Der Großinquisitor
von
Fjodor Dostojewski

 

Ein Kapitel aus dem Roman Die Brüder Karamasow. Situation: Iwan Karamasow sitzt mit seinem Bruder Aloscha in einem Restaurant und eröffnet ihm, er habe im Kopf eine „Dichtung“ verfaßt, die er ihm mitteilen wolle.

 

"[…] Damals war gerade im Norden, in Deutschland, eine schreckliche neue Ketzerei aufgetreten. Ein großer Stern, ‚ähnlich einer Fackel (das heißt der Kirche) fiel auf die Wasserbrunnen, und sie wurden bitter‘*. Die Anhänger dieser Ketzerei begannen gotteslästerlich die Wunder zu leugnen. Aber umso feuriger glaubten die Treugebliebenen. Die Tränen der Menschheit stiegen zu Ihm hinauf wie ehemals; die Menschen erwarteten Ihn, liebten Ihn, hofften auf Ihn wie ehemals. Und so viele Jahrhunderte lang betete die Menschheit in feurigem Glauben: ‚Herr Gott, erscheine uns!‘ So viele Jahrhunderte rief sie zu Ihm, daß es Ihn in seinem unermeßlichen Erbarmen verlangte, zu den Betenden herabzusteigen. War er doch auch vorher schon manchmal herabgestiegen und hatte einzelne Gerechte, Märtyrer und fromme Eremiten noch auf Erden besucht, wie in ihren Lebensbeschreibungen zu lesen steht.

[…] Und so  ist es auch tatsächlich geschehen, kann ich dir sagen. Also es verlangte Ihn, sich, wenn auch nur für kurze Zeit, dem Volke zu zeigen, dem sich quälenden, leidenden, garstig sündigenden, aber ihn doch kindlich liebenden Volke. Die Handlung spielt bei mir in Sevilla, in der furchtbarsten Zeit der Inquisition, als täglich zum Ruhme Gottes die Scheiterhaufen loderten und

Die Flammen der prächtigen Autodafés
Verbrannten die schändlichen Ketzer.

Oh, das war freilich nicht jenes Herniedersteigen, in welchem Er seiner Verheißung gemäß am Ende der Zeiten in all seiner himmlischen Herrlichkeit erscheinen wird, ‚wie der Blitz scheinet vom Aufgang bis zum Niedergang‘. Nein, es verlangte ihn, wenn auch  nur für ganz kurze Zeit, seine Kinder zu besuchen, und namentlich dort, wo gerade die Scheiterhaufen der Ketzer prasselten. In seiner unermeßlichen Barmherzigkeit wandelt Er noch einmal unter den Menschen in eben jener Menschengestalt, in der er fünfzehn Jahrhunderte vorher dreiunddreißig Jahre unter ihnen geweilt hat.

Er steigt hinab  auf die heißen Straßen und Plätze der südländischen Stadt, in welcher erst tags zuvor in einem ‚prächtigen Autodafé‘ in Gegenwart des Königs, des Hofes, der Ritterschaft, der Kardinäle und der reizendsten Damen des Hofes und in Gegenwart der zahlreichen Einwohnerschaft von ganz Sevilla durch den Kardinal-Großinqisitor auf einmal fast ein ganzes Hundert von Ketzern ad maiorem gloriam Dei verbrannt worden ist. Er erscheint still und unauffällig , und siehe da, es begibt sich etwas Seltsames: alle erkennen Ihn. Das könnte eine der besten Stellen meiner Dichtung sein, nämlich die Darlegung, woran sie ihn denn erkennen. Die Volksmenge strebt mit unwiderstehlicher Kraft zu Ihm hin, umringt Ihn, wächst um Ihn herum an und zu Ihm hin und folgt Ihm nach. Schweigend wandelt Er unter ihnen dahin mit einem stillen Lächeln unermeßlichen Mitleids. Die Sonne der Liebe brennt in seinem Herzen, Strahlen von Licht und Kraft gehen von seinen Augen aus, ergießen sich auf die Menschen und erschüttern ihre Herzen in Gegenliebe. Er streckt die Hände nach ihnen hin und segnet sie, und von seiner Berührung, ja sogar von der Berührung seines Gewandes geht eine heilende Kraft aus. Da ruft aus der Menge ein Greis, der von seiner Kindheit an blind ist: ‚Herr, heile mich, damit ich dich schaue!‘ und siehe da, es fällt ihm wie Schuppen von den Augen, und der Blinde sieht Ihn. Das Volk weint und küßt die Erde, über die er dahinschreitet. Die Kinder streuen Blumen vor Ihm auf den Weg, singen und rufen Ihm zu: ‚Hosiannah! – Das ist Er, das ist Er selbst!‘ sagen alle untereinander. ‚ Das muß Er sein; das ist niemand anders als Er.‘

