Adolph v. Menzel
 

Seelisch ungeschützt:

Jedes vierte Kind sprachgestört

durch Bildschirm-Brutalität

 

 
Ein Medien-Tabu wird durchbrochen...
 
 

   Im Jahr 1996 durchbrach das Bayerische Fernsehen in einem geradezu revolutionären Akt ein sich selbst auferlegtes Tabu - die bis dahin konsequent durchgehaltene Nicht-Information der Bürger über tiefgreifende emotionale Wirkungen, die vom Fernsehen selbst auf Zuschauer - und insbesondere auf die Kinder unter ihnen - ausgehen können. "Rettet unsere Kinder! - Die visuelle Gewalt und ihre Folgen" hieß die Sendung des renommierten Dokumentarfilmers Bernd Dost. Der Film war ein einmaliger Glücksfall für die Zuschauer (und vor allem für die ihnen anvertrauten Kinder) - für Eltern, Großeltern, Kindergärtnerinnen, Lehrer und alle anderen, "die Kinder liebhaben" (J. Spyri). Denn die Dokumentation ermöglichte ihnen erstmals die erschütternde direkte Anschauung und Information über offen zutage liegende schwerste seelische Verletzungen und massive Sprachstörungen bei Kindern, die regelmäßig mit Horror und Gewalt im Fernsehen und in Videofilmen konfrontiert worden waren.

   Wir zitieren nachfolgend einige Ausschnitte aus diesem Dokumentarfilm, dessen Manuskript auch bei der TR-Verlagsunion erschien (Mitschnittdienst BR: 01805300430, nähere Informationen auch unter info@vedra.com) Weitere sehenswerte Dokumentarfilme (ARD) von Bernd Dost: TATORT KIND und FLUCHT IN DIE WERBEPARADIESE.

   Anlaß und "Rechtfertigungsgrund" der öffentlichen Präsentation des Films Rettet unsere Kinder! war der "Fall Christian", in dem ein Vierzehnjähriger in einem kleinen Ort bei Passau mit der Axt auf seine zehnjährige Cousine und ihre Großmutter einschlug und die Cousine lebensgefährlich verletzte. Die Staatsanwaltschaft beim Landgericht Passau klagt ihn an, in zwei Fällen unmittelbar dazu angesezt zu haben, einen Menschen zu töten, ohne Mörder zu sein, strafbar als versuchter Totschlag in zwei Fällen. Spektakulär ist dann das Urteil im Strafprozeß: Zum ersten Mal wertet ein deutsches Gericht den Einfluß von Horrorvideos - von visueller Gewalt also - als strafmildernd. Drei Monate später klagt die Staatsanwaltschaft Passau die Eltern und den Onkel Christians wegen "fahrlässiger Körperverletzung in zwei Fällen" an, den Onkel zudem wegen Überlassung "jugendgefährdender Schriften" - also Videos - an Christian und will so ein "einzigartiges Signal" gegen den leichtfertigen Umgang mit Horrorfilmen setzen.
 

Die Horrorwelt mörderischer Bilder
wird für Kinder zur wirklichen Welt

   Christian galt in seiner Umgebung als hilfsbereiter, sportbegeisterter Junge. Aber, so sein Rechtsanwalt Dr. Edgar Weiler, "Ich habe gesagt, daß mit dem Christian seit dem zehnten Lebensjahr etwas passiert ist, was nie hätte passieren dürfen. Er erlangte Zutritt zu einer Scheinwelt schlimmster Art, bei Verwandten Zutritt zu Horrormaterial, das von der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft erst ab 18 Jahren freigegeben ist und auf dem Index der Prüfstelle für jugendgefährdende Schriften steht, also niemals an Kinder und Jugendliche gelangen darf. Viele Filme waren zudem auch noch beschlagnahmt. Beschlagnahmt heißt, daß sie noch nicht einmal Erwachsenen gegeben werden dürfen.
   Allerdings ist es sehr häufig, daß Jugendliche solche Filme in Deutschland zu sehen bekommen. Die bekommen sie im Grunde auf jedem Schulhof, weil die Eltern nicht mehr aufpassen.
   Und die Beweisaufnahme im Prozeß hat ergeben, daß der Christian spätestens seit dem zehnten Lebensjahr auffällig geworden ist durch Unkonzentriertheit, Angespanntsein und dergleichen durch Nachspielen von Filminhalten. Christian hat von den etwa 3000 Filmen, die auf dem Index stehen und den 100 bis 200, die beschlagnahmt sind, etwa 100 Stück auswendig gekannt, fast täglich einen von der Sorte angeguckt, teilweise auch mehrfach ...

