Kunst - den Menschen geschenkt

 

Produzenten und Anbieter niveauloser Unterhaltungsware in den Massenmedien kaprizieren sich gern auf die Behauptung, "die Leute" wollten nun einmal nur derlei Billigunterhaltung. Mit eben dieser zynischen Argumentation hat Silvio Berlusconi sein Medienimperium in Italien gegen jeden Widerstand Schritt für Schritt aufgebaut und es dabei auch politisch weit gebracht.

 

   Unter Berufung auf die "künstlerische Ausdrucksfreiheit" der Produzenten wird das trickreiche Manöver "Brot und Spiele für das unbedarfte Volk" in immer neuen Variationen gewinnbringend durchgespielt. Dekadente römische Gewaltherrscher erfanden es bekanntlich, um den Zorn der notleidenden Bevölkerung zu kanalisieren und damit ihren möglichen Widerstand schon im Keim zu ersticken. Im Zeitalter von Film und Fernsehen kann man notfalls dann auch noch das Brot als milde Zugabe weglassen – wie u.a. die durchschlagende Wirkung gekonnter Propaganda- und Durchhaltefilme in den letzten Hungerjahren des NS-Regimes beweist. Und auch unmittelbar nach dem Zusammenbruch eines großen politisch-wirtschaftlichen Systems – der UdSSR - erwies sich eine Fernsehserie als wirksames "Sedativum" breiter Bevölkerungsschichten, die quasi über Nacht fast jeder Daseinsfürsorge beraubt worden waren.

 

Die Gefühlsfallen nicht erkennen:
Identifikation mit synthetischen Figuren

   "Auch Reiche müssen weinen", eine aus dem Westen importierte Endlos-Seifenoper, wurde damals in den entlegensten Gegenden Sibiriens quasi über Nacht zur einzigen Attraktion für die Hungernden und Frierenden, die sich täglich in den Behausungen der wenigen trafen, die über ein Fernsehgerät verfügten. Die Menschen vergaßen ihr eigenes Elend, solange sie mit kindlicher Hingabe und Leidenschaft teilnahmen an "Freud und Leid" der durch und durch "gestylten" Luxuswesen auf dem Bildschirm, deren künstliche, glamoureuse Welt nichts, aber auch gar nichts gemein hatte mit ihren eigenen realen und so überaus schwierigen Lebensbedingungen.

   Denn so geschickt gehen ja die Inszenatoren der seriellen Fernsehdramen ans Werk, dass dem Zuschauer (der sich in seinen Helden "hineinlebt" – sich mit ihm unwillkürlich identifiziert) nicht einmal die drastische Einkommens-Diskrepanz zwischen seiner eigenen Existenz und der seines "Traumhelden" bewußt wird. Und nur dies – die immer neue totale Ausblendung der rauhen Wirklichkeit aus dem Blickfeld und Gefühlsleben der Zuschauenden – garantiert ja dann, dass diese ihr eisern vorgegebenes "Klassenziel" nie ganz aus den Augen verlieren: den Erwerb wenigstens des einen oder anderen Teils jener Zauberdinge, die scheinbar die Anziehung und das Liebesglück der Traumfeen und Märchenprinzen auf dem Bildschirm so unerhört steigern – mehr noch: sie bedingen. "Ganz nebenbei" werden so Abermillionen von Fernsehzuschauern immer neu dazu angehalten, in bezug auf ihre eigene Ausstattung stets nach der nächsthöheren "Profilebene" zu streben.

 

Entpolitisierung und Umerziehung

   Auf elegante Weise gelang also mit der erwähnten Unterhaltungs-Serie zweierlei: eine (zumindest vorübergehende und in kritischer Zeit als sehr wünschenswert angesehene) Entpolitisierung der Bevölkerung - und die erste Stufe ihrer radikalen Umerziehung zu totalen Konsumenten. Wir haben es also hier mit Formen "instrumentalisierter Kunst" zu tun – d.h. mit Massen-Unterhaltung, die vordergründig reine "Entlastungsfunktion" hat, in Wirklichkeit aber ausschließlich der "nachhaltigen" Unterwerfung von Individuen und Völkern unter fremde Interessen dient – ohne dass dies den Betroffenen bewußt wird.

   Der bedeutende italienische Kulturtheoretiker Antonio Gramsci (1891 – 1937) schrieb schon dem trivialen Fortsetzungsroman des 19. Jahrhunderts Eigenschaften und Wirkungen zu, die denen der trivialen TV-Unterhaltungsserien von heute vergleichbar sind – und dies, obwohl doch den Produzenten jener Literatur noch nichts von dem überwältigenden Suggestions-Repertoire des modernen Mediums Fernsehen zur Verfügung stand:

 

"Diese Literatur ist ein populäres ‚Rauschgift’"

 

   "Der kommerzielle Charakter (des Trivialromans) entsteht dadurch, dass das ‚interessante’ Element nicht ‚naiv’ und ‚spontan’, tief mit der künstlerischen Konzeption verschmolzen ist, sondern von außen mechanisch gesucht, industriell dosiert, als sicheres Element eines sofortigen ‚Erfolgs’.  ... Diese Literatur ist ein populäres ‚Rauschgift’, ein ‚Opium’. Von dieser Sicht aus könnte man eine Analyse des ‚Grafen von Monte Christo’ von Alexandre Dumas machen, der vielleicht der ‚drogenähnlichste’ populäre Roman ist: Welcher Mann aus dem Volk glaubt nicht, eine Ungerechtigkeit seitens der Mächtigen erlitten zu haben und träumt nicht von der ihnen aufzuerlegenden Strafe? ... Übrigens ist ... Sarkasmus hier nicht angebracht. Man muß daran denken, daß es sich (dabei) ...) um etwas zutiefst Gefühltes und Erlebtes handelt."