Er bleibt am Portal des Domes von Sevilla stehen, gerade in dem Augenblick, als ein offener kleiner weißer Kindersarg unter Weinen und Wehklagen hineingetragen wird; darin liegt ein siebenjähriges Mädchen, die einzige Tochter eines angesehenen Bürgers. Das tote Kind ist ganz in Blumen gebettet. ‚‘Er wird dein Kind auferwecken!‘ ruft man der weinenden Mutter aus der Menge zu. Ein zum Dom gehöriger Pater, der, um den Sarg in Empfang zu nehmen, herauskommt, macht ein erstauntes Gesicht und zieht die Augenbrauen zusammen. Aber da ertönt das laute Schluchzen der Mutter des verstorbenen Kindes. Sie wirft sich Ihm zu Füßen. ‚Wenn Du es bist, so erwecke mein Kind!‘ ruft sie, indem sie die Hände nach Ihm ausstreckt. Der Zug bleibt stehen, der Sarg wird am Portal zu seinen Füßen hingestellt. Er blickt voll Mitleid auf die kleine Leiche , und seine Lippen sprechen wiederum die Worte: ‚Talitha kumi! (Mägdlein, stehe auf!)‘ Das Mädchen erhebt sich im Sarg, setzt sich aufrecht und blickt lächelnd mit erstaunten , weitgeöffneten Augen um sich. In den Händen hält es den Strauß von weißen Rosen, mit dem es im Sarg gelegen hat.

Das Volk ist starr vor Staunen, schreit und schluchzt; und siehe da, gerade in diesem Augenblick geht plötzlich am Dom auf dem Platz der Kardinal-Großinquisitor vorbei. Er ist ein fast neunzigjähriger Greis, von hohem Wuchs und gerader Haltung, mit vertrocknetem Gesicht und mit eingesunkenen Augen, aus denen aber doch noch ein Glanz wie ein feuriges Fünkchen herausleuchtet. Oh, er trägt nicht die prächtigen Gewänder, in denen er am vorhergehenden Tag vor dem Volke geprangt hat, als die Feinde des römischen Glaubens verbrannt wurden; nein, in diesem Augenblick trägt er nur seine alte, grobe Mönchskutte. Ihm folgen in einiger Ferne seine finsteren Gehilfen und Knechte und die ‚heilige‘ Wache. Er bleibt vor der Menge stehen und beobachtet von fern. Er hat alles gesehen; er hat gesehen, wie man den Sarg Ihm vor die Füße stellte; er hat gesehen, wie das Mädchen auferstand, und sein Gesicht hat sich verfinstert. Er zieht die dichten, grauen Brauen zusammen, und ein böses Feuer funkelt in seinem Blick. Er streckt einen Finger aus und befiehlt der Wache, Ihn zu ergreifen. Und seine Macht ist so groß, und das Volk ist schon dermaßen an Unterwürfigkeit und zitternden Gehorsam ihm gegenüber gewöhnt, daß die Menge sofort vor den Häschern zurückweicht und diese inmitten der plötzlich eingetretenen Grabesstille Hand an Ihn legen und Ihn fortführen können. Und augenblicklich beugt die ganze Menge wie ein Mann vor dem greisen Inquisitor die Köpfe zur Erde; dieser erteilt dem Volke schweigend seinen Segen und geht vorüber.

Die Wache führt den Gefangenen in ein enges, finsteres, gewölbtes Verlies in dem alten Gebäude des Heiligen Tribunals und schließt Ihn dort ein. Der Tag vergeht, die dunkle, heiße, totenstille Nacht von Sevilla bricht an. Die Luft ist von dem Duft der Lorbeerbüsche und Zitronenbäume erfüllt. Inmitten der tiefen Dunkelheit öffnet sich plötzlich die eiserne Tür des Kerkers, und der greise Großinquisitor selbst tritt mit einem Leuchter in der Hand herein. Er ist allein; hinter ihm schließt sich sogleich wieder die Tür. Er bleibt am Eingang stehen und blickt lange, eine oder zwei Minuten lang, Ihm ins Gesicht. Endlich tritt er leise näher, stellt den Leuchter auf den Tisch und sagt zu Ihm:

'Bist Du es? Ja?' Aber ohne eine Antwort abzuwarten, fügt er schnell hinzu: 'Antworte nicht, schweig! Und was könntest Du auch sagen? Ich weiß recht wohl, was Du sagen willst. Aber Du hast auch gar kein Recht, dem, was Du früher gesagt hast, etwas hinzuzufügen. Warum bist Du denn hergekommen, uns zu stören? Denn uns zu stören bist Du gekommen, und Du weißt das selbst. Aber weißt Du wohl, was morgen geschehen wird? Ich weiß nicht, wer Du bist, und ich will auch gar nicht wissen, ob Du Er selbst bist oder nur eine Kopie von Ihm; aber gleich morgen werde ich Dich verurteilen und als den schlimmsten aller Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrennen, und dieses selbe Volk, das heute Deine Füße geküßt hat, wird morgen schon auf einen Wink meiner Hand herbeistürzen, um Kohlen an Deinen Scheiterhaufen heranzuscharren; weißt Du das? Ja. Du weißt das vielleicht', fügt er in tiefernstem Nachdenken hinzu, ohne auch nur einen Augenblick den Blick von seinem Gefangenen abzuwenden [...]"

* Vgl. Offenb. 8, 10 f. (A. d. Ü.)
Auszug aus Fjodor Dostojewskij: Der Großinquisitor. Eine Phantasie. Übersetzt von Hermann Röhl.
Philipp Reclam jun. Stuttgart, 2004, www.reclam.de
 

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Januar 2015