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Béla Bartók

(1881 - 1945)

 

Mit Auszügen aus Bartóks eigenen Schriften und Aufzeichnungen seiner Freunde wollen wir an den großen ungarischen Komponisten erinnern. Wir stellen an den Anfang Erinnerungen des Verlegers Hans W. Heinsheimer, der mit großer Einfühlung und Genauigkeit uns ein getreues Bild des Menschen Béla Bartók überliefert hat.

 

Béla Bartók in Amerika

Bartók und Schönberg bei der Wiener Universal Edition
   Ich hatte Béla Bartók schon vor vielen Jahren in Europa kennen gelernt, in meinen ersten Jahren bei der Universal Edition in Wien, die seine Werke verlegte. Auf seinen Fahrten von oder nach Budapest, wo er damals wohnte, kam er oft durch Wien, und jedes Mal waren seine kurzen Geschäftsbesuche besondere Ereignisse im Alltag unseres Betriebes. Er war bereits ein berühmter Komponist - berühmt in einem nicht leicht zu definierenden Sinn -, aber keineswegs ein erfolgreicher, wenn man den Erfolg nach dem Maßstab der Anerkennung des breiten Publikums mißt. Aber seine Besuche - die nie improvisiert waren, sondern deren Tag und Stunde vorher in einem formellen Brief festgelegt und dann aufs genaueste eingehalten wurden - verursachten schon im voraus nervöse Spannung. Der tiefe Respekt, der ihm von jedermann entgegengebracht wurde, vom Portier bis zum Generaldirektor der Universal Edition, war von einer besonderen Art, von einem Ernst und einer Intensität, die nur selten einem anderen der vielen berühmten Komponisten bezeigt wurden, die von früh bis spät in unserem Verlag aus und ein gingen. Sogar der große Arnold Schönberg, so furchtbar in seinem Zorn, so leicht verletzbar durch ein unrechtes Wort oder durch einen scheinbaren Mangel an Ergebenheit, konnte manchmal ganz leicht durch einen gut angebrachten Scherz besänftigt oder bewogen werden, selbst ein paar Witze zu erzählen; und wenn ihm ein besonders treffendes Wortspiel gelang, so stieg er entspannt und schmunzelnd von seinem Piedestal und wurde ganz vergnügt und beinahe menschlich. - Bartók lebte in einer schweigsamen Welt, die selten ein Lächeln kannte, in der wenig Raum für unsere menschlichen Schwachheiten war, und keine Verzeihung für unsere Sünden.

 

Bartók in New York und der Verlag Boosey & Hawkes
   Als er im Winter 1940 auf seiner letzten Fahrt nach Amerika kam, wurde unsere Verbindung viel enger. Ich war zu dieser Zeit für den Verlag Boosey & Hawkes tätig, der die Herausgabe der späteren Werke Bartóks übernommen hatte. Damals wurden eine Reihe seiner wichtigsten und berühmtesten Werke zur Veröffentlichung vorbereitet. Die intensive und oft sehr komplizierte Arbeit daran hielt uns fast täglich in Verbindung, sogar während des Sommers, wo ich ihn regelmäßig in seinem kleinen primitiven Sommerhäuschen in Saranac Lake, einem Höhenluftkurort im Staate New York, zu besuchen pflegte.

   Die Verbindung wurde noch enger, als Boosey & Hawkes ein kleines Konzertbüro einrichteten, um Bartók und seine Gattin, die Pianistin Ditta Pászthory, bei ihren Versuchen, Konzertengagements zu erhalten, zu unterstützen. Bis an sein Lebensende arbeitete ich so in doppelter Eigenschaft für ihn: als Verleger und Manager.

   Schon zu Lebzeiten, aber noch mehr nach seinem Tod, als die Ausstrahlung seines Werkes viel, viel stärker wurde als er je gehofft hatte, wurde er oft als "der große ungarische Komponist" bezeichnet. Im wörtlichen Sinne war er natürlich Ungar, und er liebte sein Heimatland, in dem seine Musik tief verwurzelt war. Noch kurz vor seinem Tode war er tief gerührt von seiner Berufung in das neue ungarische Parlament, das nach der Befreiung des Landes von der deutschen Besetzung gebildet wurde. - Aber man konnte sich ihn nie bloß als Ungarn vorstellen, ebenso wenig wie als Angehörigen irgendeiner anderen Gruppe, Nation oder Rasse. Er war ein "menschliches Wesen" beinahe im abstrakten Sinne dieses Wortes, in planetarischen Bahnen kreisend, nur gelenkt von den Gesetzen des Anstandes, der Unantastbarkeit und der Überzeugung, Gesetze, die er auf seine eigene Lebensführung kompromißlos anwandte, und deren Bruch durch andere er niemals vergab.

   Seine engelhaft Rechtschaffenheit machte ihn untauglich für eine Welt, in der alles auf Geben und Nehmen beruht, in der jede Hand die andere wäscht, und in der jedes Ding seinen Haken hat. Sowohl in seinem Leben als auch in seiner Musik war für ihn der Gedanke undenkbar, er könne jemals Kompromisse schließen, sich den Bedürfnissen des Tages anpassen, oder von dem Weg abweichen, den er für richtig hielt. Nie ging er die bequemste Straße, immer die schwierigste.

   Wie all das in mir wieder lebendig wird, wenn ich sein Bild an der Wand betrachte! Die klaren, durchdringenden, ach so ernsten Augen sehen wieder nach mir: fragend, gelassen, unerbittlich. Das schöne, kluge Gesicht: ruhig, streng, nur selten bewegt von einem kurzen, rasch sich wieder verflüchtigenden bitteren und fast verlegenen Lächeln.

   Er war scheu, sehr schweigsam, immer auf der Hut, mißtrauisch gegenüber allen Menschen und Dingen. Nie hörte ich ihn seine Stimme erheben. Wo ein anderer laut aufgefahren wäre, zog er sich sofort in eine eisige Atmosphäre zurück, und seine Augen drückten stummen Tadel aus, gegen den schwerer anzukämpfen war als gegen einen temperamentvollen Ausbruch. Er war von kleiner Gestalt und erschreckend zart. Mit seinem dünnen Körper, seiner scharf geschnittenen Nase, seiner edlen Stirne mit dem weichen, seidenen Haar, mit seinen durchscheinenden Kinderhänden, seinem langsamen, schwingenden Gang (als ob er auf Wolken ginge) glich er einem Asketen, einem Denker, einem ewig Brütenden, niemals Zufriedenen, einem, der rastlos von einem inneren Feuer getrieben wurde - einem Feuer, das ihn im wahrsten Sinne des Wortes schließlich verzehrte.

   Das erste, was mir bei unserem Wiedersehen in Amerika auffiel, war der Umstand, daß er sich so wenig verändert hatte. Seine Haare waren weiß geworden, aber sein Antlitz, seine Augen, sein Körper schienen sich in all den Jahren, die ich ihn kannte, überhaupt nicht zu verändern. Er schien keiner Altersstufe anzugehören - er hatte niemals wirklich jung ausgesehen -, und selbst in den Jahren seiner Krankheit veränderte er sich äußerlich nur wenig.

   Er war nach Amerika als Flüchtling gekommen, unter den härtesten, schwierigsten und entmutigendsten Umständen. Er hatte ein Schicksal auf sich genommen, das er mit Tausenden teilte, und war doch wieder ganz allein. Wenn irgend jemand die Freiheit wählte, nur weil er ohne sie nicht leben konnte, so war es Béla Bartók.

   Weder er noch seine Frau waren Juden, und kein Rassegesetz hatte ihn gezwungen, die Emigration als den Weg der Sicherheit auf sich zu nehmen. Und es waren auch keine politischen Gründe, die ihn zwangen, die Heimat zu verlassen. Ein einziges "Heil" hätte genügt, ihm volle Sicherheit und Bequemlichkeit zu verschaffen. Er hatte ein gutes Einkommen als Professor des Königlichen Konservatoriums in Budapest, eine Pension für seine spätere Lebenszeit, seinen Garten, eine riesige Sammlung von Volksmusik aus vielen Ländern - aus Ungarn, Rumänien, Nordafrika und der Türkei -, die er aufgenommen und in Jahrzehnten wissenschaftlicher Arbeit in Notenschrift übertragen hatte. Er hatte seine Muttersprache, seine alten Freunde und die vertraute Umgebung der Heimat. Nichts zwang ihn dazu, dies alles zu verlassen und zweifelhaften Schutz in einem fremden Lande zu suchen: nichts als sein unbeugsames Herz, seine absolute Unfähigkeit, sich auf Kompromisse einzulassen und - selbst nur in Worten - Frieden mit den Mächten des Bösen zu schließen. Kompromisse waren für ihn undenkbar. Sie würden sein Innerstes zerstört haben.

