Love-Stories und Medienkapitalismus:

Wie hängen sie zusammen?

 

Die Gefühls-Falle

in der Fernseh-Kommerzunterhaltung:

 

Anstiftung zur Identifikation

 

© Keith Douglas de Lewis, © Fotofolio, Box 661 Canal Sta., NY, NY 10013

 
New York 1942. Eine junge Frau liest einen Liebesroman. Sie liest ihn nicht so, wie man z.B. eine Tageszeitung liest - neugierig und zugleich mit mehr oder weniger Distanz zu den Berichten und Kommentaren. Sondern sie liest ihn quasi selbst-vergessen, kriecht in die Geschichte förmlich hinein, nimmt so leidenschaftlich Anteil daran, als ob sie selbst eine der Hauptfiguren wäre ... Mit dieser hofft und bangt sie, als ob ihr eigenes Glück auf dem Spiel stünde ... Solange sie liest, steckt sie gleichsam in der Haut der Heldin, ist sie selbst die Heldin des Romans ...

Wie man sieht, ist sie ein spontaner, offener, weltzugewandter Mensch, aber im Moment (während die Geschichte offenbar auf einen Höhepunkt zutreibt) existiert die wirkliche Welt nicht für sie: weder merkt sie, daß der Toaströster neben ihr auf dem Küchentisch bedenklich zu qualmen anfängt, noch, daß der Photograph - nehmen wir an, er ist ihr Freund - eben die Kamera in Anschlag bringt, um den Moment festzuhalten in einem Bild, das unsere Augen öffnet für den geheimnisvollen Prozeß der Identifikation...

 
 

 ...  Breit dahinziehende Ströme und zu Tal rauschende Gebirgsbäche lassen sich in Dienst nehmen, wenn man mit Hilfe der Technik ihre Wassermassen staut und so ihre bisher ungebundene Kraft in zweck-gebundene Energie umwandelt. Entsprechend setzen kommerzielle TV-Sender die optimalen technischen und psychologischen Mittel des Fernsehens ein, um suggestiv die kommerziell nicht gebundene, quasi frei flutende psychische Energie des Zuschauers unbemerkt zu verwandeln in zweck-gerichtete Energie: also in das ungestüme Bedürfnis des Zuschauers, etwas Bestimmtes zu haben - und zwar möglichst rasch, am besten gleich auf der Stelle.

Die Verwandlung gelingt, wenn der Zuschauer sich in die Gefühls-Falle kommerzieller Fernseh-Unterhaltung erst einmal hineinmanövrieren läßt. Wenn er sich also - immer neu - hineinziehen läßt in die "unendliche Geschichte" von Liebe und Eifersucht, Hoffnung und Verrat, Rache, Leid und glücklicher Versöhnung in Action Filmen und in den stereotypen, aber effektvollen Endlos-Inszenierungen vom Typ "Seifenoper". Je weniger dabei der Zuschauer den Vorgang des Hineingezogenwerdens durchschaut, desto leichter wird es ihm passieren, daß er - oder sie - sich mit dem Helden des Action Films oder der Heldin der Love Story unbewußt identifiziert.

   Wer sich mit einem anderen identifiziert, der macht - vorübergehend oder langdauernd - dessen Leben und Anliegen zu seiner eigenen Sache: Ohne sich darüber im klaren zu sein, denkt er sich an die Stelle des andern, will er mit allen Fasern seines Wesens am Leben des andern teilhaben. Unmittelbar teilzuhaben am glanzvollen Dasein und (scheinbar) erhöhten Lebensgefühl seines Fernsehhelden ist für den Zuschauer nicht möglich, aber: einen symbolischen Teil davon zu haben, könnte ja vielleicht schon den unerträglichen Gegensatz zwischen Fernseh-"Traumwelt" und "grauer Wirklichkeit" mildern oder gar auf fabelhaft-magische Weise aufheben ...

