Interview mit Robert Skidelsky:

"Eurozone auf Kernländer schrumpfen lassen"

Andreas Schnauder, DER STANDARD
11. April 2010
Der Historiker Lord Robert Skidelsky gilt mit seiner dreiteiligen Biografie - "Die Rückkehr des Meisters. Keynes für das 21. Jahrhundert" - als renommiertester Keynes-Kenner.
DER STANDARD  traf ihn beim Gründungskongress des Institute of New Economic Thinking in Cambridge, wo Keynes lehrte.
Der Cambridge-Professor sieht in der Anwendung der Theorien von Keynes kein Allheilmittel. Vieles in der Krise wäre aber weniger scharf verlaufen.

STANDARD: Wäre es Ihrer Ansicht nach bei einer keynesianisch dominierten Politik zu einer Krise aktuellen Ausmaßes gekommen?

Skidelsky: Jedenfalls hätte keynesianische Politik das Risiko einer Krise minimiert. Es hätte viel mehr öffentliche Investitionen gegeben. Investitionen sind besonders volatil und von Finanzflüssen abhängig. Diese Instabilität kann zu Kollapsen führen. Wenn die Kreditmärkte einfrieren und die Menschen Wohlstand verlieren, beeinträchtigt das ihre Ausgaben, und die ganze Wirtschaft rutscht ab. Seit den 80er-Jahren haben wir die Funktionen des Staates zurückgestutzt und der Privatwirtschaft überlassen.

STANDARD: Die Krise ging aber von den Finanzmärkten aus, als die Kreditblase platzte. Wie hat sich Keynes damit auseinandergesetzt?

Skidelsky: Er hat die Deregulierung des Bankensystems nicht mehr erlebt, weshalb eine Antwort schwierig ist. Aber es gibt in seinem Werk schon einige Hinweise: So hat sich Keynes für hohe Kapitalanforderungen für Banken ausgesprochen. Zudem wäre er für die Zerschlagung von Finanzinstituten gewesen, deren Größe ein systemisches Risiko darstellt. Die Spekulationswelle wäre in der Form bestimmt nicht eingetreten.

STANDARD: Die Idee fixer Wechselkurse gilt gerade in einer Welt großer Ungleichgewichte als unzureichend. Woran krankte das Bretton-Woods-System?

Skidelsky: Keynes' Plan zu Bretton Woods wäre viel weiter gegangen, doch er ist unterlegen, weil die Amerikaner keine globale Zentralbank wollten. Sie wollten einen Fonds, der nur bei Einhaltung strikter Auflagen eingreift, weil die USA größter Geldgeber waren. Keynes trat dafür ein, dass eine Zentralbank Geld produzieren und Reserven wieder verteilen kann. So hätten diese Ungleichgewichte nicht entstehen können.

STANDARD: Dieses Thema beschäftigt derzeit die Eurozone. Wäre ein Europäischer Währungsfonds die Lösung des Problems?

Skidelsky: Er wäre eine Minimalvariante. Ein Land, das in Zahlungsbilanzschwierigkeiten gerät, würde Finanzbeistand erhalten. Man braucht aber auch Anpassungen auf beiden Seiten, weil Währungsabwertung unmöglich ist. Deutsche müssen weniger, Griechen mehr sparen.

STANDARD: Aber in den USA kümmert es auch keinen, wenn Kalifornien hochverschuldet ist. Warum wird das Problem in Europa so stark beachtet?

Skidelsky: Weil die USA ein Bundesstaat sind, in dem über Steuereinnahmen umverteilt wird. Eine Zentralbank kann das nicht, sie ist keine fiskale Behörde. Sie kontrolliert nur die Geldversorgung. Diese fiskalische Steuerung fehlt in der Eurozone, was ich für einen Konstruktionsfehler halte. Zudem bräuchte die EZB die Befugnis, Geld zu drucken, um auf Schocks reagieren zu können.

Standard: Eine Ausweitung der Steuerung auf die Fiskalpolitik erscheint im Euroraum aber politisch nicht umsetzbar.