   ... Als er mit seiner Frau und seinem Sohn sich auf die gefährliche Reise begab - eine Woche dauernde Reise durch Europa, bei der sie das Gepäck irgendwo in Spanien verloren und gerade noch rechtzeitig in Lissabon das Frachtschiff erreichten, das sie über den Ozean brachte -, da sah er einer ungewissen Zukunft entgegen: Armut, ein schwer erträgliches Klima, Trennung von seinem wissenschaftlichen Werk, eine Stadt, deren Lärm und aufgeregte Vibrationen Tag und Nacht auf seinem ausgemergelten Körper lasteten. Und er hatte sich auch mit einer streng nach dem Range geordneten Gesellschaft von Künstlern abzufinden, von denen jeder zu sehr auf die Förderung des eigenen Ruhmes und der eigenen Karriere bedacht war, um dem stillen, kleinen Mann viel Aufmerksamkeit zu schenken, der durch ein einziges unvorsichtiges Wort verletzt und durch ein Achselzucken für immer zurückgestoßen werden konnte.

   Aber niemals gab es für ihn in den Jahren des Exils irgendein Zweifeln oder Bedauern. Sein Entschluß war, wie immer, unabänderlich ... Auch seine Briefe waren, seit er in Amerika war, stets in Englisch abgefaßt, meisterlich stilisiert und ebenso konzentriert wie in früherer Zeit. Manchmal setzte er hinter ein Wort oder einen Satz in Klammer ein Fragezeichen, denn er fühlte auch in einer fremden Sprache, deren er sich erst kurze Zeit bediente, unfehlbar jede falsche oder fremdartige Wendung.

    Bartóks Briefe waren immer mit der Hand geschrieben, in einer kleinen, deutlichen Schrift, der man es ansah, daß jedes Wort langsam und überlegt hingesetzt war. Es schien, als ob jeder Gedanke im Kopfe vollständig ausgearbeitet war, ehe er zu Papier gebracht wurde, gerade so, als ob die Worte Musiknoten wären: das Ergebnis eines  intensiven Schaffensprozesses. In diesen Briefen gab es keine überflüssigen Phrasen. Wenn möglich benützte er Postkarten, die er bis an den Rand vollschrieb. Weder Raum noch Zeit wurden an bloße Höflichkeiten verschwendet, an Fragen nach dem Befinden oder an irgend etwas Persönliches, das nicht in Beziehung stand zum Thema der Botschaft. Als wir nach seinem Tode die Briefe durchsahen, um in ihnen etwas "menschlich interessantes" Material zu finden, für einen Mann, der eine Bartók-Biographie schreiben wollte, fanden wir fast nichts, das Licht auf seinen Charakter oder sein Leben werfen konnte.

   Die Worte füllten den Briefbogen von oben bis unten. Selbst der Rand wurde gewöhnlich für eine oder zwei Nachschriften verwendet. Wenn der Brief nicht das ganze Blatt ausfüllte, so wurde der leere Teil abgerissen und nur der ganz volle abgesandt. In seinem Zimmer wimmelte es immer von kleinen Papierstreifen und zerrissenen Drucksachen; jedes Fetzchen war mit Noten, Zeichnungen, Symbolen und einer besonderen musikalischen Stenographie, die nur er lesen konnte, bedeckt. Alle Notizen, Ausschnitte, Briefe, Bücher, Manuskripte und Noten waren in dem Zimmer verstreut und ergossen sich vom Klavier bis auf den Fußboden, auf Tische und Stühle - eine überwältigende Fülle. Scheinbar ziellos im Zimmer verstreut, legten sie in Wirklichkeit erregendes Zeugnis ab für einen Geist, der niemals rastete und oft gleichzeitig mit vielen Gedanken und Problemen beschäftigt war. Jede dieser Notizen war ihm stets gegenwärtig und konnte von ihm sofort aufgegriffen werden, sobald er sie benötigte.

   New York war ein mächtiger, unbesiegbarer Feind. Der Verkehr erschreckte ihn zutiefst. Niemals überschritt er die Straße, wenn ein Lichtsignal es verbot, und selbst wenn das grüne Licht es erlaubte, war er beim Überqueren ängstlich und verstört und eilte mit kurzen, hastigen Schritten hinüber, wie ein Tier, das seinen schützenden Wald verlassen hat und nun mit weitaufgerissenen Augen in der unsicheren tobenden Großstadt umherirrt. Das Klima - die New Yorker Hitze ebenso wie die New Yorker Kälte - bedrückte ihn ständig. Geräusche, und insbesondere Musik, die in seine Einsamkeit drangen, verursachten ihm körperliche Leiden. Die Nachbarschaft eines Radioapparates bedeutete qualvolle Unterbrechung seiner schöpferischen Arbeit....

 

 

Konzerttätigkeit und wissenschaftliche Arbeit
  In der ersten Zeit seines Aufenthaltes in Amerika erschien Bartók als Solist nur in einigen wenigen Symphoniekonzerten. Die Konzerte, die er gemeinsam mit seiner Frau gab, waren nicht sehr erfolgreich. Die von ihm zusammengestellten Programme spiegelten neuerlich seinen allen Kompromissen abholden Geist wider. Nicht sehr viele Konzertunternehmer waren gewillt, auf andere, brillanter auftretende Pianistenpaare zu verzichten, zugunsten der herben Erscheinung des Ehepaars Bartók. Die Tatsache, daß die beiden niemals auswendig spielten, war für sie eine weitere Schwierigkeit. Wenn sie in Begleitung von zwei Blattumwendern aufs Podium kamen, so sah dies recht altmodisch aus oder wurde gar als Mangel an Vorbereitung oder als Unhöflichkeit ausgelegt, von einem Publikum, das bei konzertierenden Virtuosen viel mehr äußerliche Brillanz erwartete.

   Und Béla Bartóks Verbeugungen mußten jeden Konzertmanager mit Entsetzen erfüllen: er verneigte sich zu Beginn und am Ende ernst, professorenhaft, ohne jedes Lächeln, manchmal sogar eisig - wenn auch mit großer, ergreifender Würde. Es fehlte aber auch alles, was das Publikum von einem konzertierenden Künstler zu erwarten pflegt. Selbst wenn es jemand gewagt hätte, ihm nahezulegen, den Aufbau und die Art der Darbietung seiner Programme mehr dem Geschmack des Publikums anzupassen, so hätte dies an seiner Haltung natürlich nichts ändern können. Seine Hoffung, durch Konzertieren den Lebensunterhalt verdienen zu können, wurde daher bitter enttäuscht. Als dann seine Krankheit vorschritt, mußten wir auch die wenigen Konzerte und Vorlesungen absagen, für die wir ihm Engagements verschafft hatten.

   Das Leben war hart. Angebote, als Kompositionslehrer zu wirken, die ihm von mehreren Instituten zukamen, lehnte er unweigerlich ab. Er war entschlossen, niemals Kompositionsunterricht zu geben - das einzige, was alle von ihm verlangten. Er schien das Gefühl zu haben, daß er in dem einzigen Gebiete, in dem er ein großer, unbestrittener Meister war, nichts zu lehren haben, andern nichts geben könne! Er war bereit, Klavierunterricht zu erteilen; doch fanden sich nur wenige Privatschüler, die kurze Zeit mit ihm arbeiteten. Er übernahm aber einige wissenschaftliche Forschungsaufträge. Einer davon, der ihm von der Columbia University erteilt wurde, beschäftigte ihn zwei Jahre und verschaffte ihm ein kleines, regelmäßiges Einkommen.

   In dieser Zeit hatte ihm die Universität in einem ihrer Häuser in der 117. Straße ein kleines Studio eingeräumt. Dort verbrachte er täglich mehrere Stunden und übertrug eine große Anzahl Grammophonaufnahmen, die in verschiedenen Ländern Europas gemacht worden und Eigentum der Universität waren, in die Notenschrift: Volkslieder, Tänze, Gesänge der Hirten und Bauern aus Süd- und Südosteuropa, die alle im Rhythmus und in der Intonation sehr schwierig waren und nur von einem sehr geübten und unendlich geduldigen Geist und einem höchst empfindlichen Gehör entziffert werden konnten. Diese Übertragungen, eine einzigartige Mischung von wissenschaftlicher Genauigkeit und schöpferischer Genialität, standen seinem Herzen ebenso nahe wie seine eigenen Werke. Mit unendlicher, rastloser Sorgfalt hört er Tausende von Aufnahmen ab und schrieb die Melodien mit allen ihren Varianten und Biegungen nieder, wobei er sich einer von ihm erfundenen Notationsmethode bediente. ausführliche Fußnoten und sorgfältige Worterklärungen, genau in jeder Einzelheit, begleiteten die meisten seiner Übertragungen.