Deshalb liegt hier - in der methodischen Anstiftung zur Identifikation - das Erfolgsgeheimnis gekonnter kommerzieller Serien-Unterhaltung. Diese Anstiftung soll und kann (ohne entsprechende Aufklärung) nicht durchschaut werden. Denn die von den Machern gewünschten und provozierten Identifikationsprozesse im Zuschauer spielen sich ja, wie gesagt, nicht auf der Ebene seines Bewußtseins ab. Sondern sie spielen sich ab im Ineinander und Gegeneinander von längst tief ins Unbewußte verbannten verzehrenden Wünschen und Ängsten aus frühen Kindertagen. Durch Suggestion gerufen, steigen sie gewaltsam empor aus der Tiefe der Vergangenheit und nehmen die vorgegebene Form des Geschehens auf dem Bildschirm an, und "wie im Traum" verwandelt sich dabei das angerührte Kinder-Ich in den "Traumhelden" des (Psycho-)Dramas ...

   Antonio Gramsci (1891 - 1937) - in einfachen Verhältnissen auf Sardinien geboren und aufgewachsen und Mitbegründer der Kommunistischen Partei Italiens - hat den Einfluß sogenannter Trivialliteratur im 19. Jahrhundert auf das "einfache" Volk immer neu betrachtet und glänzend analysiert. Er schrieb schon dem trivialen (d.h. dem aus klischeehaften Figuren und nach stereotypen Handlungsmustern konstruierten) Fortsetzungsroman des 19. Jahrhunderts Eigenschaften und Wirkungen zu, die denen der kommerziellen TV-Unterhaltungsserien von heute vergleichbar sind. Und dies, obwohl doch den Produzenten jener Literatur noch nichts von dem überwältigenden Suggestions-Repertoire des modernen Mediums Fernsehen zur Verfügung stand:

  "Der 'kommerzielle' Charakter (des Trivialromans) entsteht dadurch, daß das 'interessante' Element nicht 'naiv' und 'spontan', tief mit der künstlerischen Konzeption verschmolzen ist, sondern von außen mechanisch gesucht, industriell dosiert, als sicheres Element eines sofortigen 'Erfolgs' ... Diese Literatur ist ein populäres 'Rauschgift', ein 'Opium'.

Von dieser Sicht aus könnte man eine Analyse des 'Grafen von Monte Christo' von Alexandre Dumas machen, der vielleicht der 'drogenähnlichste' populäre Roman ist: Welcher Mann aus dem Volk glaubt nicht, eine Ungerechtigkeit seitens der Mächtigen erlitten zu haben und träumt nicht von der ihnen aufzuerlegenden 'Strafe'? ... Übrigens ist Sarkasmus hier nicht angebracht. Man muß daran denken, daß es sich (dabei) ... um etwas zutiefst Gefühltes und Erlebtes handelt ..." *)
 

 

   So geschickt gehen heute die Inszenatoren der seriellen Fernseh-Dramen ans Werk, daß dem Zuschauer (der sich in seinen Helden hineinlebt) nicht einmal die drastische Einkommens-Diskrepanz zwischen seiner eigenen Existenz und der seines "Traumhelden" bewußt wird: Ist doch das "Ambiente" dieser Heldinnen und Helden in aller Regel um eine "Klassen" luxuriöser als der Wohn- und Ausstattungs-Standard des Durchschnittsbürgers. Nur dies - die totale Ausblendung der rauhen Gegenwart-Wirklichkeit aus dem Blickfeld und Gefühlsleben der Zuschauenden - garantiert, daß diese ihr eisern vorgegebenes "Klassenziel" nie aus den Augen verlieren: den Erwerb wenigstens des einen oder anderen Teils jener Zauberdinge, die scheinbar "wie von selbst" die Anziehungskraft und das Liebesglück der Traumfeen und Märchenprinzen auf dem Bildschirm so unerhört steigern - mehr noch: sie bedingen. "Ganz nebenbei" werden so Abermillionen von Fernsehzuschauern immer neu dazu angehalten, in bezug auf ihre eigene Ausstattung stets nach der nächsthöheren "Profilebene" zu streben.