Skidelsky: Langfristig gibt es eine Chance, dass die Anpassungen erfolgen. Noch besser wäre freilich eine Schrumpfung der Eurozone auf Kernmitglieder, die wirtschaftlich vergleichbar sind. Neben Deutschland wären das etwa die Benelux-Staaten oder Österreich. (DER STANDARD, Printausgabe, 12.4.2010

© DER STANDARD

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Die Schlacht um den Schuldenerlass

Kommentar der anderen:  Robert Skidelsky, DER STANDARD, Printausgabe, 21.7.2011:

Jeder Mensch weiß, dass Griechenland seine Auslandsschulden nicht zurückzahlen wird. Die einzige Frage ist nur noch, wie man es am besten bewerkstelligt, dass niemand etwas von der Pleite Griechenlands bemerkt.

An Expertenplänen hierzu herrscht kein Mangel - genannt werden Anleihenrückkäufe, ein Anleihentausch und die Schaffung von Eurobonds, einer europäischen Version der "Brady-Bonds", die in den 1980er-Jahren von bankrotten lateinamerikanischen Schuldnerländern emittiert wurden. Alle diese Programme laufen darauf hinaus, Anleihen über Anleihen anzuhäufen und so die Quadratur des Kreises der griechischen Zahlungsunfähigkeit zu schaffen, um die für die Gläubiger - hauptsächlich europäische Banken - zu erwartenden Verluste zu minimieren.

Jede Woche pilgert eine groteske Clique aus europäischen Bankern und Finanzministern von einer Hauptstadt in die nächste, um darüber zu diskutieren, welchen Zahlungsausfall-/Umschuldungsplan man annehmen soll. Unterdessen hält die Agonie Griechenlands weiter an und die "Märkte" warten, bis sie sich auf Portugal, Irland, Italien und Spanien stürzen können. - Kein Mensch, der die Taschenspielereien im Finanzwesen nicht kennt, kann sich einen Reim auf diese Anleihen-Schlacht machen. Allerdings liegen diesen Vorgängen zwei moralische Haltungen zugrunde, die viel leichter zu verstehen sind.

Die eine besteht in der traditionellen Ablehnung von Schulden. Die älteste Regel im Bereich persönlicher Finanzen ist, Schulden zu vermeiden - will heißen: Gib nie mehr, aus als du einnimmst. Ökonomen und Moralisten sind sich einig, dass man eigentlich weniger ausgeben sollte, als man einnimmt - um für die sprichwörtlichen "schlechten Zeiten" oder für das Alter zu sparen.

Schulden zu machen stand lange in Zusammenhang mit Verschwendung oder Nutzlosigkeit. Und wenn sich eine Person verschuldete, war es Ehrensache, die Verbindlichkeit zum Fälligkeitsdatum zu begleichen, indem man Vermögenswerte verkaufte, sich einschränkte, härter arbeitete oder eine Kombination dieser drei Möglichkeiten anwendete. Tatsächlich war es vielfach aber mehr als eine Ehrensache: Wurden Schulden nicht pünktlich zurückgezahlt, landete der Schuldner im Gefängnis.

Zwei Philosophien ...

Auch im Hinblick auf öffentliche Finanzen galt die orthodoxe Regel, wonach Haushalte immer ausgeglichen sein sollten - außer in Notfällen. Auch hier war es für Regierungen Ehrensache, diese angehäuften Schulden zurückzuzahlen und zwar ungeachtet der Opfer, die das Land dafür zu erbringen hatte. Bis vor kurzem herrschte auch die gängige Meinung, dass "entwickelte" Staaten ihre Schulden immer zurückzahlen und nur Bananenrepubliken nicht.

Diese historisch verankerten Normen und Praktiken wurden nur langsam verdrängt. Aber mit der größeren Sicherheit hinsichtlich der Bedingungen und dem stetigen Wirtschaftswachstum im 20. Jahrhundert wurde es für Einzelpersonen, Firmen und Staaten normal, in Erwartung von Einnahmen Geld zu borgen - also Geld auszugeben, das man zwar nicht hatte, aber von dem man erwartete, es in Zukunft zu haben.