   Und dies war der gleiche Geist, der in seinen eigenen Werken frei durch die Räume der Phantasie schweifte, das Unmögliche wagte und mit feurigen Zungen redete - und der dann wieder in das, genaue Kleinarbeit erfordernde, Reich der Wissenschaft zurückkehrte.

   Der Auftrag der Columbia-Universität war, trotz seiner Begrenzung, für Bartók eine große Hilfe. Er gab dem Komponisten ein Minimum an Sicherheit, und ein regelmäßiges Einkommen war, bei Bartóks methodischem Geist, die einzige Möglichkeit für ihn, sein Leben zu fristen. Viele der Komponisten, die ich im Laufe der Zeit kennenlernte, lebten unter der Voraussetzung, daß jedermann - Verleger, Agenten, Operndirektoren, Symphonieorchester, Grammophonfirmen und ihre eigenen Erben - nach ihrem eigenen Tode aus ihren Werken Berge von Geld scheffeln würden. Daher entschlossen sie sich - nicht ohne eine gewissse Berechtigung -, solange sie noch lebten, selbst so viel Geld, als sie nur konnten herauszuschlagen. Sie sahen keinen Grund, ihre Ausgaben mit ihren wirklichen Einnahmen in Übereinstimmung zu bringen; sie fühlten sich vollkommen dazu berechtigt, auf ihren zukünftigen Ruhm hin Schulden zu machen.

   Für Bartók war eine solche imaginäre Buchhaltung undenkbar. Wenn wir ihn endlich einmal dazu überredet hatten, einen Vorschuß auf seine Tantiemen anzunehmen, so bestand er darauf, daß der ganze Betrag am Ende des Jahres ihm wieder abgezogen werde. - Sein jüngerer Sohn war kurz nach der Ankunft der Familie in die amerikanische Marine eingetreten. Er war froh, daß seine Entlöhnung regeImäßig seinem Vater zugesandt wurde; er selbst brauchte sie nicht und war glücklich, helfen zu können. Aber als er nach Hause kam, übergab ihm der Vater ein Bankbuch. Darin fand er jeden Cent, den er all die Jahre dem Vater gesandt hatte. «Das Geld hat dir gehört und nicht mir!» sagte der Vater. Bela Bartóks Ansichten in Geldfragen waren niemals die eines Künstlers, es waren die eines Puritaners, und das konnte einen manchmal zur Verzweiflung bringen.

   Bei einem früheren Besuch in den Vereinigten Staaten hatte eine kleinere New Yorker Grammophonfirma ein paar Aufnahmen von ihm als Interpret eigener Klavierwerke gemacht. Der Besitzer dieser Firma, ein Amerikaner ungarischer Abkunft, war ein großer Bewunderer Bartóks. Eines Tages telephonierte er mir, er wolle zu mir kommen, um etwas Wichtiges mit mir zu besprechen. Er schlug mir dann etwas Erstaunliches vor. Er wußte, daß nicht daran zu denken war, Bartók einen
Geldbetrag anzubieten, den er nicht verdient hatte. Er hatte sich daher den Trick ausgedacht, die Abrechnung zu fälschen, die er dem Komponisten zu senden hatte: anstatt der paar hundert Platten, die er wirklich verkauft hatte, würde er einen Verkauf von zehntausendachthundertsiebenundneunzig ausweisen. Die Tantiemen würden für diese Menge ausbezahlt werden. - Die Abrechnung mußte, wie üblich, durch uns, als die Verleger, gesandt werden; schon die geringste Abweichung wäre Bartók verdächtig vorgekommen. Unser Buchhalter wurde in die Verschwörung eingeweiht. Es wurden die nötigen Eintragungen gemacht, die das Verbrechen rechtfertigten, und Abrechnung und Check gingen an den Komponisten.

   Als ich Bartók einige Tage nachher traf, fragte er mich sogleich, ob ich die Abrechnung gesehen hätte. Er war sehr vergnügt, vor Freude ganz aufgeregt. Ich fühlte mich nicht ganz wohl; denn wenn es auch eine Verschwörung war, auf die man stolz sein konnte, so erschien einem ein solches Manöver einem Bartók gegenüber fast als ein Verbrechen.

    Wenige Tage später rief er mich ans Telephon: «Ich verlange, daß Sie gegen die Columbia-Grammophon-Gesellschaft vorgehen! », sagte er. In einer plötzlichen Vorahnung des Kommenden fühlte ich, wie mein Bürostuhl langsam in die Erde versank. - Er berichtete mir, daß er soeben eine zweite Abrechnung über Schallplatten erhalten hätte; diesmal von der Columbia-Grammophon-Gesellschaft. Und diese rechneten 349 Platten als verkauft ab. -«Das ist ganz unmöglich! » sagte Bartók ruhig aber mit finsterer Entschlossenheit, « jene kleine Firma verkauft 10897 Platten, und in der gleichen Zeit verkauft ein so großes Unternehmen wie die Columbia nur ein paar hundert. Ich fordere Sie auf, sogleich eine Untersuchung einzuleiten! »

   Irgendwie kam ich dann doch aus dem Gewebe von Lügen wieder heraus, in das mich Bartóks Gönner in der besten Absicht verstrickt hatte; es waren aber eine Menge nervenaufreibende Erklärungen nötig und eine zeitlang hatte ich das Gefühl, daß Bartók mich im Verdacht hatte, mit im Komplott zu sein: nicht mit dem wirklichen Schuldigen, sondern mit der unschuldigen Verrechnungsabteilung der Columbia. Schließlich wurde der Fall beiseite geschoben - ich möchte nicht sagen vergessen; denn Bartók vergaß nie irgend etwas -, weil es Wichtigeres zu behandeln gab: die sonderbaren Umstände, unter denen sich die Schöpfung von Bartóks letztem großen Werk, dem "Konzert für Orchester", vollzog.

 

Ein geheimnisvoller Besuch
    Im Frühjahr 1943 hatte sich die Krankheit, die ihn schon seit einiger Zeit quälte, entschieden verschlimmert. Er hatte jeden Tag zu einer bestimmten Zeit Fieber. Er beobachtete die Symptome mit sichtlicher Besorgnis. Er wurde schwächer, reizbarer, noch schwerer zugänglich. Er mußte Vorlesungen absagen und gab uns den Auftrag, ihm keine Konzertengagements zu verschaffen, er sei sicher, daß er nicht mehr öffentlich auftreten könne. Er lehnte auch einen ihm angebotenen Forschungsauftrag ab, obwohl die betreffende Universität ihm erklärte, er könne das Honorar jederzeit beziehen und mit der Arbeit beginnen, wann er wolle, auch wenn es erst in viel späterer Zeit sei. Sein Verantwortungsbewußtsein war aber so stark, daß er sich weigerte, den Vertrag abzuschließen, solange er nicht absolut sicher wußte, daß er seine Verpflichtung erfüllen könne. Es war wirklich manchmal schwer, mit einem Menschen zu tun zu haben, der so hartnäckig an seinen engelhaften Grundsätzen festhielt.

   Schließlich konnte er nicht länger in der armseligen Wohnung in der 57. Straße unweit der achten Avenue bleiben, die er zuletzt bewohnte. Er wurde in eines der besten Spitäler New Yorks gebracht. Eine Zeitlang schon hatte ihm die ASCAP (American Society of Composers, Authors and Publishers) auf ihre Kosten die besten Spezialärzte gesandt. Zu ihrer ewigen Ehre sei es gesagt, daß sie jetzt auch für die Spitalkosten aufkam, obwohl Bartók eigentlich nicht ihr als Mitglied angehörte, sondern der British Performing Right Society in London.

