Eine
Medienlandschaft ohne Fernsehen:

Als das Grundgesetz entstand

 

   Als nach dem zweiten Weltkrieg die verfassungsgebende Versammlung auf Herrenchiemsee unser Grundgesetz ausarbeitete, das dann in der alten Bundesrepublik am 23. Mai 1949 in Kraft trat, da gab es in Europa noch kein Fernsehen. Die "allgemein zugänglichen Quellen"*, aus denen sich die Bevölkerung damals unterrichtete, waren Presse, Rundfunk und Kino-Wochenschau.

Noch existierte in Europa keine Vorstellung von einem elektronischen Medium, das dereinst mit der unwiderstehlichen, suggestiven Macht seiner bewegten Klang- und Bilderwelten in den Wohnungen der Menschen triumphal Einzug halten würde; erst recht konnte niemand im alten Europa etwas ahnen von den unerhörten, neuartigen Beeinflussungsmöglichkeiten eines derartigen Mediums.

   Und so nimmt denn auch der Artikel 5 des Grundgesetzes zur Meinungs- und Pressefreiheit noch nicht bezug auf die möglichen Gefahren unterschwelliger Beeinflussung der Individuen vor allem durch elektronische Massenmedien. Diese Enthaltung ist allerdings, auch wenn es noch kein Fernsehen gab, insofern kurios, als die Schöpfer des Grundgesetzes, die zweifellos vom ernsten Willen beseelt waren, jede mögliche Form zukünftiger Tyrannei von vornherein auszuschließen, noch sehr deutlich den heiser-suggestiven Klang jener Stimme im Ohr haben mußten, die vor allem über das Radio (den sogenannten "Volksempfänger") zwölf Jahre lang einem ganzen Staatsvolk den Willen seines "Führers" eingehämmert hatte.

   Und ebenso stark war damals noch, so müssen wir annehmen, die allgemeine Erinnerung an die überwältigende Macht symbolträchtiger Bilder und Zeichen, die - wie das magisch-aggressive Hakenkreuz - unzählige Individuen immer wieder unterhalb der Sprachebene suggestiv eingeschworen hatten auf die Doktrin ihres Herrschers und seiner Gefolgschaft. Unvergessen waren schließlich mitreißende Propagandafilme, die - wie etwa Leni Riefenstahls grandios konzipiertes Werk "Triumph des Willens" - den Massen immer wieder virtuos zu suggerieren vermochten, daß der Wille des "Führers" auch ihr eigener Wille sei.

   Wir wissen nicht, was die Schöpfer unseres Grundgesetzes bewog, von ihrer eigenen bitteren Erfahrung abzusehen, daß doch vor allem Rundfunk und Film die (mißbrauchten) Instrumente gewesen waren, mit deren Hilfe der Diktator (samt Gefolgschaft) seine ideologische Herrschaft errichtet hatte - weil er ein untrügliches Gespür hatte für deren  massenpsychologische Anwendungsmöglichkeiten - die massenpsychologische "Klaviatur" - dieser Instrumente.

Evident ist nur, daß im Artikel 5 keine Spur einer Auseinandersetzung mit dieser zwölf Jahre währenden, ebenso untergründigen wie allumfassenden Realität zu finden ist. Er wurde so hoffnungsfroh abgefaßt, als hätten sich - mit dem Verschwinden des Naziterrors - ein für allemal auch die Gefahren psychologischer Massenbeeinflussung in Luft aufgelöst. die vor allem von elektronischen Massenmedien für die Gesellschaft immer wieder ausgehen können, wenn sie in die Hände von Personen geraten, die keine Skrupel haben, die strukturellen Beeinflussungsmöglichkeiten dieser Medien für ihre Zwecke auszubeuten.

   Unter dem südlichen Licht einer bezaubernd schönen Seenlandschaft entstand so ein Verfassungsgrundsatz, der vom Glauben getragen zu sein scheint, daß von nun an Vernunft und "the pursuit of happiness" das Verhältnis von Medien und Gesellschaft schon immer wieder ausbalancieren und letztlich zum besten aller im Gleichgewicht halten würden.

   Dieser optimistischen Annahme entsprechend setzt der Artikel 5 in Absatz 1 außerdem stillschweigend voraus, daß die Verbreiter und die Empfänger von Meinungen und Botschaften zwei Kategorien immer gemeinsam haben: eine gemeinsame Sprache, in der jeder Begriff seine fest umrissenen Haupt- und Nebenbedeutungen hat, sowie die gemeinsame Gewißheit, daß die Überzeugungsmacht aller Rede (bei aller im Einzelfall möglichen Subjektivität und Mehrdeutigkeit) letzlich doch stets in der Rationalität des Gesagten begründet sein muß und auch begründet ist.

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   So weit das Ideal einer vom "natürlichen Licht der Vernunft" geleiteten humanen und demokratischen Massenkommunikation. Wir sahen allerdings mit der Zeit , daß die Wirklichkeit mit diesem Ideal umso weniger übereinstimmt, je mehr der (angebliche) Zwang zur Erzielung von Maximalgewinnen die Produktion der Massenmedien bestimmt.

 

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*Art. 5. 1 GG: "Jeder  hat das Recht, seine Meinung in Wort, Bild und Schrift frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt."

 

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