   Christian befand sich vor der Tat in einem Gefühlszustand in einer Mischung aus innerer Unruhe, resultierend aus der Vorahnung, daß heute etwas ganz Besonderes passieren würde, an diesem Samstagabend, und in einer offensichtlich bis dahin noch nicht erreichten Stufe der Begeisterung für Jason aus "Freitag, der 13.", sein Vorbild, das er sich über Jahre ausgesucht hatte. Dabei hat verstärkend mitgewirkt, daß Christian sich zum ersten Mal von Kopf bis Fuß bewaffnet in einem Spiegel gesehen hat - als Jason.

   Vor der Zimmertür, bevor er reinging in die Wohnstube, wo die beiden Opfer saßen, zögerte er noch. 'Eigentlich', sagte er, 'wollte ich den Kopf nur ins Zimmer reinstecken, in diesem Moment wußte ich noch nicht, daß ich zuschlagen würde', so hat er es berichtet. 'Dieses Gefühl', so sagte er weiter, 'ist erst gekommen, als ich in den Raum hineingegangen bin. Es war nicht das Gefühl, daß ich es tun will, sondern daß ich es nicht mehr verhindern kann.'"

   Die Horrorwelt mörderischer Bilder wird für die Kinder zur wirklichen Welt (und wir erkennen hier unmittelbar auch die Macht von "Idolen" über Jugendliche: im - dem Jugendlichen selbst tief unbewußten - Prozeß der Identifikation ...Anm. d. Verf.)

   Interview mit Kindern einer Computer-Spielgruppe:

Frage: "Ihr habt vielleicht gelesen, daß ein Junge den Jason mit der Axt nachgemacht hat. Wie kann so etwas passieren?"
1. Junge: "vielleicht durch Computerspiele ..."
2. Junge: "Der war da im Kino oder in so'n Ding, wo's ganz brutal ist mit Köpfen und Messern in den Hals rein. Dann will man das auch ausprobieren, und dann tut man mit einem Mal so draufschlagen."
Frage: "Dann kann er eigentlich nichts dafür?"
2. Junge: "Nein. Der guckt so Scheißfilme an, und das ist halt im Kopf drin, daß man das nachmachen will ..."
 

AngstLust

  
Am Beispiel von Killer-Computerspielen erklärt Prof. Dr. Karl-Heinz Menzen, Dekan des Fachbereichs Heipädagogik der Freiburger Kath. Fachhochschule für Sozialwesen und Pflege, die Faszination durch Verschmelzung von Angst und Lust im aktiven oder passiven Umgang mit visueller Gewalt:

   Prof. Menzen: "Wenn ich spiele, sitze ich an meiner Tastatur. Dann kommen die Szenen aus dem Spiel. Ich werde durch das Labyrinth geführt - vielleicht über die Zeitschrift, die ich gleich mitbeziehe - daß es da an die 150 Feinde gibt, die ich umnieten muß, hinter der nächsten Ecke steht einer. Ich muß ständig aufpassen, daß ich nicht selbst umgelegt werde. Und am Schluß heißt es vielleicht dann: Gesundheitszustand gleich Null, das muß ich verhindern. Also marschier ich los, in einem ständigen Spannungszustand: Der erste wird umgelegt, der zweite, der dritte wird umgelegt. Ich geh' da durch, ich fange an zu schwitzen ... Meine Frau ruft, komm endlich zum Abendessen, ich kann's nicht. Ich schwitze weiter, ich muß ja die nächsten umbringen. Ich kann nicht mehr zurück. Ich habe mich verwundbar gemacht am Anfang des Spiels - da konnte ich noch frei entscheiden. Jetzt marschiere ich weiter und lege um und lege um und lege um. Wenn ich dann später am Autosteuer sitze, merke ich, daß ich versuche, auch die anderen mental umzulegen. Weiterkommen, weiterkommen, weiterkommen - wie in Film. Es bildet sich im Leben etwas ab."