    So ernst schon sein körperlicher Zustand war, so wurde er noch verschärft durch die Gefühle der Bitterkeit und Vereinsamung, die in ihm anwuchsen. Er sah sich als ein vernachlässigter Fremdling, abseits vom Hauptstrom des amerikanischen Musiklebens. Manchmal erinnerte er sich mit Bitterkeit an seine große europäische Vergangenheit. Die wenigen Solisten und Dirigenten, die seine Musik in Amerika aufführten, waren zum größten Teil alte Bekannte, die meisten frühere Ungarn. Nur wenige der großen Stars interessierten sich für seine Musik, und als Yehudi Menuhin sein Violinkonzert spielte, war Bartók über die unerwartete Aufmerksamkeit seitens eines großen Künstlers so gerührt, daß er für Menuhin eine neue Violinsonate komponierte.

   Aber all das war jetzt vergessen, und der Komponist lag krank, arm, in erzwungener Untätigkeit dumpf brütend in einem Spitalzimmer. Wir hatten nur wenig, um ihn aufzumuntern. Kleine Dinge zählten nicht, und von großen war nichts zu berichten.

   Da ereignete sich im Sommer 1943 im "Doctors Hospital" in New York etwas so Sonderbares und Geheimnisvolles, daß man an ein ähnliches Ereignis erinnert wurde, das sich einhundertzweiundfünfzig Jahre früher ebenfalls in einem Krankenzimmer abgespielt hatte: das plötzliche Erscheinen eines "geheimnisvollen Fremden", der gekommen war, um beim sterbenden Mozart ein "Requiem" zu bestellen. Diesmal, im modernen New York, war der Bote kein "geheimnisvoller Fremder"; er war ein eleganter, gut gekleideter Mann mit sehr aristokratischen Manieren. Er hieß Serge Koussewitzky.

   Der Besuch war für den kranken Komponisten eine ganz unerwartete Überraschung. Koussewitzky war einer der Dirigenten, die noch nie ein größeres Werk von Bartók aufgeführt hatten. Ich glaube, die beiden Männer waren einander nie zuvor begegnet. Koussewitzky war gewiß der letzte, den Bartók, verbittert, krank, und im Glauben, vom Publikum und von den im amerikanischen Musikleben führenden Männern vernachlässigt zu sein, jemals bei sich zu sehen erwartet hatte.

   Der Dirigent war allein. Er nahm einen Stuhl, rückte ihn nahe an das Bett und begann sein Kommen zu erklären. Er bot Bartók einen Auftrag von der Koussewitzky-Stiftung an - einen Auftrag, mit dem ein Honorar von tausend Dollars und die Garantie einer Erstaufführung durch das Boston Symphony Orchestra verbunden war. Es stand dem Komponisten völlig frei, zu schreiben, was er wollte. Die einzige Bedingung war: das Werk mußte dem Gedächtnis von Frau Natalie Koussewitzky gewidmet werden, der Frau des Dirigenten, die einige Jahre zuvor gestorben und zu deren Gedächtnis die «"Koussewitzky - Stiftung" gegründet worden war. Es war also doch ein Auftrag für ein "Requiem"!

   Koussewitzky erzählte mir später selbst die Einzelheiten des Gesprächs und schien noch in der Erinnerung daran aufrichtig gerührt. Bartok, dem zweifellos das persönliche Erscheinen des Dirigenten, der eine Botschaft auch durch einen Schüler oder einen Brief hätte senden können, einen tiefen Eindruck machte, lehnte den Auftrag ab. Er wollte kein Geld annehmen für ein Werk, das er vielleicht niemals mehr komponieren könnte.

   Der Dirigent war auf diesen Einwand vorbereitet. Bevor die Stiftung Bartók den Auftrag erteilte, waren die Mitglieder ihres Direktoriums von Freunden des Komponisten ( unter ihnen Fritz Reiner und ]oseph Szigeti) gebeten worden, sich für Bartók zu entscheiden. Sie hatten die schwierigen Umstände geschildert und die Unmöglichkeit, dem stolzen Manne mit irgend etwas zu Hilfe zu kommen, was wie bloße Barmherzigkeit aussähe. Es mußte ein wirklicher Auftrag sein, selbst wenn, angesichts Bartóks schlechtem Gesundheitszustand, nichts dabei herauskäme. Koussewitzky erklärte dem zögernden Komponisten, daß er an die Entscheidung des Direktoriums gebunden sei. Ein Auftrag, der einmal beschlossen sei, könne nicht mehr zurückgezogen werden. Das Geld werde er erhalten, ohne Rücksicht darauf, ob er das Stück schreiben wolle oder nicht. Dies waren die Bedingungen des Stiftungsvertrages. Er habe bereits im Auftrag des Direktoriums einen Check
von fünfhundert Dollars bei sich, den er bei Bartók zurücklassen müsse, zugleich mit einem offiziellen Schreiben, in dem die Auftragsbedingungen enthalten seien.

    Bartók erwiderte nichts. Er begann plötzlich von anderen Dingen zu erzählen. Er bat den Dirigenten geradezu dringend, noch zu bleiben. Die beiden Männer sprachen lange zusammen, zumeist Bartók, als ob er auf eine Gelegenheit gewartet hätte, über alles, was ihn so tief bedrückte, zu reden. Er sprach über sehr viele Dinge und schien plötzlich von einem neuen, wahrhaft rührenden Lebensgefühl erfüllt zu sein. Es war fast eine Stunde verflossen, als die Krankenschwester eintrat, und der Dirigent Abschied nehmen mußte. Die erfahrenen Spezialärzte, die Bartók während der Krankheit, der er zwei Jahre später erlag, behandelten, werden zweifellos logischere Erklärungen für die unglaubliche Besserung beibringen können, die fast unmittelbar nach Koussewitzkys Besuch in Bartóks Befinden einsetzte. Wir wissen nur, daß sie seinen Zustand bald so gut fanden, daß er aus dem Spital entlassen werden konnte. Er ging weg von New York, nach Asheville in North Carolina. Dort fand er in einem Vorort eine ruhige Wohnung, in der weder Verkehrslichter noch Radioapparate die absolute Konzentration störten, nach der er strebte. Endlich roch er wieder frische Luft, sah den Himmel und fühlte die Erde. An Stelle der Wolkenkratzer, Untergrundbahnen und Zeitungsstände sah er nun Blumen und Bäume. Und das ständige Dröhnen der Autohupen und Polizeisirenen wurde nun aus seinem Gedächtnis verdrängt durch den Gesang der Vögel, deren Rufen und Zirpen im zweiten Satz von Bartóks Drittem Klavierkonzert erlauscht werden kann, eines Werkes, das er in Asheville skizzierte und im Sommer 1945 bis auf siebzehn Takte vollendete, in einem wilden Wettrennen mit dem Tod. Auf den letzten Seiten, die er schrieb, setzte der Ungar, der Europäer, der große Weltbürger, den Vögeln von North Carolina ein kleines, liebliches Denkmal ...

   Er war wieder glücklich. "Bitte senden Sie mir keine Expreßbriefe oder Telegramme!" schrieb er mir einige Tage nach seiner Ankunft in Asheville. "Hier wird die Post nur einmal im Tage ausgetragen - Briefe, Zeitungen, Expreßsendungen, Telegramme - ich erhalte alles zugleich. Hier spielt die Zeit keine Rolle." - Er hatte kein Klavier. Eine Zeitlang war es in seinem Zimmer sehr kalt. Er unternahm weite Spaziergänge, immer allein. Er hatte niemanden, mit dem er sich unterhalten konnte. Nur bei einer Familie war er manchmal zum Essen; dort übte er auch ab und zu Klavier. Er bat uns, den Leuten als Zeichen seiner Dankbarkeit ein paar seiner Klavierwerke zu senden.

   Seine Briefe wichen in sehr merkwürdiger Weise von der Nüchternheit ab, die wir sonst an ihnen gewöhnt waren; sie atmeten beinahe eine gehobene Stimmung aus. Er pflegte kurze Berichte über seinen Gesundheitszustand beizulegen, mit Zeichnungen der Temperaturkurven, die er mit ironischen aber keineswegs pessimistischen Bemerkungen begleitete. Weit wichtiger war, daß er um Notenpapier bat - um gewaltige Mengen. Dann schrieb er plötzlich, er hätte den größten Teil eines neuen Werkes vollendet, das er für Serge Koussewitzky komponierte. Er sandte uns die Partitur zum Kopieren. Dann kam ein zweites und schließlich ein drittes Paket. Es war das "Konzert für Orchester".

