ...

Das Fernsehen schafft ähnlich wie das Scheinwerferlicht eine Umgebung, deren Reize das Kind bedrohen und überfluten; es kann sich ihrer nur erwehren, indem es sich über seinen Abschaltmechanismus passiver macht. Ich habe dies bei meinen eigenen Kindern ebenso beobachtet wie bei den Kindern anderer Leute. Solange sie vor dem plärrenden und flimmernden Kasten saßen und einen mit Schrecknissen verschiedenster Art gespickten Film ansahen, waren die Kinder mucksmäuschenstill ... sie waren ‚gebannt'.'' Vgl. auch:
Brazleton, T. Berry: How to Tame the TV-Monster, in: Redbook, Apil 1972

4) Rogge, Jan-Uwe: Kinder können fernsehen, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg, 1990. In ungetrübter Harmonie mit den Interessen der oben erwähnten mächtigen Fernseh-Lobby schreibt der Autor im Nachwort seines Buches (in Anspielung auf Neil Postmans Das Verschwinden der Kindheit): "Das Verschwinden der Kindheit droht doch wohl erst zuletzt von den Medien. Medienkritik, so sehr sie häufig auch im Namen der Kinder spricht, argumentiert ... zutiefst inhuman." (S. 150).

5) Piaget, Jean: La construction du réel chez l'enfant, Neuchatel u. Paris 1937, deutsch: Der aufbau der Wirklichkeit beim Kinde, Klett Verlag, Stuttgart 1974
Spitz, René A.: "Hospitalism", in: The Psychonalytic Study of the Child, International Universities Press, New York 1945, Band 1, S. 53 - 74; deutsch: "Hospitalismus", in: Bittner, Schmitt-Cords (Hrsg.): Erziehung in früher Kindheit, Piper, München 1971.
Spitz, René A.: "Anxiety in infancy: A study of its manifestations in the first year of life", in: Int. J. Psycho-Anal. 31, 1950, S. 162 - 165.

D. W. Winnicott
(1896 - 1971), englischer Psychoanalytiker, war Facharzt für Kinderpsychiatrie an einem englischen Kinderkrankenhausund kam unter dem Einfluß von Melanie Klein zur Psychoanalyse. Erzählt neben Anna Freud, Melanie Klein und den Vertretern der Pariser Schule, wie Serge Lebovici und René Diatkine, zu den bedeutendsten Kinderanalytikern des 20. Jahrhunderts.

Winnicott, D. W.
: "Primitive emotional development", in: Int. J. Psycho-Anal. 26, 1945,
Wiederdruck in: Winnicott, Collected Papers, Tavistock, London 1958.
Winnicott, D. W.: "Anxiety associated with insecurity", in: Winnicott, Collected Papers (s.o.)
Winnicott, D. W.: "The capacity to be alone", in: Int. Psycho-Anal. 39, 1958, S. 416 - 420, Wiederdruck in: Winnicott: The maturational processes and the facilitating environment, Hogart, London, International Universities Press, New York 1965; deutsch: Reifungsprozeß und fördernde Umwelt, Kindler, München 1974.

Über den Prozeß der Personalisierung des kleinen Kindes schreibt Winnicott in seinem Buch Familie und individuelle Entwicklung:
"Das Kleinkind von einem Jahr lebt fest in seinem Körper. Psyche und Soma haben sich vereinigt. Der Neurologe würde sagen, der Körpertonus sei befriedigend, und die Koordination des Kindes sei gut. Dieser Zustand, in dem Psyche und Soma eng miteinander verbunden sind, entwickelt sich aus den Anfangsphasen heraus, in denen die unreife Psyche (wenn sie auch auf dem Funktionieren des Körpers beruht) nicht eng an den Körper und an das Leben des Körpers gebunden ist. Wenn der Säugling ein vernünftiges Maß der Anpassung an seine Bedürfnisse erfährt, besteht die bestmögliche Aussicht auf ein frühes Entstehen einer festen Beziehung zwischen Psyche und Soma. Wo die Anpassung nicht funktioniert, besteht eine Tendenz der Psyche, eine Existenz zu entwickeln, die nur lose mit körperlicher  Erfahrung zusammenhängt ...
Selbst ein gesundes Kind ist im Alter von einem Jahr nur zu gewissen Zeiten fest im Körper verwurzelt. Die Psyche eines normalen Kleinkindes kann den Kontakt zum Körper verlieren, und es kann Phasen geben, in denen es dem Kind nicht leicht fällt, plötzlich in den Körper zurückzukehren, z.B. wenn es aus tiefem Schlaf erwacht. Mütter wissen das, und sie wecken ein Kind langsam auf, bevor sie es aufnehmen, um nicht das schreckliche Geschrei panischer Angst hervorzurufen, das durch eine Lageveränderung des Körpers ausgelöst werden kann, wenn die Psyche abwesend ist. Klinisch können mit dieser Abwesenheit Blässe, Schwitzen und Kälte des Kindes einhergehen: manchmal erbricht es sich auch. Bei einem solchen Zustand kann die Mutter glauben, das Kind sei dem Tode nah, aber bis der Arzt gekommen ist, ist die normale Gesundheit so vollständig wieder zurückgekehrt, daß der Arzt die Besorgnis der Mutter gar nicht verstehen kann. Natürlich weiß der Allgemeinpraktiker über dieses Syndrom mehr als der Facharzt." Aus:

