Louise
J. Kaplan:

Die zweite Geburt.
Die ersten Lebensjahre des Kindes

Mit einem Nachwort von Margaret S. Mahler
Aus dem Amerikanischen von Hainer Kober

© Serie Piper
Neuausgabe 1983

Originaltitel:

Oneness and Separateness.
From Infant to Individual

Erschienen 1978
bei © Simon & Schuster, New York

  Louise Janet Kaplan (1929 – 2012) wurde in Brooklyn geboren. Sie arbeitete als Psychoanalytikerin und leitete die Forschungsabteilung für Mutter-Kind-Beziehungen an der New York University. Zusammen mit ihrem Mann Donald Kaplan gab sie die psychoanalytische Zeitschrift American Imago heraus.

"Dies ist ein Buch, das ich jeder werdenden Mutter
 und jedem künftigen Vater in die Hand geben möchte …
Louise Kaplan lässt die ersten Lebensjahre in einer so
berührenden und einfühlsamen Weise lebendig werden,
dass der Leser nicht nur die Gefühle und Reaktionen von
Säugling und Kleinkind verstehen lernt, sondern dass er
zugleich auch sich selbst begegnet – dem Kind, das in
ihm weiterlebt.
"
Nancy Friday
 

Es folgt hier ein Auszug aus dem Anfangskapitel:

Konstanz:
 Innerer Zusammenhalt - Versöhnung von
 Einssein und Getrenntsein
(S. 12 ff.):

  In der heutigen Zeit, da es Mode geworden ist, gesellschaftliche Kräfte als Befreier des menschlichen Geistes zu feiern, haben wir uns angewöhnt, die Biologie als dessen Fessel zu verachten. Von Zeit zu Zeit müssen wir daran erinnert werden, dass ein gesunder Respekt für unsere biologischen Wurzeln den besten Schutz gegen das Vordringen und die Herrschaft antihumaner gesellschaftlicher Kräfte bedeutet.

  Gewiss zeigt sich die Verachtung des Biologischen nirgends deutlicher als in unserem gegenwärtigen Mutterverständnis. Mutterschaft ist mit unserer nachindustriellen Mentalität in Konflikt geraten – eine Mentalität, die die wichtigsten Tätigkeiten aus der Familie nach draußen verlegt und damit die Möglichkeit der Selbstverwirklichung durch Mutterschaft in Frage stellt.

  Die selbstgenügsame Einsamkeit von Mutter und Säugling wird als bedauerliche Abkehr von Aktivitäten verstanden, die für sozial ergiebiger gehalten werden. Unzählige Frauen, die sich Kinder wünschen und sich gerne eine Zeitlang um ihre Kinder kümmern würden, werden dazu gebracht, sich solcher Wünsche zu schämen und zu meinen, sie bedeuteten eine Kapitulation gegenüber chauvinistischen und antiquierten sozialen Wertvorstellungen, durch die sie ins Puppenhaus verbannt werden sollen. In ihrem Drang, „zur Normalität zurückzukehren“, „im wirklichen Leben voranzukommen“ und im Wettlauf und Karriere und soziales Fortkommen Schritt zu halten, büßt die moderne Mutter ihr Recht ein, Mutterschaft zu erleben.

  Die Zuversicht und Freude, die es einer Mutter ermöglichen, mit Muße und einfühlsam auf die Bedürfnisse ihres Babys zu reagieren, sind aufs Spiel gesetzt worden. Es wäre nicht ohne Ironie, wenn die Bindung des Säuglings an die Mutter ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, da die Klage über die Bindungslosigkeit des Menschen am lautesten ist, durch Scham und Ungeduld der Mutter gelockert würde. Die Kräfte der modernen Gesellschaft haben sich verschworen, die elementare Zwiesprache zwischen Mutter und Säugling zu unterbrechen – jene Zwiesprache, die uns unser Menschsein sichert.

  […] Während wir achtlos in eben die Leere abgleiten, die wir fürchten, leistet etwas in uns hartnäckigen Widerstand, jener Teil, der das Wesen unseres eigentlichen Menschseins ausmacht und nach Aufmerksamkeit verlangt. Zumindest augenblicklich dauert die menschliche Zwiesprache noch an.