    Er kam nicht rechtzeitig aus Asheville zurück, um noch im Dezember 1944 bei der mit stürmischem Beifall begrüßten Uraufführung in Boston zugegen sein zu können. Aber er konnte den unmittelbaren Erfolg des neuen Werkes beobachten, seine Aufnahme als eines der großen Meisterwerke unserer Zeit. Er wußte, daß er diesmal die Herzen seiner Zuhörer getroffen hatte, und als das Werk in New York gespielt wurde, konnte er dabei sein und viele seiner vornehmen, schrecklich ernsthaften und zutiefst ergreifenden Verbeugungen machen.

   Als ich, wenige Monate später. ihn wiedersah, war er zur letzten Ruhe eingegangen. Der kleine Trauerraum in der Lexington Avenue in Manhattan war erfüllt von einer schweigenden, innerlich tief bewegten Menge. Unter ihnen gab es keine offiziellen Vertreter von Organisationen und keine Menschen, die ehrenhalber die Zipfel des Bahrtuches halten wollten; niemand war gekommen, um bloß in die Präsenzliste aufgenommen zu werden. Ich glaube nicht, daß es überhaupt eine Präsenzliste gab. Es waren keine Zeitungsberichterstatter erschienen, und keine Aufnahmen wurden gemacht, als die Trauernden in ohnmächtigem Schweigen den Saal verließen.

   Aber viele waren da, die ihn nicht gekannt hatten und die plötzlich gefühlt hatten, sie müßten kommen und ihm ihre Ehrfurcht erweisen. An diesem Tage war er mit einem Schlage ein großer Mann geworden. Als ich ihn, kurz bevor man den Sarg schloß, zum letzten Mal sah, fühlte ich wieder, stärker als jemals zuvor, daß dieses schmale Gesicht, so schön und groß im Frieden des Todes und dennoch gezeichnet vom Leiden und vom Widerschein eines nie endenden Kampfes, nicht nur das unvergeßbare Antlitz eines großen Musikers war. Es war das Antlitz eines großen Menschen, für uns ein leuchtendes Beispiel von Tapferkeit, Glauben und eines unbezwinglichen Geistes, der noch lange fortleben wird, lang, lang, nachdem das Gehäuse, das ihn trug, für immer zu Staub geworden ist.

Hans W. Heinsheimer

Aus dem sechsten Kapitel des Buches von H. W. Heinsheimer "Menagerie in Fis-Dur", Pan-Verlag, Zürich 1953. Aus dem Englischen übersetzt von Willi Reich.

 

 

Selbstbiographie

von Béla Bartók

(geschrieben 1921)

    Geboren am 25. März 1881 in Nagyszentmiklós (einem Orte im Torontáler Komitat in Ungarn, welches derzeit von Jugoslawien annektiert ist), erhielt ich im sechsten Lebensjahr den ersten Klavierunterricht von meiner Mutter. Mein Vater, Direkktor einer landwirtschaftlichen Schule, zeigte ziemlich hohe musikalische Anlagen; er spielte Klavier, organisierte ein Dilettantenorchester, lernte Cello, um darin als Cellist mitwirken zu können, und versuchte sich sogar in der Komposition von Tanzstücken. Ich verlor ihn in meinem achten Lebensjahre. Nach seinem Tode mußte meine Mutter als Volksschullehrerin für das tägliche Brot sorgen: wir kamen nach Nagyszöllös (derzeit von der Tschechoslowakei annektiert), dann nach Bistritz (in Siebenbürgen; derzeit von Rumänien annektiert) und schließlich im Jahre 1893 nach Preßburg (derzeit von der Tschechoslowakei annektiert). Da ich schon als neunjähriger Knabe kleine Klavierstücke zu komponieren begann und im Jahre 1891 in Nagyszöllös als "Komponist" und "Klavierspieler" sogar öffentlich debütierte, schien es für uns besonders wichtig, endlich in eine größere Stadt ziehen zu können. Preßburg hatte zu jener Zeit unter den Provinzstädten Ungarns jedenfalls das regste Musikleben, so daß es mir möglich wurde, einerseits bei Laszló Erkel (Sohn unseres bekannten Opernkomponisten Franz Erkel) bis zu meinem 15. Lebensjahr Unterricht in Klavier und Harmonielehre zu genießen, anderseits manchen - allerdings weniger guten - Orchesterkonzerten und Opernvorstellungen beizuwohnen. Auch an Gelegenheit zur Ausübung von Kammermusik fehlte es nicht, und so lernte ich bis zu meinem 18. Jahre die Musikliteratur von Bach bis Brahms - Wagner jedoch nur bis zum "Tannhäuser" - verhältnismäßig genügend kennen. Inzwischen komponierte ich fleißig unter starkem Einflusse von Brahms und den Jugendwerken des um vier Jahre älteren Dohnànyi, namentlich seines Opus 1.

   Nachdem ich das Gymnasium absolviert hatte, drängte sich die große Frage auf, welche Musikschule ich besuchen sollte. Damals galt das Wiener Konservatorium allgemein als einzige Stätte gediegenen Musikstudiums. Trotzdem folgte ich dem Rate Dohnánys und kam nach Budapest, wo ich in der königlich ungarischen Musikakademie Schüler Prof. Stephan Thománs (Klavier) und Hans Koeßlers (Komposition) wurde. Hier blieb ich von 1899 bis 1903. Gleich nach meiner Ankunft warf ich mich mit großem Eifer auf das Studium der mir noch unbekannten Werke Richard Wagners (Tetralogie, Tristan, Meistersinger) sowie der Orchesterwerke Liszts. Mein eigenes Schaffen jedoch lang in dieser Periode völlig brach. Nunmehr losgelöst vom Brahmsschen Stile, konnte ich auch über Wagner und Liszt den ersehnten neuen Weg nicht finden. (Liszts Bedeutung für die Weiterentwicklung der Tonkunst erfaßte ich damals noch nicht; ich sah in seinem Wirken nur die Äußerlichkeiten.) Infolgedessen arbeitete ich etwa zwei Jahre hindurch beinahe gar nichts und galt eigentlich in der Musikakademie nur als brillanter Klavierspieler.

 
 Aus dieser Stagnation riß mich wie ein Blitzschlag die erste Aufführung von "Also sprach Zarathustra" in Budapest (1902); das von den meisten dortigen Musikern mit Entsetzen angehörte Werk erfüllte mich mit dem größten Enthusiasmus: endlich entdeckte ich eine Richtung, die Neues barg. Ich stürzte mich auf das Studium der Strauss'schen Partituren und begann wieder zu komponieren. Noch ein anderer Umstand war von entscheidender Bedeutung für meine Entwicklung: Zu jener Zeit entstand in Ungarn jene bekannte chauvinistische politische Strömung, welche sich auch auf künstlerischen Gebiete fühlbar machte. Es galt, in der Musik etwas spezifisch Ungarisches zu schaffen. Diese Gedankenrichtung erfaßte auch mich und lenkte meine Aufmerksamkeit auf das Studium unserer Volksmusik, das heißt dessen, was man damals für ungarische Volksmusik hielt.

   Unter diesen Einflüssen komponierte ich im Jahre 1903 eine symphonische Dichtung, betitelt "Kossuth", welche Hans Richter sofort zur Aufführung in Manchester annahm (Februar 1904). In dieser Zeit entstand ferner auch eine Violinsonate und ein Klavierquintett, erstere durch Rudolf Fitzner in Wien, letztere durch das Prill-Quartett uraufgeführt. Diese drei Werke blieben unveröffentlicht. Dieser Epoche gehören noch an: die im Jahre 1904 komponierte "Rhapsodie für Klavier und Orchester op. 1, mit welcher ich mich im Jahre 1905 in Paris ohne Erfolg um den Rubinstein-Preis bewarb; ferner die I. Suite für großes Orchester aus dem Jahre 1905.

  
Indessen währte es nicht lange, daß mich Richard Strauss faszinierte. Das erneute Studium von Liszt - namentlich in seinen weniger populären Schöpfungen, wie zum Beispiel in den "Annéés de Pèlerinage", "Harmonies poétiques et religieuses", in der "Faustsymphonie", im "Totentanz" usw. - führte mich über manche mir weniger sympathische Äußerlichkeiten zum Kern der Sache: es erschloß sich mir die wahre Bedeutung dieses Künstlers; ich empfand bei ihm viel größeren Genius als bei Wagner und Strauss.

   Ferner erkannte ich, daß die irrtümlicherweise als Volkslieder bekannten ungarischen Weisen - die in Wirklichkeit mehr oder minder triviale volkstümliche Kunstlieder sind - wenig Interesse bieten, so daß ich mich im Jahre 1905 der Erforschung der bis dahin schlechtweg unbekannten ungarischen Bauernmusik zuwandte. Hierbei fand ich zu meinem großen Glücke einen ausgezeichneten Musiker als Mitarbeiter, Zoltán Kodály, der mir mit Scharfsinn und Urteilskraft auf jedem Gebiete der Musik manchen unschätzbaren Wink und Ratschlag erteilte.