   Frage: "Ist es Angst oder Lust oder beides?"

   Prof. Menzen: "Es ist beides. Der Psychoanalytiker Balint hat gesagt: Es ist AngstLust. Denn es macht Lust, dabei zu sein. Macht Lust, eine bestimmte Leistung, ein bestimmtes Level, eine bestimmte Punktzahl zu erreichen. Und es macht Angst, weil ich in jedem Augenblick kippen kann. Und diese Form von Erregung, diese Form von Lust, die in Unlust umschlägt, ist genau dieselbe Situation, die das Kind in der Familie, in der Schule, im Beruf erfahren hat, aber nie richtig zu Ende gebracht hat."
 


Francisco de Goya: Bobalicon

 

Goyas Visionen enthüllen den Konflikt der menschlichen Vernunft, die aller ihr begegnenden Brutalität, den Lastern, Leidenschaften und Lügen sowie sozialen Ungerechtigkeiten ebenso ohnmächtig ausgeliefert ist wie den Ängsten vor nicht meßbaren Gewalten. Dieser riesenhafte, Castagnetten schlagende Tölpel erschreckt mit seinem plötzlichen nächtlichen Auftauchen die Menschen.


(Aus einer Einführung von Walter Koschatzky)


 

 
 

Ramstein 1988:

Schwere seelische Verletzungen bei Kindern
sowohl durch wirkliche Katastrophen
als auch durch Horrorszenarios auf dem Bildschirm

  
Auszug aus einem Interview mit Dr. Hartmut Jatzko, Arzt für Psychosomatische Medizin, Katastrophen-Nachsorge am Klinikum Kaiserlautern (Mitautor des Buches Das durchstoßene Herz. Ramstein 1988, Beispiel einer Katastrophennachsorge. Edewecht 1995.):

   Frage: "Herr Dr. Jatzko, Sie kommen von einer ganz anderen Seite an dieses Thema (Wirkungen visueller Gewalt) heran - und zwar von der wirklichen Welt, den wirklichen Geschehnissen, von wirklichen Unglücken. Welche Brücke schlagen Sie zu den Kindern, zum Fernsehen und zu den Folgen?"

   Dr. Jatzko: "Ja. Wir haben nicht nur Erfahrungen mit erwachsenen Menschen, die verletzende Ereignisse nicht nur körperlicher, sondern auch seelischer Art erfuhren, sondern auch mit Kindern.
Ob das jetzt Verkehrsunfälle, also alltägliche Ereignisse sind, so sind es auch Katastrophen, die wir in der Nachsorge betreuen durften und wo wir in den letzten Jahren eine Reihe von Erfahrungen gemacht haben, daß auch durch dieses Katastrophenerleben Erwachsene wie Kinder nicht nur Narben des Körpers, sondern auch Narben der Seele bekommen, die lebenslange Auswirkungen haben können."

   Der "Höhepunkt" des Flugtages 1988 in Ramstein. In wenigen Minuten werden 70 Menschen sterben. Dr. Jatzko hat mit einer Nachsorgegruppe die Überlebenden betreut.

   Alpträume und Ängste durch visuelle Gewalt - verstörte und verletzte Kinder:

   Dr. Jatzko: "Kinder fallen in einer Situation, die man ihnen anbietet, zum Beispiel im Film, in eine Schein-Wirklichkeit hinein. Sie verlassen die Realität und bekommen dadurch genau so traumatische Verletzungen - Narben der Seele - als wenn sie es wirklich in der Natur erlebt hätten."

