Das „unheimliche“ Lächeln der Mona Lisa
Vertrauen und Konstanz in zwischenmenschlichen Beziehungen sind in unserer krisenhaften Zeit ganz besonders gefährdet. Das gilt in hohem Maß auch für vertrauensvolle und dauerhafte Beziehungen von kleinen Kindern zu Ihren Eltern – Bindungen, die bekanntlich lebenswichtig sind für die Entwicklung des einzelnen Menschen und – darauf aufbauend - für die Entwicklung der Gesamtgesellschaft. Beispielhaft für das hier Gesagte ist auch ein Traum aus frühester Kindheit, den der Schöpfer des Gemäldes „Mona Lisa“, der große Renaissance-Künstler und Universalgelehrte Leonardo da Vinci (1452-1519), für sich selbst und für die Nachwelt aufgezeichnet hat. In dem Traum dringt ein Raubvogel – ein Milan – heftig in den Mund des Kindes ein:
„So ausführlich vom Milan zu
schreiben, scheint mir vom Schicksal bestimmt gewesen zu sein, denn er ist
in meiner ersten Erinnerung an meine Kindheit [zugegen], und mir scheint,
dass, als ich in der Wiege lag, ein Milan zu mir kam und mir den Mund mit
seinem Schwanz öffnete und mir mit diesem Schwanz viele Male zwischen die
Lippen stieß.“
Sigmund Freud zufolge wurde der in Leonardos frühester Erinnerung so deutlich beschriebene Vorgang vom Künstler selbst zugleich als begehrenswert und bedrohlich empfunden. Nicht gelingende Eltern-Kind-Beziehungen - bzw. die nicht geglückte Bindung einer Mutter an ihr Kind gerade am Anfang seines Lebens - gibt es und gab es bekanntlich in allen Geschichtsepochen und Kulturen, und die Gründe für ein teilweises oder sogar komplettes Scheitern solcher lebenswichtigen Anfangsbedingungen sind naturgemäß vielfältig. Der Milan steht im „Bestiarium“ Leonardos für den weiblichen Neid, und es zeigt sich, dass für Leonardos Kunst ambivalente Mutterbeziehungen eine bedeutsame Rolle spielen. Leonardos Mutter Caterina war eine arme Frau aus dem Dorf Vinci. Aus den Ergebnissen der kunsthistorischen Forschung lässt sich schließen, dass beim Stillen des Kindes auf beiden Seiten (des Kindes Leonardo wie seiner Mutter Caterina) nicht nur Lust, sondern auch „much pain and discomfort“ im Spiel waren (was mit Leonardos Milan-Traum und einigen seiner Prophezeiungen übereinstimmt). Die Überdosis an (wie auch immer gearteter) müttterlicher Zuwendung kann – wie der Kunsthistoriker Herding feststellt – bei dem sensiblen Kind Angst, Scheu oder einen Überdruss an Frauen ausgelöst haben, der sich in der emotionalen Struktur von Leonardos Bildern nachweislich in mannigfacher Weise niederschlägt. Freud hat das Lächeln der Mona Lisa in seinem Oszillieren zwischen Unheimlichkeit und Verzückung, zwischen Attraktion und Repulsion, Trauer und Grazie, ernst genommen. Und offensichtlich – so Herding - macht beides, der bedrohliche und der ersehnte Aspekt dieser Mutterbindung, die eigentümliche Spannung in der Emotions-Struktur von Leonardos Bildern aus.
Diese Gegensätze verschmelzen in dem kaum angedeuteten und zugleich
„unheimlich“ wirkenden Lächeln der „Mona Lisa“ in Leonardos berühmtem
Bildnis.
(Dieser Beitrag stützt sich u.a. auf kurze Auszüge aus einem Vortrag des Kunsthistorikers Klaus Herding zum Thema „Freuds Leonardo“, gehalten in München in der Carl Friedrich von Siemens Stiftung am 17. Juni 1998.)
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