   Diese Forschung begann ich vom rein musikalischen Standpunkt ausgehend, und zwar nur auf magyarischem Sprachgebiete; später jedoch gesellte sich die nicht minder wichtige wissenschaftliche Behandlung des Materials dazu sowie die Erstreckung der Forschung auf die Sprachgebiete der Slowaken und Rumänen.

  
Das Studium all dieser Bauernmusik war deshalb von entscheidender Bedeutung für mich, weil sie mich auf die Möglichkeit einer vollständigen Emanzipation von der Alleinherrschaft des bisherigen Dur- und Moll-Systems brachte. Denn der weitaus überwiegende und gerade wertvollere Teil des gewonnenen Melodienschatzes ist in den alten Kirchen-Tonarten, respektive in altgriechischen und gewissen noch primitiveren (namentlich pentatonischen) Tonarten gehalten und zeigt außerdem mannigfaltigste und freieste rhythmische Gebilde und Taktwechsel sowohl im Rubato- als auch im Tempo-giusto-Vortrag. Es erwies sich, daß die alten, in unserer Kunstmusik nicht mehr gebrauchten Tonleitern ihre Lebensfähigkeit durchaus nicht verloren haben. Die Anwendung derselben ermöglichte auch neuartige harmonische Kombinationen. Diese Behandlung der diatonischen Tonreihe führte zur Befreiung von der erstarrten Dur-Moll-Skala und, als letzter Konsequenz, zur vollkommen freien Verfügung über jeden einzelnen Ton unseres chromatischen Zwölftonsystems.

   Meine im Jahre 1907 erfolgte Ernennung zum Professor für Klavier an der königlich ungarischen Musikakademie in Budapest war mir deshalb willkommen, weil sie mir die Niederlassung in Ungarn ermöglichte, und ich so meine folkloristischen Ziele weiterhin verfolgen konnte. Als ich noch im selben Jahre auf Anregung Kodálys die Werke Debussys kennen lernte und studierte, nahm ich mit Erstaunen wahr, daß auch in dessen Melodik gewisse, unserer Volksmusik ganz analoge pentatonische Wendungen eine große Rolle spielen. Zweifellos sind dieselben ebenfalls dem Einfluß einer osteuropäischen Volksmusik - wahrscheinlich der russischen - zuzuschreiben. Gleiche Bestrebungen findet man in den Werken Igor Strawinskys; unsere Zeit weist also in den voneinander entferntesten geographischen Gebieten dieselbe Strömung auf: die Kunstmusik mit Elementen einer frischen, durch das Schaffen der letzten Jahrhunderte nicht beeinflußten Bauernmusik zu beleben.

  
Meine von Opus 4 an geschriebenen Werke, welche die eben geschilderte Anschauung auszudrücken beabsichtigen, erweckten in Budapest selbstverständlich großen Widerspruch. Grund des Nichtverstehens war unter anderem auch, daß unsere neuen Orchesterwerke fast durchwegs nur in ziemlich unvollkommener Weise zur Aufführung gelangten; denn es war weder ein verständnisvoller Dirigent, noch ein geeignetes Konzertorchester vorhanden. Als sich der Kampf besonders zuspitzte, versuchten 1911 einige junge Musiker, in deren Reihen auch Kodály und ich uns befanden, eine "Neue Ungarische Musikgesellschaft" zu gründen. Der eigentliche Zweck dieser Unternehmung war die Organisation eines selbständigen Konzertorchesters, welches sowohl ältere als auch neuere und neueste Musik in anständiger Weise aufführen sollte. Alle Anstrengungen, dieses Ziel zu erreichen, blieben indessen fruchtlos. Diesen und verschiedenen anderen mißglückten persönlichren Versuchen zufolge, zog ich mich etwa im Jahre 1912 vom öffentlichen Musikleben gänzlich zurück, wandte mich aber umso eifriger den Musik-Folklore-Studien zu. Ich hegte manche für unsere Verhältnisse ziemlich kühne Reisepläne, von welchen ich im Jahre 1913 einen, als bescheidenen Anfang, auch verwirklichen konnte: ich reiste nach Biskra und Umgebung, um die dortige arabische Bauernmusik zu studieren. Der Ausbruch des Krieges berührte mich - abgesehen von allgemein menschlichen Gründen - schon deshalb so schmerzlich, weil er fast alle derartigen Forschungen unterbrach; es blieben mir für meine Studien nur mehr gewisse Gebiete Ungarns übrig, wo ich denn auch noch bis 1918 in etwas beschränkterem Maße weiterarbeiten konnte.

  
Das Jahr 1917 brachte einen entscheidenden Umschwung in der Haltung des Budapester Publikums gegenüber meinen Werken: ich hatte das Glück, ein größeres Werk, das Tanzspiel "Der holzgeschnitzte Prinz" durch die Fürsorge des Kappellmeisters Egisto Tango endlich musikalisch tadellos aufgeführt zu hören. Im Jahre 1918 brachte er mein älteres Bühnenwerk, den 1911 geschriebenen Einakter "Die Burg des Herzogs Blaubart", zur Uraufführung.

Leider folgte dieser günstigen Wendung der politische und wirtschaftliche Zusammenbruch im Herbst 1918. Die damit verbundenen, etwa anderthalb Jahre währenden Wirren waren durchaus nicht dazu geeignet, irgendwelche ernstere Arbeiten ruhig vollbringen zu können.

Auch die heutige Lage läßt nicht einmal den Gedanken an eine Möglichkeit musikfolkloristischer Arbeiten zu. Aus eigenen Kräften können wir uns diesen "Luxus" nunmehr nicht leisten; außerdem ist die wissenschaftliche Erforschung der vom ehemaligen Ungarn losgelösten Teile aus politischen Gründen und wegen der wechselseitigen Feindseligkeit unmöglich. Entlegenere Länder zu bereisen aber ist unerreichbar ...

Übrigens findet sich nirgends in der Welt wahres Interesse für diesen Zweig der Musikwissenschaft - möglicherweise hat er auch gar nicht die Wichtigkeit, die ihm von einigen seiner Fanatiker beigemessen wird!

Aus: "Musikblätter des Anbruch", Wien, 3. Jahrgang, Nr. 5, Erstes März-Heft 1921.

 

 

Paul Hindemith und Béla Bartók auf Forschungsreise in Ägypten

 

Musikalisches Volksgut

bei Béla Bartók

 
von Peter Mieg


   
Ich erinnere mich jener denkwürdigen Hauptprobe im stilvollen Kleinen Konzertsaal des seither geschleiften alten Stadtcasinos in Basel: die Uraufführung eines von Paul Sacher aufgetragenen Werkes stand bevor, jener "Musik für Saiteninstrumente, Celesta und Schlagzeug", von Béla Bartók, die seit der Basler Wiedergabe den Weg durch die ganze Welt als eines der Meisterwerke der Moderne angetreten hat. Es war im Jahre 1937; der Komponist war aus Budapest erschienen zu zweitletzter und letzter Probe: klein, schmal, behende, ein scheuer, in sich gekehrter Mensch, ohne alle äußeren Prätentionen, dafür umso anspruchsvoller gegenüber der Wiedergabe, und mit einem außerordentlich feinen, durch den Geist modellierten Kopf, saß er auf einem der harten, asketisch baslerischen Stühlchen inmitten der leeren Reihen und verfolgte gesammelt die Probenarbeit. Eine harte Arbeit, denn rhythmisch wie klanglich gab er den Spielern Ungewohntes auf bei diesem in seiner Eigenart und Konsequenz vom ersten Takt an faszinierenden, ja hinreißenden Werk.

   Hin und wieder ging er zum Dirigenten, besprach mit ihm, fast flüsternd, gewisse Stellen; doch hatte er sich auch dem Orchester zuzuwenden: es galt, gewisse der ungarischen Volksmusik entstammende Techniken den Streichern zu erläutern, beispielsweise die Wirkung der heftig mit dem Finger angerissenen Saite, die aufs Griffbrett zurückschlägt und ein bizarres, fast peitschenhiebartiges Geräusch auslöst. Beim Finale, das mit vollen, erst langsam, dann immer schneller gezupften A-Dur-Klängen beginnt, wandte er sich an die Primgeigerin, entlieh ihr Instrument und zeigte nun, wie dieser reizvolle, den Zigeunern eigene Effekt durch den Bewegungswechsel der das Pizzicato ausführenden Hand zu erreichen sei. Mit der Genauigkeit eines folkloristischen Professors demonstrierte er den Fall, und doch kam gleichzeitig seine musikantische Ursprünglichkeit zum Ausdruck.