Damit wird die grundlegende Erkenntnis Jean Piagets - des großen Pioniers der ausschließlich mit intellektuellen Reifungsprozessen befaßten Sparte der Entwicklungspsychologie - eindrucksvoll bestätigt, daß Kinder bis zum Beginn der Pubertät Wirklichkeit und Phantasiewelt (hier: die kaufsködernden "Phantasien" der "Macher") nicht klar voneinander unterscheiden können.

   Besuch der Klinik für Kommunikationsstörungen der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz. In einem Therapieraum sitzt eine Gruppe lächelnder und sensibel wirkender Kinder im Kreis mit zwei Therapeutinnen:
 

Alarmierende Zunahme von
Sprachentwicklungsstörungen
bei dreieinhalb- bis vierjährigen Kindern


   Therapeutin: "Wer hat etwas zu meckern? Patrick, Pascal, Frank, Francesco, Tanja ...?"
Frage:"Da wir ja vom Fernsehen sind, hab ich natürlich die Frage, schaut ihr eigentlich gerne Fernsehen?"
Alle Kinder begeistert: "Jaaa!"
Frage: "Schaut ihr oft Fernsehen?"
Alle Kinder: "Jaaa!"
Therapeutin: "Wer was sagen will, was er im Fernsehen guckt, der kann sich melden."
Kinder: "Bauer-Reindjers" (Power-Rangers) - "Monster-Angst haben." - "Mänia" (Tazmania).
Therapeutin: "Hast du einen eigenen Fernseher?"
Francesco: "Ja, im Zimmer."
Therapeutin: "Hast du viele Videos?"
1. Junge: "Ja."
Therapeutin: "Und kannst du abends so lange gucken wie du möchtest?"
2. Junge: "Ja."
Francesco: "Meine Mutter sagt nie nein."
1. Mädchen: "Wätmän." (Batman)
3. Junge: "Wieär" (VR Troopers)
4. Junge: "Wieär Huper!"

   Therapeutin: "Schau, ich habe hier eine Bildergeschichte, und Du sollst mal erzählen, was Du da alles siehst."
Kind: "Die Wau gocht ..."
Therapeutin: "Die Frau kocht ..."

   Prof. Dr. Manfred Heinemann, Klinik für Kommunikationsstörungen:"Wir haben hier in der Klinik gesehen, daß die Zahl der Kinder mit Sprachentwicklungsstörungen enorm zunimmt und wir vor allen Dingen sehr schwere Sprachentwicklungsstörungen sehen. Unter diesem Aspekt hatten wir uns vorgenommen, ein screening-Verfahren zu entwickeln, das zu den Vorsorgeuntersuchungen der Kinderärzte passen sollte. Es wurde deshalb für die Altersgruppe der dreieinhalb-  bis vierjährigen Kinder konzipiert.
Wir haben ganz erschreckende Ergebnisse bekommen. Wir haben drei Untersuchungen durchgeführt und zwar in den Jahren 1988 bis 1992 schon. Wir haben in unterschiedlichen Kindergärten im Landkreis Mainz/Bingen 18 Prozent der Kinder mit Sprachentwicklungsstörungen gesehen. Bei zwei Untersuchungen in Mainz waren es 22 Prozent, und, ganz erschreckend bei der letzten Untersuchung, 25 Prozent dieser Altersgruppe, die Sprachentwicklungsstörungen haben. Dagegen gab es 1976 bis 1977 vier Prozent Sprachentwicklungsstörungen."

   Die Folge ist, daß die Sprachheilschulen eine dramatische Zunahme der Anmeldungen sprachgestörter Kinder erleben.

   Prof. Heinemann: "Wir müssen zwei Gruppen von Kindern unterscheiden: Die einen, das sind Kinder, die ganz eindeutig organische Störungen haben, z.B. Hörstörungen, geistige Entwicklungsstörungen, Sehstörungen, Lippen-Kiefer-Gaumenspalten ... Diese medizinischen Ursachen haben jedoch nicht oder nicht wesentlich zugenommen - somit kann dies die Zunahme der Sprachentwicklungsstörungen nicht erklären.

