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Robert Menasse
Ein kühles Statement . . . "Wie es sich mit
dem Problem der demokratischen Legitimation der EU-Institutionen
wirklich verhält, begann ich im Mai 2010 zu lernen, während jenes
Gipfels des Europäischen Rats, bei dem es erstmals dezidiert um
Rettungsmaßnahmen wegen der bedrohlichen Höhe des griechischen
Haushaltsdefizits ging. In ein Bündnis
von Nationalstaaten seine nationalen Interessen einzubringen, der
Anspruch, sie in einem nachnationalen Prozess aufzuheben, kann
vernünftig und notwendig sein. Dabei müsste man allerdings
diskutieren, was in einem solchen Prozess nationale Interessen
sinnvollerweise wären: etwa der Anspruch, die in einem
Nationalstaat bereits erkämpften und durchgesetzten Standards von
demokratischer Partizipation, Bürgerrechten , sozialem Ausgleich,
Umweltschutz et cetera nicht zurückzulassen. Aber diese Diskussion
wurde nie wirksam geführt. Im Gegenteil: Die politischen und
wirtschaftlichen Eliten vor allem der mächtigen Mitgliedstaaten
haben diese Standards zum Schaden der eigenen Bevölkerung gesenkt,
immer wieder auch mit der apodiktischen Begründung, dass just dies
für die europäische Integration und/oder 'Wettbewerbsfähigkeit'
unabdingbar erforderlich und 'ohne Alternative' sei." (S.30-32)
"[Im Beamtenapparat] der Kommission gibt es keine finsteren Gestalten, keine Faschisten und Antieuropäer (wie sie heute auch im Parlament sitzen), keine gebeugten Opportunisten (wie in den nationalen Regierungsapparaten), die aber nicht von der Last ihrer Verantwortung, sondern vom Druck der mächtigsten Partikularinteressen gebeugt sind, es gibt in der europäischen Bürokratie keine ressentimentgeladenen Köche eigener Süppchen und keine Kühler von Mütchen. Es gibt vielleicht Zyniker - sie haben Erfahrung. Es gibt sicherlich Missionare - sie haben Engagement für aufgeklärte Anliegen. Es gibt vor allem wirkliche Pragmatiker - sie nutzen und dehnen jede Möglichkeit, die das jeweilige Kräfteverhältnis bietet. Gemeinsam ist ihnen das aufgeklärte Denken in übernationalen Kategorien. Sie denken weit voraus, in der vor kurzem (mit Abstrichen durch den Rat) Agenda bis 2020, in der 'Groupe de reflexion' bereits bis 2030. Immer mit dem expliziten Anspruch, die sozialen Errungenschaften Europas zu sichern und auszubauen und eine stärkere gemeinsame wirtschaftspolitische Steuerung durchzusetzen. Man muss sich einmal von den Beamten erzählen lassen, wie es ist, wenn man etwa seit Jahren an Konzepten zur Bewältigung der Haushaltskrise arbeitet und zuschauen muss, wie diese regelmäßig von den Regierungschefs im Rat zurückgeschickt weden, damit diese dann zu Hause ihren Wählern berichtenkönnen, was sie alles zur Verteidigung 'nationaler Interessen' gegen die 'böse EU' durchgesetzt beziehungsweise im Interesse ihrer Wähler verhindert haben. Als dann die Krise dramatisch geworden war, gaben die Regierungschefs der Kommission den 'Auftrag, Vorschläge zur Lösung der Finanzkrise auszuarbeiten', genau diese also, die sie im Rat zuvor regelmäßig vom Tisch gewischt hatten . . . [...] Aber vielleicht funktioniert ja noch einmal die historische List der Vernunft: Mit jedem kleinen Schritt, der nun doch von der Krise erzwungen wird, voran auf dem Weg zu einer nachnationalen Entwicklung zur gemeinsamen Lösung der bereits weitgehend verflochtenen Probleme, müssen die Nationalstaaten und damit auch der Rat an Bedeutung einbüßen. Am Ende wird man die Regierungschefs höflich hinausbitten, wenn eine neue Demokratie sich entfaltet, als Check-and-Balance-System zwischen einem echten europäischen Parlament der Regionen und dem aufgeklärten, josephinischen Beamtenapparat der Kommission." (S. 41-43)