 

Dem Weg des Künstlers folgen:
Identifikation mit den lebendigen Menschen seiner schöpferischen Phantasie

 

   "Das Volk", schreibt Gramsci, "will ‚Literatur mit Inhalt’, aber wenn der volkstümliche Inhalt von großen Künstlern ausgedrückt wird, werden diese vorgezogen. Erinnert sei hier daran, was (ich) über die Liebe des Volks zu Shakespeare, für die griechischen Klassiker und in neuester Zeit für die großen russischen Romanautoren (Tolstoi, Dostojewski) geschrieben (habe)."

   Eine beispielhafte Fernsehserie, die Gramscis Theorie auch auf der Ebene des Fernsehfilms bestätigt, ist die Serie "Heimat" von Edgar Reitz. Sie verdankte ihren überwältigenden und anhaltenden Publikumserfolg ja ganz offenkundig den von Gramsci gefundenen ästhetischen Wirkungs-Prinzipien und eben nicht den kaltblütig errechneten Erfolgsrezepten, die üblicherweise bis heute bei der synthetischen Produktion quotenorientierter Fernsehware vorwiegend angewendet werden.

  

   Zu den großen Künstlern, von denen Gramsci sprach, gehört zweifellos auch ein Autor, der von der "New York Times" als "Balzac des 20. Jahrhunderts" gewürdigt wurde: der belgische Schriftsteller Georges Simenon (1903 – 1989). Autoren wie Walter Benjamin, William Faulkner, Federico Fellini, Dashiell Hammett und Patricia Highsmith gehören ebenso zu seinen leidenschaftlichen Lesern und glühenden Bewunderern wie Millionen "ganz normaler" Bürger in aller Welt – von der Sekretärin über die Verkäuferin und Hausfrau bis hin zum Bankangestellten, Elektromonteur und Taxifahrer. Alfred Andersch schrieb über Simenons Werke, sie seien "Modelle feinster psychologischer Schilderung, unheimlicher Seelenkenntnis und dichtester Zeichnung von Umwelt und Epoche, in einer Sprache ohne Sentimentalität, wenn auch großer Humanität, in einem hämmernden, schmucklosen, von knisternder Spannung erfüllten Stil, an dem er viele Jahre seines Lebens bis zur Vollendung gearbeitet hat".

  

   Simenon ist wahrscheinlich der meistgelesene Autor des zwanzigsten Jahrhunderts, und die Liebe seiner ungezählten Leser zu seinen Werken ist ein überwältigender Beweis dafür, dass Seichtigkeit und platte Happy-Ends keineswegs unerlässlich sind für den breiten Erfolg und die Volkstümlichkeit künstlerischer Produktion. Denn kaum einer von Simenons annähernd vierhundert Romanen (einschließlich seiner meisterhaften Maigret-Kriminalgeschichten) "geht gut aus", und doch: wer sich auf die intuitive Erzählweise Simenons erst einmal einlässt, wird mehr und mehr von der Schöpferkraft und Humanität eines Autors ergriffen werden, der an die Stelle von Bewertung und Moralisieren das geduldige Fragen setzte und die nie nachlassende Bemühung zu verstehen.

 

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Anmerkungen:

Der Beitrag wurde erstmals veröffentlicht in ÖkologiePolitik (1/2003)

Antonio Gramsci: Der in ärmlichen Verhältnissen auf Sardinien geborene Politiker und Philosoph Antonio Gramsci (1891 – 1937) war 1921 Mitbegründer der Kommunistischen Partei Italiens. 1926 ließ Mussolini ihn zu zwanzig Jahren Haft verurteilen. In seinen "Gefängnisheften" widmete sich Gramsci u.a. den Themen der intellektuellen Tradition, der zeitgenössischen Kultur und der Volkskultur in Italien. Nähere Informationen: www.argument.de

Literatur: Peter Jehle, Klaus Bochmann, Wolfgang Fritz Haug, Ruedi Graf (Hrsg.): Antonio Gramsci – Gefängnishefte Sabine Kebir (Hrsg. u. Übers.): Gramsci – Marxismus und Kultur, VSA-Verlag, Hamburg 1983

Georges Simenon: (Auswahl): Der Präsident, - Der Sohn Cardinaud, - Der Schnee war schmutzig, - Die Leute gegenüber, - 45 Grad im Schatten, - Tropenkoller, - Es gibt noch Haselnußsträucher, - Pietr Der Lette, - Maigret macht Ferien, - Der Mann, der den Zügen nachsah, - Zum roten Esel, - Das Fenster gegenüber, - Der fremde Vetter, - Der Bürgermeister von Furnes. Simenons Romane sind als deutschsprachige Taschenbücher bei Diogenes erschienen.

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