Neuester Orbis Pictus oder Schauplatz der Natur und Kunst.
 Zur belehrenden und erheiternden Unterhaltung für Jung und Alt.
 Deutsche Jugendzeitung. Meissen 1843.
© Amélie Ziersch

 

Walter Benjamin
über Kinder und
Bilderbücher
 

Gibt man vier oder fünf bestimmte Worte an und läßt sie schnell zu einem kurzen Satz zusammenfügen, so wird die erstaunlichste Prosa zum Vorschein kommen: nicht Aussicht, sondern Wegweiser ins Kinderbuch. Da werfen sich mit einem Schlag die Worte ins Kostüm und sind im Handumdrehen in Gefechte, in Liebeszenen oder Balgereien verwickelt.

So schreiben, so aber lesen auch die Kinder ihre Texte. Und es gibt seltene, passionierte ABC-Bücher, welche in Bildern ein verwandtes Spiel treiben. Da findet man z.B. auf der Tafel A ein Stilleben aufgetürmt, das sehr rätselhaft wirkt bis man dahinter kommt, daß hier Aal, ABC-Buch, Adler, Apfel, Affe, Amboß, Ampel, Anker, Armbrust, Arznei, Ast, Aster, Axt sich versammelt haben.

 

 
ABC-Buch für kleine und große Kinder gezeichnet von Dresdner
Künstlern mit Erzählungen und Liedern von Robert Reinick und
Singweisen von Ferdinand Hiller. Titel-Holzschnitt von Ludwig Richter.
Leipzig 1845.
© Amélie Ziersch
 

Solche Bilder kennen Kinder wie ihre Tasche, sie haben sie genau so durchwühlt und das Innerste zu äußerst gekehrt, ohne das kleinste Fetzchen oder Fädchen zu vergessen. Und wenn im kolorierten Kupferstich die Phantasie des Kindes träumerisch in sich selber versinkt, führt der schwarz-weiße Holzschnitt, die nüchterne prosaische Abbildung, es aus sich heraus. Mit der zwingenden Aufforderung zur Beschreibung, die in dergleichen Bildern liegt, rufen sie im Kinde das Wort wach. Wie es aber diese Bilder mit Worten beschreibt, so "beschreibt" es sie in der Tat. Es bekritzelt sie. Anders als jede farbige ist ihre Fläche gleichsam nur andeutend bestellt und einer gewissen Verdichtung fähig. So dichtet das Kind in sie hinein.

Es lernt an ihnen zugleich mit der Sprache die Schrift: Hieroglyphik. In deren Zeichen gibt man heute noch den ersten Fibelworten das Linienbild der Dinge, welche sie bedeuten, mit: Ei, Hut. Der echte Wert solch schlichter graphischer Kinderbücher liegt also weit ab von der stumpfen Drastik, um derentwegen die rationalistische Pädagogik sie empfahl.

Zitiert aus: Walter Benjamin, "Aussichten", Illustrierte Aufsätze, Frankfurt 1977. In: "Bilderbuch - Begleiter der Kindheit", Herausgegeben von © Amélie Ziersch.

*****


 


 
















"Hurleburles Wolkenreise". Ein Bilderbuch aus bunten
 Dreiecken von Hilde Krüger. 1924. © Amélie Ziersch


 


Das Männchen. Eine Bildergeschichte für Kinder
 von Conny Meissen. Berlin 1926.
 © Amélie Ziersch

 


Tobias Immerschneller von Antoinette Kahler.
Mit Bildern von Richard Teschner. Verlag der
 "Wiener Werkstätte" 1910. © Amélie Ziersch

 

 

 

 

 

 
Der Hahnepeter von Kurt Schwitters. Bilder von Sophie Küppers.
                     1920er Jahre.* Copyright by Amélie Ziersch




Klein-Rainers Weltreise von Lily Hildebrandt 1918
© Amélie Ziersch


 


Das Schlaraffenland von Hans Sachs. Mit Bildern von Karl Arnold.
Volksverband der Bücherfreunde 1925
© Amélie Ziersch




Vogel-ABC von Friedrich Wilhelm Kleukens.
Oldenburg, Stalling 1925. © Amélie Ziersch

 

*Erinnerungen von Kurt Schwitters und Sophie Küppers
 Zitiert aus: Kate Steinitz, „Kurt Schwitters. Erinnerungen aus den Jahren 1918-1930“. Zürich 1963

Kurt Schwitters: "Der Hahnepeter ist in der Kinderstube entstanden. Er ist und bleibt eine der liebenswürdigsten Erinnerungen aus den zwanziger Jahren, ganz ohne Bitterkeit.
In [unserem] Wohnzimmer-Küche-Kinderzimmer-Atelier stand ein uraltes Osterei auf einer Konservenbüchse, und damit es nicht hinfiel, hatte Ernst Schwitters [Kurt Schwitters’ Sohn] etwas Grünes darunter gelegt, Gras oder Papier, ich weiß es nicht mehr genau. Ernst war damals ungefähr fünf Jahre alt und sehr weise. Helma, seine Mutter nannte ihn Ernstlemann; Kurt, sein Vater, machte daraus Ernst Lehmann. Man findet diesen Namen [Ernst Lehmann] oft in den Merzheften** als Autor von Aussprüchen wie: 'Was man klaut, wird Brei'. Oder 'Ewig währt am längsten'.
Die damals schon verwitwete Sophie Küppers versuchte in ihrer Unternehmungslust viele Dinge: Kunsthandel, Ausstellungen und dergleichen. Sie hatte auch Verbindungen zu einem großen Verlagshaus. Dort wollte sie eine neue Art Kinderbücher einführen, etwas Urwüchsiges, etwas nie Dagewesenes. Es sollte dabei erzieherisch sein, aber so, daß es die Kinder nicht merkten.
Sophie Küppers sah das Ei auf der Konservenbüchse und fragte: ‚Was ist das?’ Und da war der Hahnepeter geboren.“

Sophie Küppers: „Kurt diktierte die Geschichte in einem Zuge gleich ins Reine, in meine Schreibmaschine hinein, unter Zurufen der Kinder, denen er die Geschichte sowieso erzählen wollte. Ich musste die Figuren mit Federhalter und Tinte gleich ‚aufschreiben’, wie die Kinder sagten. Ernst Schwitters wußte genau, dass Hahnemann [Hahnepeters Vater] eigentlich er selbst war, Ernstlemann alias Ernst Lehmann. Er fühlte sich wichtig und machte kluge Bemerkungen. Wir Erwachsenen waren viel kindischer.“

 


Sophie Lissitzki-Küppers (1891-1978)
© Süddeutsche Zeitung

Kurt Schwitters (1887- 1948), vor 1927
Photo: Genja Jonas Quelle: Wikipedia

                           

** Das Wort MERZ hatte Schwitters in eine seiner Collagen eingefügt. Es handelt sich dabei um einen Ausschnitt aus dem Schriftzug „Kommerz- und Privatbank“.


 

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