   Das war Bartóks ganzes Wesen: vitales Temperament war bei ihm mit wissenschaftlichem Eifer und auf das Formale gerichteter geistiger Zucht auf ideale Weise vereint, und eine schöpferische Leistung von unerhörter Intensität, auch von erstaunlicher Vielgestaltigkeit war das Ergebnis solcher Anlage.

   Nicht daß die Auswertung seiner wunderbaren Gaben ihm leicht gefallen wäre: Bartóks Leben war oftmals umdüstert, und manche Fehlschläge ließen seinen Mut sinken; seine Heimat zu verlieren, ein Leid, das er klarsichtig erkannt hatte, griff zerstörend in sein Leben ein. Die besten Kräfte verdankte er Ungarn und seiner Musik; eine Sammlung von Volksmusik, auf die er Jahre gewandt hatte, sah er dem politischen Chaos preisgegeben. Voller Ungewißheit verließ er das alte Europa, dessen Geistigkeit er auf so bewunderungswürdige Weise noch einmal vertrat.

   War es indessen nur Europa, das sich in seinem Werk und in seinen nicht minder wesentlichen wissenschaftlichen Sammlungen kristallisierte? Was er vom Westen empfing, vor allem von Debussy, vom Impressionismus, bedeutete sicherlich wichtiges europäisches Kulturgut (wenn von Debussys kunstvollem Zurückgreifen auf die östliche Pentatonik abgesehen wird). Doch als Bartók, in seinem Eifer eng verbunden mit dem Landsmann und Freund Kodály, begann, ungarische Volksmusik aufzuzeichnen, eröffnete sich ihm der Osten mit seinen uralten Gepflogenheiten: in Bauernliedern und -tänzen fand er unverbrauchten Stoff, der ihm um der ausdrucksvollen Schönheit und ursprünglichen Kraft willen bedeutsam erschien, doch auch der unendlich reichen Anregungen wegen, die er für sein eigenes schöpferisches Wirken daraus empfangen konnte.

   Nicht allein jene durch Asien nach dem Westen gedrungene Pentatonik fand sich in den Bauernliedern, sondern auch der Gebrauch der expressiven alten Kirchentonarten. Bartók beschränkte sich nicht nur auf die Aufzeichnung ungezählter Beispiele, sondern er überschritt auch die Grenzen Ungarns, begann in Bulgarien, in Rumänien, in der Türkei Melodien und Rhythmen zu sammeln, gelangte kurz vor dem Ersten Weltkrieg nach Nordafrika, wo er die nämlichen Ziele mit der nämlichen wissenschaftlichen Sorgfalt verfolgte. Mit der Ausdehnung des äußern Gebietes wuchs sein Interesse für die Sache: In die Tausende gehen Bartóks Aufzeichnungen alter Volksmelodien und ihrer oft unglaublich komplizierten Rhythmen. Man denke etwa an jene dauernd wechselnden Rhythmen, in denen gewisse seiner Stücke, etwa das Scherzo seines 5. Streichquartetts, notiert sind, jenes "Alla bulgarese", das auf Takten mit 4+2+3 Achteln gründet. Mit welcher Beharrlichkeit, mit welchem Fleiß im übrigen der Komponist der alten Volksmusik nachging, wird deutlich, wenn er die Mühen beschreibt, die es verursachte, in einem abgelegenen Dorf eine alte Frau zum Singen zu bringen, den scheinbar so freien Rhythmus festzuhalten und mit noch primitiven Grammophonapparaten Aufnahmen zu machen.

   So gab sich Bartók in jahrlanger wissenschaftlicher Arbeit der Erforschung und Notation bäuerlichen Musikgutes hin, das er im Sinn reiner Dokumentation zusammentrug und ordnete. In dieser Hinsicht tat es vor ihm und nach ihm wohl kein schöpferischer Komponist in solch selbstlosem Bemühn. Denkt man an Liszt, an Grieg, an Dvorák und Smetana, in deren Werk die Folklore eine wesentliche Rolle spielt, dann handelt es sich vielfach um reine Übernahme von Volksgut aus vielleicht schon kunstliedhaft Verändertem. Bartók stieg aber zu den Quellen hinab und erschoß sie, wie nur ein Wissenschaftler sie erschließen und fassen kann.

   Ganz getrennt nun von solch registrierendem Aufzeichnen die kompositorischen Arbeiten. Sie sind wohl weitgehend vom Folkloristischen genährt: doch hat es sich gezeigt, daß sich in Bartóks reichem Oeuvre kein Takt befindet, der eine Volksmelodie unverändert übernähme. (Ausgenommen davon natürlich die Bearbeitungen ungarischer und rumänischer Lieder und Tänze, die er zum Teil für A-cappella-Chor, zum Teil für Klavier gesetzt hat.) Sowohl in der frühen, aus dem Jahre 1907 stammenden (1943 überarbeiteten) 2. Suite für Orchester, wie in der berühmt gewordenen Tanz-Suite von 1923 gibt es Melodien und Rhythmen, welche die melodische und rhythmische Strukur ungarischer Volksmusik aufweisen, doch in ihrem Verlauf durchaus der eigenen schöpferischen Phantasie entspringen.

   Und wie bei diesen beiden charakteristischen Werken verhält es sich bei den Klavierstücken, den Kammermusikwerken, den andern Orchesterstücken, der damals in Basel uraufgeführten "Musik für Saiteninstrumente", oder bei dem ebenfalls von Paul Sacher angeregten und ihm gewidmeten "Divertimento" für Streicher, einem Werk, in dem der Meister die melodische Linie, die so spezifische harmonische Struktur, den rhythmischen Atem Ungarns nochmals in einem Kunstwerk von höchster Disziplin erstehen ließ: umgewertet in einem geistigen Prozeß, der das schöpferische Genie bekundet, hat das nationale Musikgut eine kunstvoll verwandelte Form angenommen, ohne je von den elementaren Kräften, ja von dem Impetus einzubüßen, der dem kleinen, schweigsamen Mann mit den strahlend-blauen Augen eigen war.


in der Monatsschrift "Du", Zürich, Januar 1958.

 


 

 

Der Einfluß der Volksmusik

auf die heutige Kunstmusik

 

- von Béla Bartók -

(geschrieben 1920)

   Volksmusik" ist im allgemeinen ein ziemlich weiter Begriff, den ich hier mit folgendem Versuch einer Definition einschränken möchte: Volksmusik ist die Musik einer von städtischer Kultur am wenigsten beeinflußten Bevölkerungsschicht. Musik in mehr oder minder großer, sowohl zeitlicher als auch räumlicher Ausdehnung, die als spontane Befriedigung des Musiktriebs fortlebt, oder irgendwann fortgelebt hat.

   Dieser Definition gemäß wäre Träger und Fortpflanzer der Volksmusik die Bauernklasse, als die am wenigsten von städtischer Kultur beeinflußte. Ein Nichtbewußtsein währt beim Bauernvolke solange, als es das zu seinem körperlichen und geistigen Leben notwendige Material - in traditionellen Formen - selbst produziert. Ein derartiger Urzustand ist heutzutage natürlich wohl nur bei Urvölkern zu finden.

   Eine ganze Reihe der Entwicklungsstufen führt zu dem Zustande der Bauernklassen des heutigen Osteuropa, die - wenigstens in ihren Kunstprodukten - zwar seit längerer oder kürzerer Zeit einem mehr oder minder großen städtischen, namentlich westeuropäischen Einflusse ausgesetzt sind, jedoch nach Verlauf einer gewissen Leitperiode die Elemente des fremden Einflusses derart ihrem Wesen assimilieren, daß als Endresultat eine vom Muster abweichende Kunst, die Volkskunst, oder auf musikalischem Gebiete ein Volksmusikstil entsteht. In dem Letztgewagten ist die in der obigen Definition erwähnte Bedingung der zeitlichen und örtlichen Ausdehnung enthalten. Denn die Assimilierung fremder Elemente kann nur dadurch entstehen, daß diese Elemente von einer Menge (Hervh. d. d. Red.) und nicht einfach von einzelnen Personen von Geschlecht zu Geschlecht übertragen werden; während dieser spontanen Übertragung erfahren die Elemente gewisse Veränderungen, verschmelzen ineinander.