 ... Wir müssen uns dann natürlich fragen, ob wir ein Einschulunsalter von sechs Jahren aufrechterhalten können, oder müssen wir die Kinder später einschulen? Aber ganz wichtig ist, was mir viele Grundschullehrer sagen, daß sie heute zu Beginn des 1. Schuljahres und auch im weiteren Verlauf nicht mehr so schnell im Stoff vorwärts gehen können, wie das früher der Fall war. Sie haben also ganz erheblich mit diesen Sprachentwicklungsstörungen zu kämpfen."

   Dr. Jatzko: "Es gibt einige Beispiele schon im Kindergarten, ich meine, wir haben das selbst als Kinder erlebt, wir als etwas reifere Generation, daß es auch da Gewalt gegeben hat. Aber heute, diese Brutalität, dieses Nicht-Einschätzen-Können der eigenen Kraft von Kindern, das ist deutlich im Zunehmen. Wir haben eine zunehmende Zahl von Verletzungen von Kindern durch Kinder. Nehmen wir mal die Filme, wo jemand dem anderen einfach auf den Schädel schlägt: Der schüttelt sich und läuft weiter. Was haben wir in unseren Ambulanzen? Es kommen schon Kinder mit Hirnblutungen, sind lebenslänglich behindert. Ich glaube, daß diese Bagatellisierung, diese Verharmlosung der Kraft, die durch menschliche Gewalt, durch Machtmißbrauch geschieht, daß dies Schäden verursacht, die bis zur schwersten körperlichen Verletzung und Behinderung gehen können."
 

   Noch einmal Dr. Jatzko: "Ich erlebe das, besonders aus Berichten der Eltern, daß die Kinder nachts in Alpträumen diese (filmischen Gewalt-)Szenen wiedererleben, die sie als Trauma oder als Verletzung in einem solchen Film mitbekommen haben. Eltern, die mir das erzählen, sind oft gegen Gewaltdarstellungen, lassen die Kinder nicht an diese Filme kommen. Doch die Kinder sehen diese Filme bei Freunden und Bekannten. Die Eltern erfahren von den nächtlichen Alpträumen und merken plötzlich, daß hier schwere seelische Verletzungen den Kindern passieren."

 

 
 

Interview mit dem Leiter des
Sprachheilzentrums Meisenheim

   Reinhold Marx: "Wir beobachten eine extreme Zunahme von Sprachentwicklungsstörungen in den letzten sieben, acht Jahren. Konkret für unser Haus, das Sprachheilzentrum Meisenheim, heißt dies, daß wir über 100 Kinder auf der Warteliste haben, die unter extremen Störungen leiden und die bereits erfolglos behandelt worden sind. Sprechen lernt man nur durch Sprechen, d.h. ich brauche einen Dialogpartner, der sich mit mir unterhält und an dem ich mich orientieren kann. Da kommen in den letzten Jahren vermehrt die negativen Einflüsse der Medien zum Ausdruck, d.h. die Kinder werden mehr und mehr zu Empfängern, werden vor den Fernseher, den Computer abgeschoben - eine Kommunikation findet nicht mehr statt. In der Therapie müssen wir zunächst eine emotionale Wärme gegenüber den Kindern erzeugen. Sie müssen merken, daß Sprache, daß Sprechen Freude macht."


Der durch visuelle Gewalt
entstehende Stress

   Prof. Menzen:"Stress biochemisch psychisch-physisch bedeutet, daß meine Sinne überfordert werden. Ich kann diese Reize, die so schnell geschnitten sind, nicht mehr auseinanderhalten. Meine Motorik wird völlig ausgerichtet auf die Mattscheibe des Computers, der Konsole beim Spiel oder des Fernsehers beim Video oder Fernsehen.
Motorische Ausrichtung heißt, daß meine Skelett-Muskulatur, meine Körperbewegungen diffus werden. Ich möchte sie abreagieren, kann es aber nicht, weil ich gehalten werde, meine Augen fixiert werden. Kinder werden in der Augenleistung überfordert, sie fangen an zu stottern. Verringertes Sprachvermögen, eingeschränkte Grammatik, eingeschränkte Aussprache, Reduzierung des Sprachgedächtnisses ..."