  Wo beginnt der Dialog? In der ersten Partnerschaft außerhalb des Mutterleibs wird dem Säugling die Seligkeit bedingungsloser Liebe zuteil – die Seligkeit des Einsseins mit der Mutter. Dies ist der erste Dialog, der menschlicher Liebe zugrunde liegt. Die späteren Mutter-Kind-Dialoge betreffen die Art und Weise, wie das Kind sich aus dem Zustand des Einsseins mit der Mutter löst. Mit der Loslösung wird es lernen, welchen Bedingungen tatsächliche Liebe gehorcht, und ein Empfinden dafür bekommen, wer es selbst im Unterschied zu allen anderen ist. Alle spätere Liebe und Zwiesprache ist ein Bestreben des Menschen, seine Sehnsucht nach Wiederherstellung der verlorenen Glückseligkeit des Einsseins und sein ebenso intensives Bedürfnis nach Getrenntsein und eigenständiger Individualität in Einklang zu bringen. Diese Versöhnung wird Konstanz genannt.

 



 

  Die Versöhnungsbestrebungen der Konstanz sind mannigfaltig. Wir verbringen den größten Teil unseres Erwachsenenlebens damit, die Dilemmata unserer zweiten Geburt wieder und wieder zu lösen. Da wir alle diese zweite Geburt in einem Zustand des Einsseins mit der Mutter begonnen und Individualität durch das allmähliche Erkennen unseres Getrenntsein von ihr erworben haben, sind diese Dilemmata das unvermeidliche Los jedes Menschen – jeder menschlichen Gesellschaft.

  Während der Säugling aus dem Zwischenreich des Neugeborenendaseins in das Einssein mit der Mutter hinüberwechselt, verschmilzt sein Körper mit dem ihren. Aus seiner Sicht gibt es kleine Grenzen zwischen ihm und der Mutter. Sie sind eins. So entdecken wir erstmals die Seligkeit der Vereinigung und inneren Harmonie. So beginnt unsere psychische Geburt. Im Einssein des Verschmelzens ging es uns wunderbar, und alles, was uns umgab, fügte sich in unser inneres Empfinden von Lust und Wohlgefühl. Dennoch waren diese ersten Monate nicht nur Harmonie. Lästige Spannungen, das Gefühl. das Gleichgewicht zu verlieren, extreme Hitze oder Kälte, Verdauungsstörungen veranlassten uns, uns von der Mutter fortzuwenden – fort von der Seligkeit und dem körperverschmelzenden Einssein. Unsere Seele war bereits gezeichnet von den Gefahren des Getrenntseins. Getrenntsein wurde mit Schmerz gleichgesetzt. Warum haben wir dann das Einsssein überhaupt verlassen und uns bemüht, ein eigenes, getrenntes Selbst zu werden? So stark wie die Sehnsucht nach dem Einssein war der Drang, fortzustreben, Distanz zu suchen, die Welt außerhalb der Mutter-Kind-Sphäre zu erforschen, ein Selbst zu sein.

  Niemand musste uns sagen, wann es Zeit war, das selige Reich, unserer Mutter Schoß zu verlassen. Den Drang, uns zu lösen, trugen wir in uns - in unserem Körpergeist, in der Lebenskraft unserer erstarkenden Muskeln, in unseren schauenden Augen, unseren hörenden Ohren, unseren ausgreifenden Händen.

  Aus dem Dialog des Einsseins erfährt der Säugling allmählich von der Gegenwart der Mutter dort draußen, in der Welt. Wenn er fünf Monate ist, erleuchtet ihm ihre Gegenwart den Weg in die kleine vertraute Welt außerhalb der gemeinsamen Sphäre. Durch seine Vorsicht gegenüber Fremden und durch die Art und Weise , wie es sich durch einen Blick auf die Mutter vergewissert, verrät uns das acht Monate alte Kind, dass ihm das Getrenntsein immer noch nicht ganz geheuer ist. Mit zwölf Monaten strebt das Kind mutiger von der Mutter fort. Es steht auf und geht weg. Mit diesen Schritten, die ihn aus eigener Kraft forttragen, hat der Körpergeist des Kindes den Augenblick der Volkommenheit erreicht. Die Welt gehört ihm - und er ist der mächtige Eroberer all dessen, was er erblickt. Seine Freude und Großartigkeit finden in der Ausgelassenheit seines Laufens, Springens und Kletterns, seines Schauens und Benennens ihren Ausdruck.