"Das Problem ist
also der Europäische Rat. Er ist die vorgeblich demokratisch
legitimierte gemeinschaftliche Institution - die allerdings nicht
die Demokratie, sondern den Nationalismus auf eine neue Ebene
gehoben hat und so dafür sorgt, dass sowohl die Gemeinschaft als
auch jeder Mitgliedstaat für sich Probleme bekommt, die durch kein
uns zur Verfügung stehendes demokratisches Instrumentarium gelöst
werden können [...] Wie entledigt man sich einer Konstruktion, die ursprünglich unvermeidlich und notwendig war und die nur eine vorläufige sein sollte, die aber nur abgeschafft werden kann, wenn die Beteiligten ihrer eigenen Abschaffung zustimmen? Solange die Union aus [28] Nationalstaaten besteht, muss jeder Staat darin seine Stimme haben. Aber ab einem gewissen Punkt der nachnationalen Entwicklung sind diese Stimmen, die im Rat die Interessen der Nationalstaaten repräsentieren, zum Störfeuer in jenem vernünftigen und gewünschten Prozess geworden, der von der Kommission befördert werden sollte. In der Kommission sitzen nicht
die Neoliberalen, zumindest haben sie dort nicht die
Deutungshoheit über die Welt. Der neoliberale Einfluss kommt über
die nationalstaatlichen Interessen herein. Es ist, lehnt man sich
zurück und denkt darüber nach, völlig verrückt: Die
Nationalstaaten betreiben durch Privatisierungen, Sozialabbau und
Rückzug von wesentlichen Staatsaufgaben einen systematischen
Staatsaufbau, aber dort, wo die Nationalstaaten vernünftigerweise
zurückgebaut werden sollten, in der Europäischen Gemeinschaft,
dort spielen sie starker Staat.
"[Man darf] nationale Identität nicht mit Mentalität verwechseln. Es sind nicht Mentalitätsunterschiede, die zu unterschiedlichen nationalen Identitäten und also zu Grenzziehungen führen, es ist historisch erwiesenermaßen umgekehrt: Mentalitätsunterschiede entstehen nach Grenzziehungen. Wenn unterschiedliche Mentalitäten die Subsumierung unter das Abstraktum nationale Identität verhindern könnten oder müssten, dann hätte die DDR nie mit der BRD vereinigt werden dürfen. Im Übrigen entstehen Mentalitäten unabhängig von nationalen Grenzen, in den Bergen Tirols eine andere als in den Weingärten Niederösterreichs. Europa ist in
Wahrheit ein Europa der Regionen. Die Aufgabe europäischer Politik
wäre es, Europa politisch zu dem zu machen, was es faktisch ist."
Erfahrungsfortschritt der
Allerdings ist die Krise, in der sich das europäische Projekt befindet, natürlich nicht allein auf den menschlichen Faktor zurückzuführen, auf Sozialisation und Prägungen der gegenwärtigen Führungspersönlichkeiten. Tatsächlich ist das Knirschen und Krachen im Fundament und im Gebälk Europas die logische Konsequenz von Konstruktionsfehlern der Union [...]." S. 48 f.
Zuruf an die politischen Eliten: "Wem das zu
utopisch klingt: Die Römischen Verträge schienen ein Jahr nach
ihrer Unterzeichnung noch völlig unrealistisch. Der Mauerfall war
noch am Tag davor völlig utopisch. Wenn es eine historische
Erfahrung meiner Generation gibt, dann diese: Die sogenannte
pragmatische Vernunft der sogenannten Realisten hat sich vor der
Geschichte dramatisch lächerlich gemacht. Es ist aufgrund
unserer Erfahrungen die Pflicht meiner Generation, den politischen
Eliten immer wieder zuzurufen: "Denke an die Römischen Verträge
oder erinnere dich an den Fall der Berliner Mauer! Es ist viel
mehr möglich, als du heute für machbar hältst." (S. 89) P.S.: Einzelne
Sätze in Menasses Text wurden von der Redaktion kursiv
markiert.
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Juni 2014