   Prof. Heinemann: "Es gibt im wesentlichen vier Hauptebenen: Das ist das Sprachverständnis, dann vor allen Dingen der Wortschatz, die grammatikalischen Strukturen und die Artikulation. Bei unseren Untersuchungen nennen wir sprachgestörte Kinder nur diejenigen, die Auffälligkeiten in mindestens drei Bereichen aufweisen.
Wir müssen zwei Gruppen von Kindern unterscheiden: Die einen, das sind Kinder, die ganz eindeutig organische Störungen haben, z.B. Hörstörungen, geistige Entwicklungsstörungen, Sehstörungen, Lippen-Kiefer-Gaumenspalten ... Diese medizinischen Ursachen haben jedoch nicht oder nicht wesentlich zugenommen - somit kann dies die Zunahme von Sprachentwicklungsstörungen nicht erklären.

   Es sind bei der anderen Gruppe von Kindern sicherlich Faktoren im sozio-kulturellen Bereich, die für die zunehmenden Sprachentwicklungsstörungen verantwortlich sind: Verstädterung, weniger Spielmöglichkeiten, weniger Kreativität, reduzierte motorische Entwicklungsmöglichkeit, viele alleinerziehende Elternteile, die unter erheblichen Belastungen stehen, Medienmächte, sprich Fernsehen.

   Es ist bestimmt nicht nur das Fernsehen, aber man kann es auf den Punkt bringen: In der Familie wird heute weniger gesprochen als früher."


Wie erkenne ich, ob mein Kind
in seiner Sprachentwicklung gestört ist?

  
Prof. Heinemann: "Mit einem Jahr beginnt ein Kindnnormalerweise die ersten Wörter zu sprechen. Meistens ist es Mama oder Papa oder auch Auto.
Mit Dreijährigen kann man sich schon völlig normal kindgerecht unterhalten. Die Kinder haben einen Wortschatz von 800 bis 1000 Wörtern. Sie beginnen Nebensatzkonstruktionen zu benutzen und drücken sich grundsätzlich einwandfrei aus.
   Ich gebe folgende Ratschläge: Wenn bei den Eltern der Verdacht aufkommt, daß die Sprachentwicklung nicht normal ist, dann sollten sie einen Arzt aufsuchen, der die Sprachentwicklung beurteilt bzw. einen screening-Test macht. Wichtig ist auch, daß Hörstörungen sehr früh erfaßt werden müssen. Da liegt in Deutschland noch sehr viel im argen. Kinder mit Hörstörungen müssen schon vom sechsten Monat an ärztlich versorgt werden."

   Ergänzend hierzu das Ergebnis der Forschungen der britischen Sprachforscherin Sally Ward bei Kleinkindern: Kinder mit hohem TV-Konsum bleiben in ihrer Sprachentwicklung bis zu einem Jahr hinter anderen Kindern zurück.
 

Resolution

Besorgniserregende Zunahme von
Sprachentwicklungsstörungen bei Kindern
erfordert rasches Handeln


Ärzte, Pädagogen und Erzieher beobachten seit einigen Jahren eine erhebliche Zunahme von Sprachentwicklungsstörungen bei Kindern.

Unter dem Oberbegriff "Sprachentwicklungsstörung" - gleich dem häufig benutzten Begriff "Sprachentwicklungsverzögerung" - wird eine zeitliche oder inhaltliche Abweichung vom normalen Spracherwerb (Altersdurchschnitt) bei Kindern zusammengefaßt.

Typische Symptome sind: Verzögerter Sprechbeginn, eingeschränktes Sprachverständnis, unzureichender Wortschatz, gestörte Grammatik, undeutliche bis unverständliche Aussprache und eingeschränkte Kommunikationsfähigkeiten.