Winnicott, D. W.
: The Family and Indivdual Development, Tavistock Publikations, London 1965, deutsch: Familie und individuelle Entwicklung, Kindler Verlag, München 1978, S. 13 f.
Bettelheim, Bruno: The Empty Fortress - Infantile Autism and the Birth of the Self, The Free Press, New York 1967; deutsch: Die Geburt des Selbst, Kindler, München 1977.

6) Piaget, Jean: La représentation du monde chez l'enfant, Presses Universitaires de France 1926; deutsch: Das Weltbild des Kindes, Klett-Cotta im Ullstein Taschenbuch, Frankfurt am Main - Wien - Berlin 1980.

7) Bettelheim, Bruno: The Uses of Enchantment, Alfred A. Knopf, Inc., New York 1975, 1976; deutsch: Kinder brauchen Märchen, dtv München 1995, 18. Aufl., S. 56

8) v. Beit, Hedwig: Das Märchen. Sein Ort in der geistigen Entwicklung, Francke Verlag Bern und München 1965.

9) Bettelheim, Bruno: Kinder brauchen Märchen, S. 176.
v. Arnim, Bettina
: Goethes Briefwechsel mit einem Kinde. Diederichs, Jena 1906.
Leistner, Maria: "Märchenstunden sind wie Träume", in: Eltern, November 1987.

10) "Das Fernsehen nimmt die Phantasie gefangen, es befreit sie nicht. Ein gutes Buch regt den Geist an und befreit ihn gleichzeitig." Aus:
Bettelheim, Bruno: Parents vs. Television, in:  Redbook, November 1963.

11) Der renommierte Medienwissenschaftler Bernward Wember untersuchte diesen Fernsehwirkungs-Mechanismus am Beispiel der Zuschauerwirkung von politischen Infomationsfilmen des ZDF. Wember stellte der Öffentlichkeit seine grundlegende Medienwirkungs-Analyse vor in dem Film "Wie informiert das Fernsehen?", der am 12. Dezember 1976 vom ZDF mit großer Publikumsresonanz ausgestrahlt wurde.
Wember, Bernward: Wie informiert das Fernsehen? Ein Indizienbeweis, Dritte, erweiterte Auflage, List Verlag, München 1983.
(Vergl. auch unter www.fernseh-gebuehrenzahler.de: "Bernward Wembers Analyse")

12) Bruno Bettelheim schreibt dazu: "Kinder, die man gelehrt hat oder die konditioniert wurden, den größten Teil des Tages passiv dem Kommunikationsstrom zu lauschen, der vom Bildschirm ausgeht, und sich der emotionalen Wirkung der sogenannten Fernsehpersönlichkeiten zu überlassen, sind oft unfähig, auf wirkliche Personen zu reagieren, weil diese weit weniger Gefühle freisetzen als gute Schauspieler. Was noch schlimmer ist, diese Kinder verlieren die Fähigkeit, von der Realität zu lernen, denn die eigenen Lebenserfahrungen sind viel komplizierter als die Ereignisse, die sie auf dem Bildschirm sehen." Aus:
Bettelheim,Bruno: The Informed Heart, The Free Press, New York 1960.

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Februar 2013