Erst wenn die dramatische Entwicklung auf dem Bildschirm auf einen  Höhepunkt zusteuert, d.h. auf einen Moment, in dem (aller Berechnung nach) die "nachhaltige" Identifizierung des "Durchschnittszuschauers" bzw. der "Durchschnittszuschauerin" mit dem Helden bzw. der Heldin des TV-Dramas sicher erreicht ist - erst dann sind sie "offen" - d.h. psychologisch präpariert - für die Kauf-Befehle der nun eingeblendeten Werbung.

Hans J. Kleinsteuber, Mitautor des "Internationalen Handbuchs für Hörfunk und Fernsehen"**  erläutert das darauf aufbauende nunmehr 50jährige Erfolgskonzept US-amerikanischer TV-Macher (das im Zuge der fortschreitenden Kommerzialisierung des (west-)europäischen Fernsehens seit Mitte der 80er Jahre auch von europäischen TV-Produzenten mehr und mehr angewandt wird):

  "Aus dem kommerziellen Grundprinzip ergeben sich eine Reihe von Konsequenzen: Programme haben nur dann eine Chance, dauerhaft im Angebot zu bleiben, wenn sie durch Werbegelder getragen werden; Unterhaltungsprogramme schaffen in aller Regel ein konsumfreundliches Umfeld: Unterhaltung dominiert deshalb das Programmschema ... Die Dramaturgie typischer Fernsehserien ist so angelegt, daß sie vor jeder Unterbrechung zu einem Höhepunkt führt."  

   Die TV-Werbung selbst, um deretwillen allein die hier besprochenen Infantilisierungs-Prozesse via Fernsehen unaufhörlich in Gang gesetzt und in Gang gehalten werden, leitet jeweils unmittelbar vor einem dramatischen Höhepunkt das "Kind" im Zuschauer aus einer erregenden Welt hochdramatischer Konflikte (die gleichsam die seinen sind) hin zu einem "erlösenden", leuchtenden Eldorado, wo samtene Stimmen ihm die Wiederherstellung von "Allmacht, Geborgenheit und Unschuld" versprechen - wenn es sich nur immerfort der buntglänzenden Zauberdinge bedient, die wie die Sterntaler im Märchen unerschöpflich aufleuchten und eingefangen werden wollen.

 

 

 

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Literaturhinweise:

*Zitiert nach: Gramsci - Marxismus und Kultur (Ideologie, Alltag, Literatur), herausgegeben und aus dem Italienischen übersetzt von Sabine Kebir, S. 127, S. 220.  VSA-Verlag, Hamburg 1983

 

 

"Obwohl Gramscis Kulturtheorien tief in der nationalen und Zeitgeschichte Italiens verwurzelt sind, ist ihre Methode doch auf kulturelle Phänomene anderer Länder und auch noch unserer heutigen Zeit fruchtbar zu übertragen. Gramsci war der erste Marxist, der das Problem der Volkskultur in umfassender Weise stellte, und zwar angefangen bei der Folklore über die katholische Literatur bis hin zur modernen Massenkultur der Zeitschriftenromane und Kriminalliteratur. Die von ihm dabei entwickelte Methode zur Erforschung der Publikumsmotivation und der 'Marktmechanismen' haben volle Aktualität bewahrt und lassen sich ohne weiteres auch auf das moderne Medium 'Fernsehen' übertragen...

Dabei spielt eine kritische Sicht auf die Funktion der Intellektuellen, die er durch die ganze italienische Geschichte hindurch verfolgt, eine wesentliche Rolle."

Sabine Kebir

 


**Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden / Hamburg 96/97

 

 

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