   Die Frage des Ursprungs der Volksmusik ist bei der Definition - als irrelevant - nicht in Betracht genommen.

   Es ist anzunehmen, daß jede heutzutage bekannte Volksmusik durch den Einfluß irgendeiner Kunstmusik, besser gesagt, volkstümlichen Kunstmusik, entstanden ist. Bei den neu entstandenen (oder in unseren Tagen entstehenden) Stilarten ist dies so ziemlich beweisbar; in den älteren ist es vorderhand nur in einzelnen Fällen möglich. Eine der wichtigsten Aufgaben der vergleichenden Musikfolklore ist eben der Versuch, den Ursprung der einzelnen Volksmusikstilarten der Völker zu bestimmen, was auf diesem Gebiet mangels verläßlichen Materials eine ungleich schwierigere Aufgabe ist, als z.B. eine ähnliche Forschungsarbeit auf dem Gebiete der vergleichenden Sprachforschung.

   Aus dem bisher Gesagten geht hervor, daß sogar die engere Begrenzung des Wortes "Volksmusik" noch immer ziemlich viele Abstufungen von der weniger volkstümlichen, unreineren zur reineren Volksmusik enthält; in ersterer treten die aus der Kunstmusik stammenden Elemente noch ziemlich erkennbar hervor, in der letzteren sind sie derart assimiliert, daß ein durchaus neuer Stil entsteht. In die Beschreibung weiterer äußerer Eigentümlichkeiten dieser letzteren Art wollen wir uns hier nicht einlassen. Die innerlichen musikalischen Eigenheiten derselben, jene wesentlichen stilistischen Merkmale, durch  sie sich von der volkstümlichen Kunstmusik unterscheidet, ausführlich zu beschreiben, wäre ebenfalls eine einstweilen viel zu schwierige Aufgabe. Es sei nur die sowohl formell als auch inhaltlich absolute Vollendetheit, die man in jeder einzelnen Melodie dieser Klasse trifft, erwähnt; die Produkte irgend einer volkstümlichen Kunstmusik entbehren in den meisten Fällen dieser Abgeklärtheit.

   Der allgemeinen Meinung nach hat die Volksmusik erst im 19. Jahrhundert, namentlich auf die Kunst Chopins, Liszts, später auf der der slawischen Komponisten, einen bedeutenden Einfluß auszuüben begonnen. Dies ist insofern nicht ganz richtig, als dieser Einfluß nicht so sehr der Volksmusik, sondern vielmehr der volkstümlichen Kunstmusik zuzuschreiben ist. Die Autoren der volkstümlichen Kunstmusik sind eigentlich Leute von einer gewissen Erudition, die in ihren Werken (meistens einzelne Melodien ohne Begleitung) gewisse Eigenheiten au dem Volksmusikstil ihrer Heimat mit Schablonen der höheren Kunstmusik verschmelzen. Die Anlehnung an die Volksmusik verleiht ihren Werken eine gewisse Frische und Exotik (ich spreche in erster Linie von den derartigen Produkten Osteuropas), die Anwendung der Kunstmusik-Schablonen aber auch viel Banales: der Kunstwert derartiger Melodien ist mit dem der reinsten Volksmelodien nicht zu vergleichen. Sie entbehren meistenteils der für die reine Volksmusik so sehr charakteristischen absoluten Vollendetheit.

   Dem Einflusse dieser volkstümlichen Kunstmusik ist es vielleicht zuzuschreiben, daß die höhere Kunstmusik des 19. Jahrhunderts eine gefährliche Neigung zum Banalen aufweist.

 
 Die reine Volksmusik fängt erst Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts an einen überwältigenden Einfluß auf unsere höhere Kunstmusik auszuüben. Als erste Beispiele haben wir die Werke Debussys und Ravels zu betrachten, auf welche die Volksmusik Osteuropas und Ostasiens ihren bleibenden und gewissermaßen richtunggebenden Einfluß ausübte. Noch ausschlaggebender ist dieser Vorgang in den Werken des Russen Strawinsky und des Ungarn Kodály: das Oeuvre beider Musiker wächst derart aus der reinen Volksmusik ihrer Heimat heraus, daß es beinahe als eine Apotheose derselben gelten kann (wie z.B. Strawinskys "Sacre du Printemps"). Bemerkt sei: es handelt sich hier nicht um die bloße Anwendung von Volksmelodien oder um die Umpflanzung einzelner Wendungen derselben; es offenbart sich in diesen Werken eine tiefgreifende Erfassung des mit Worten schwer zu schildernden Geistes der betreffenden Volksmusik. Demzufolge beschränkt sich auch dieser Einfluß nicht auf einzelne Werke; die Ergebnisse des ganzen Schaffens der betreffenden Komponisten sind von diesem Geiste durchtränkt.

   Wie verträgt sich nun dieser Einfluß der durchaus tonalen Volksmusik mit der atonalen Richtung? Es genüge der Hinweis auf ein besonders charakteristisches Beispiel: die "Pribaoutki" von Strawinsky. Die Singstimme derselben besteht aus Motiven, welche - wenn auch vielleicht nicht aus der russischen Volksmusik entlehnt - durchwegs Nachbildungen von russischen Volksmusikmotiven sind. Die charakteristische Kurzatmigkeit dieser Motive, die sämtlich, allein betrachtet, durchaus tonal sind, ermöglicht eine Art instrumentaler Begleitung, die aus einer Reihe unterlegter, für die Stimmung der Motive höchst charkteristischer, mehr oder minder antonaler Tonflecken besteht. Die Gesamtwirkung steht jedenfalls dem Atonalen viel näher als dem Tonalen.

   Eben dieses, den Volksmotiven entnommene hartnäckige Festhalten an einem Ton oder an einer Tongruppe scheint eine besonders wertvolle Stütze zu sein: sie bietet für die entstehenden Werke dieser Übergangsperiode ein festes Gerippe und bewahrt vor einem planlosen Herumirren.

   Zwei Parallelen wären noch zu erwähnen: die reine Volksmusik kann zur Beeinflussung der höheren Kunstmusik ebenso als Naturerscheinung in Betracht kommen, wie die mit dem Auge wahrnehmbaren Eigenschaften der Körper für die bildende Kunst, oder wie die Lebenserscheinungen für den Dichter. Dieser Einfluß gestaltet sich für den Musiker am wirksamsten, wenn er die Volksmusik nicht aus toten Sammlungen kennen lernt, welche sowieso ihre feineren Nuancen und das pulsierende Leben derselben infolge Fehlens genügender diatonischer Zeichen nicht wiederzugeben vermögen, sondern wenn er sie rein in der Gestalt kennen lernt, wie sie in ungezügelter Kraft beim niederen Volke lebt. Wenn er sich dem Eindrucke dieser lebenden Volksmusik und all deren Umständen, welche die Vorbedingungen des Lebens bedeuten, hingibt, und die Wirkungen dieser Eindrücke in seinen Werken widerspiegeln läßt, dann kann man von ihm sagen, er hat ein Stück Leben darin festgehalten.

Béla Bartók

Erschienen in "Melos", Halbmonatsschrift für Musik, Berlin, I. Jahrgang, Nr. 17, 16. Oktober 1920.

 

  Béla Bartóks Hauptwerke

1911: Herzog Blaubarts Burg (Oper)
1914 - 1916: Der holzgeschnitzte Prinz (Tanzspiel)
1919: Der wunderbare Mandarin (Pantomime)

Orchesterwerke:
1908: Zwei Portraits
1923: Tanzsuite
1936: Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta
1939: Divertimento für Streicher
1945: Konzert für Orchester

Konzerte:
1908: Erstes Violinkonzert
1938: Zweites Violinkonzert
1926: Erstes Klavierkonzert
1931: Zweites Klavierkonzert
1945: Drittes Klavierkonzert
1945: Bratschenkonzert

Kammermusik:
1908: Erstes Streichquartett
1917: Zweites Streichquartett
1927: Drittes Streichquartett
1928: Viertes Streichquartett
1934: Fünftes Streichquartett
1939: Sechstes Streichquartett
1921 /1922: Zwei Violinsonaten
1931: 44 Duos für zwei Violinen
1937: Sonate für zwei Klaviere und Schlagzeug
1944: Sonate für Violine solo

Klaviermusik:
1911: Allegro barbaro
1916: Klaviersuite
1926: Klaviersonate
1926 - 1937: Mikrokosmos

 


 

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