  Und doch, selbst auf dem Höhepunkt dieser freudigen Phase seines Lebens ist der Säugling noch nicht in der Lage, zu begreifen, dass er und die Mutter getrennte Wesen sind. Seine Heiterkeit beruht zum Teil auf der Illusion , dass die Welt seine Mutter sei - dass ihre Gegenwart die Welt durchdringe. Erst mit etwa achtzehn Monaten, wenn sich zum Körpergeist ein unvollkommen denkender Geist gesellt hat, wird das Kind vollständige Klarheit darüber erlangen, dass die Mutter eine von seiner eigenen unabhängige Existenz führt. Damit sieht es sich der Krise seiner zweiten Geburt gegenüber. Aufruhr ergreift es. die Hochstimmung der vorangegangenen Monate weicht Ernüchterung, Ärger und Traurigkeit. Das Kind würde gerne in die bedingungslose Seligkeit des Einsseins zurückkehren, kann aber das Gefühl des Getrenntseins, den überwältigenden Wunsch, seinen Körper und Geist für sich zu beanspruchen, nicht mehr preisgeben. Es beginnt, sich um das Verständnis der Bedingungen wirklicher Liebe zu bemühen. Im Laufe des nächsten oder der nächsten zwei Jahre wird es lernen, dass es möglich ist, ein eigenständiges Selbst zu sein, ohne das Gefühl von Wohlsein und Ganzheit zu verlieren, dass es die Liebe seiner Eltern und die Selbstliebe bewahren und doch einen eigenen Geist und einen eigenen Körper besitzen kann.

  Mit drei Jahren wird das Kind ein erstes Gefühl für Getrenntsein und Identität erworben haben. Doch haben die Versöhnungsversuche zwischen Einssein und Getrenntsein erst angefangen. Der Dreijährige besitzt erst ein geringes Maß an Konstanz - gerade genug, um ihm das Gefühl der Sicherheit in der Welt zu geben, obwohl ihm jetzt klar ist, dass sein Selbst von dem seiner Mutter getrennt ist.

  Er kann das positive Bild seiner Mutter bewahren, auch wenn er im Kindergarten ist oder Freunde besucht. Gelegentlich wird ihn nach ihrer Gegenwart verlangen, er wird das Getrenntsein von der Mutter jedoch nicht in die Phantasievorstellung verwandeln, sie sei eine schlechte, frustrierende Mutter, die aufgehört habe, sich um ihn  zu kümmern oder ihn zu lieben. Das Wohlgefühl des Klenkindes erwächst daraus, dass es innerlich genügend Erfahrung von einer guten Mutter und einem guten Selbst aufgebaut hat, um als eigenständiges Selbst auch dann funktionieren zu können, wenn es möglicherweise wütende, hasserfüllte Gedanken sich selbst oder seinen Eltern gegenüber verspürt. Hat das Kind ein hinreichend positives Bild von sich und der Mutter, kann es von seinen "schlechten" Gefühlen nicht überwältigt werden. Es läuft nicht Gefahr, anzunehmen, es müsse ein in jeder Hinsicht vollkommenes Kind oder ein sich anklammerndes Nichts sein, um sich und seine Eltern vor seiner schrecklichen Schlechtigkeit zu schützen. Wenn solch ein Kind erwachsen wird, wird es den Menschen, den es liebt, nicht zurückweisen und gegen einen anderen austauschen in dem Augenblick, da er nicht mehr da ist, um ihm Befriedigung zu verschaffen. Es wird diesen Menschen auch dann noch schätzen, wenn er es enttäuscht oder im Stich lässt.

 

Charlie Rose: A panel discussion about Sigmund Freud
    with Louise Kaplan, Peter Gay, Michael Roth, and Adolf Grunbaum
on Wednesday, May 12, 1999

 

 

 

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Januar 2013