Werden diese Störungen nicht in der sensiblen Altersphase vom zweiten bis dritten Lebensjahr erfaßt, beeinflußt und ggf. behandelt, so drohen später vor allem Rückstände in der intellektuellen und psychosozialen Entwicklung, z.B. Verhaltensstörungen, Lese-Rechtschreib-Schwäche, Redeflußstörungen (Stottern, Poltern) oder Sprachverweigerung (Mutismus).

   1982 lag der Anteil sprachentwicklungsgestörter dreijähriger Kinder in umfangreichen epidemiologischen Reiehnuntersuchungen noch bei etwa vier Prozent. Querschnittsuntersuchungen der Universitätsklinik für Kommunikationsstörungen Mainz und der Logopäden-Lehranstalt Mainz erbrachten zwischen 1988 und 1992 in verschiedenen Kindergärten der Stadt Mainz und des Landkreises Mainz-Bingen eindeutige Sprachentwicklungsstörungen bei etwa 25 Prozent aller dreieinhalb- bis vierjährigen deutschsprachigen Kinder. Die Hälfte dieser Kinder war sogar mittel- bis hochgradig betroffen, so daß sofortige Sprachbehandlungen angezeigt waren.

Eine gravierende Zunahme sprachauffälliger Kinder führte zum Beispiel auch zu einem enormen Anstieg der Schüler an Schulen für Sprachbehinderte in Nordrhein-Westfalen von 4665 im Jahre 1986 auf 7381 im Jahre 1993; dabei weisen erfahrungsgemäß etwa 80 Prozent dieser Schüler eine Sprachentwicklungsstörung auf.

Diese Daten lassen keinen Zweifel an einer erheblichen Zunahme der Kinder mit Sprachentwicklungsstörungen innerhalb des letzten Jahrzehnts.

Der interdisziplinär mit Experten der Medizin, Sonderpädagogik, Logopädie und Krankenkassenvertretern besetzte Arbeitsausschuß "Hör- Stimm- und Sprachschäden" der Deutschen Vereinigung für die Rehabilitation Behinderter (Leiter: Prof. Dr. M. Heinemann, Mainz) macht für diese Zunahme nicht organische Ursachen, sondern in erster Linie eine unzureichende sprachliche Anregung bei verändertem Kommunikationsverhalten in der Familie verantwortlich: zum Beispiel mehrstündiges Fernsehen, das, neben einer Reizüberflutung, vor allem das natürliche kommunikative Umfeld verschlechtert, die Integration von Sinneswahrnehmungen (Sehen, Hören, Fühlen) erschwert und dadurch die gesamte sprachlich-geistig-seelische Entwicklung des Kindes beeinträchtigt.

Weitere Faktoren können Veränderungen des sozialen und familiären Umfeldes sein, wie Berufstätigkeit beider Elternteile, Scheidungskinder, aktive Gewaltbereitschaft in Gruppensituationen u.ä. Wichtig ist auch das häufigere Auftreten von Schalleitungsschwerhörigkeiten durch Tuben-Mittelohrkatarrhe und Paukenhöhlenergüsse.

Die Deutsche Vereinigung für die Rehabilitation Behinderter macht sich die Forderung ihres Arbeitsausschusses zu eigen, angesichts der dramatischen Zunahme von Kindern mit Sprachentwicklungsstörungen rasch und gezielt zu handeln.

Insbesondere ist es erforderlich, bei allen Kindern bereits im zweiten bis dritten Lebensjahr auf Sprachentwicklungsstörungen zu achten, um die nötige Förderung rechtzeitig einleiten zu können.

Nur so können sich die Kommunikationsfähigkeit des Kindes und damit seine geistig-seelischen Fähigkeiten sowie seine Sozialisation möglichst normal entwickeln.

Ist eine Sprachentwicklungsstörung erfaßt, so reichen in vielen Fällen schon intensive Elternberatungen und eine gezielte häusliche Sprachförderung aus, um eine bleibende Sprachentwicklungsstörung zu verhindern.

Es liegt vor allem im Verantwortungsbereich der Eltern und der zuständigen Kinderärzte sowie Erzieherinnen, auf erste Symptome zu achten und dann sogleich spezielle Untersuchungen zur Frage der Förderungs- bzw. Behandlungsbedürftigkeit zu veranlassen.