Mit abnehmender Angst vor Bank Runs und Zahlungsausfällen schmolzen auch die Reservesätze der Banken, wodurch die Kreditvergabe gesteigert wurde. Auf dieser Grundlage entstand ein imposantes Gefüge aus Anleihemärkten und Banken, das die Kosten der Finanzierung senkte und die Geschwindigkeit des Wirtschaftswachstums erhöhte.

Der Beinahekollaps dieses Systems der Finanzintermediation im Jahr 2008 war für viele ein Beweis für die Richtigkeit der alten Warnungen vor den Gefahren der Verschuldung. Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff schreiben in ihrer umfassenden historischen Abhandlung über Finanzkrisen: "Immer wieder häufen Länder, Banken, Einzelpersonen und Firmen in guten Zeiten übermäßige Schulden an, ohne sich der Gefahren bewusst zu sein, die diese mit sich bringen, wenn die unvermeidliche Rezession eintritt."

Aber es gibt auch eine gegenteilige moralische Grundhaltung, wonach übermäßige Schulden im Prinzip zwar zu missbilligen sind, aber die Schuld dafür beim Kreditgeber und nicht beim Kreditnehmer liegt. "Kein Borger sei und auch Verleiher nicht", mahnt Polonius in Hamlet. Geld zu Zinsen zu verleihen oder Geld aus Geld und nicht aus Waren und Leistungen zu schöpfen, wurde als "Wucher" betrachtet - eine Unterscheidung, die auf Aristoteles zurückgeht, für den Geld unfruchtbar war. Der Geldverleiher war eine der meistgehassten Figuren im mittelalterlichen Europa.

Die letzten gesetzlichen Einschränkungen für Zinsen wurden erst im 19. Jahrhundert aufgehoben, als man sich dem ökonomischen Argument beugte, wonach Geldverleih eine Leistung wäre, für die der Verleiher jede Gebühr verlangen konnte, die der Markt zuließ. Aber die Wuchertheorie überlebte in der Ansicht, dass es moralisch falsch sei, einen zusätzlichen Betrag einzuheben, der erst durch die schwache Verhandlungsposition oder die Zwangslage des Kreditnehmers ermöglicht wird.

... und eine Grundsatzfrage

Diese beiden moralischen Grundhaltungen stehen einander heute tagtäglich in der Anleihen-Schlacht gegenüber. Das Gebot der Schuldenrückzahlung gegen die Philosophie des Schuldenerlasses. Aus der Perspektive des Kreditgebers spiegelt der Zinssatz von 17 Prozent, den der griechische Staat für seine zehnjährigen Anleihen momentan zu zahlen hat, präzise das Risiko des Kreditgebers beim Kauf von griechischen Staatsanleihen wider. Das ist der Preis für Verschwendung in der Vergangenheit. Aber aus der Perspektive des Kreditnehmers ist das Wucher - man nützt die Verzweiflung des Kreditnehmers aus.

Der vernünftige Mittelweg wäre sicher, einen Teil der ausstehenden griechischen Schulden abzuschreiben und auf den Rest ein fünfjähriges Moratorium für Zinszahlungen zu vereinbaren. Das würde den Druck auf den griechischen Haushalt unmittelbar verringern und seiner Regierung Zeit und Anreiz geben, die Wirtschaft des Landes in Ordnung zu bringen. Langfristig allerdings werden wir eine umfassendere Frage beantworten müssen, die sich durch die verschiedenen Schuldenkrisen in der Eurozone ergibt: Ist der soziale Nutzen billiger Finanzierungen die Tage der Abrechnung für angeschlagene Schuldner wert?

 © Project Syndicate, 2011; aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier

ROBERT SKIDELSKY ist Mitglied des britischen Oberhauses, emeritierter Professor für Nationalökonomie an der Warwick University und Direktionsmitglied der Moscow School of Political Studies.

© DER STANDARD

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Dezember 2011 
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