Weitere Auskünfte erhalten Sie über die Geschäftsstelle der Deutschen Vereinigung für die Rehalbilitation Behinderter e.V., Friedrich-Ebert-Anlage 9, 69117 Heidelberg (Tel.: 06221/25485, Fax:06221/166009).


Was daraus folgt

   Die hier wiedergegebene Resolution wurde 1996 in dem Manuskript zum Film "Rettet unsere Kinder!" veröffentlicht. In den Untersuchungsergebnissen, die sie zitiert, wird ein alarmierender "Quantensprung" deutlich sichtbar: 1982 liegt der Anteil sprachentwicklungsgestörter dreijähriger Kinder bei vier Prozent, 1992 ist er bereits auf 25 Prozent gestiegen. Dies ist das Jahrzehnt, in dem die (westdeutsche) "Medienlandschaft" von Grund auf umstrukturiert wurde - gipfelnd 1987 in der Einführung der "dualen" Rundfunkordnung, also  der Etablierung des "reinen" Werbe-Quoten-Kommerzfernsehens (zusätzlich zum öffentlichen Fernsehen), dessen einziger Daseinszweck bekanntlich die tägliche Langzeit-Fesselung möglichst vieler Zuschauer ist - einschließlich der Kleinsten unter ihnen, gleich mit welchen Mitteln, gleich um welchen Preis.

   Der Dokumentarfilm "Rettet unsere Kinder!" wurde vor nunmehr acht Jahren den Bürgern zugänglich gemacht. Seither ist vonseiten des öffentlich-rechtlichen Fernsehens (ARD und ZDF) so gut wie nichts geschehen, um mehr Medienwirkungs-Transparenz für die Gesamtgesellschaft zu schaffen: ihr die Medienwirkungs-Informationen zu vermitteln, deren allgemeine Kenntnis für die Weiterentwicklung unserer Demokratie und den Aufbau einer humanen Gesellschaft von allerhöchster Dringlichkeit ist. Angesichts zunehmend ungehemmter Mordlust, Brutalität und Tötungswut auf der ganzen Welt ist jedoch das folgenschwere Schweigen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens nicht länger hinzunehmen.

   Die Quoten-fixierten Verantwortlichen in den öffentlich-rechtlichen Fernsehsendern fürchten, daß Zuschauer ihnen in Scharen abtrünnig werden könnten, wenn sie endlich rückhaltslos informiert werden über tiefgehende unterschwellige Wirkungen, die vom Fernsehen selbst auf die Zuschauer ausgehen können. Dies aber ist eine sehr ängstliche und unwürdige, wenn nicht menschenverachtende Einstellung gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern unserer Zivilgesellschaft im angehenden 21. Jahrhundert!

   Die Fernseh-Verantwortlichen sollten vielmehr endlich verstehen lernen, daß sie sich keineswegs "den eigenen Ast absägen" werden, wenn sie uns die Medien-Basisinformationen an die Hand geben, um die es geht. Denn wir - Medien und Gesellschaft - werden entweder eine humane Gesellschaft miteinander aufbauen - oder es wird schon bald keine Humanität mehr geben. Und in einer dann endgültig inhumanen Welt wird niemand mehr ein menschenwürdiges und zufriedenes Leben führen können - weder die sogenannten breiten Schichten, die heute noch auf höchst fahrlässige und unverantwortliche Weise in Unwissenheit gehalten werden über mediale Wirkungsprozesse, die ihr Zusammenleben tief tangieren  - noch diejenigen, die jetzt noch sich ängstlich an ihr "Herrschaftswissen" anzuklammern scheinen wie an einen porösen Rettungsring auf immer stürmischer werdender dunkler See.

* * * * *



Siehe auch Münchner Abendzeitung vom 17./18. April 2004:
"Mehr Gewalt bei Kindern: Dramatische Entwicklung - der Polizeipräsident schlägt Alarm"



 

 
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