Copyright by Robert Menasse
 und Hanser-Literaturverlage


Nachfolgend zitieren wir Auszüge
aus Menasses Schrift.
 

Ein kühles Statement . . .

"Wie es sich mit dem Problem der demokratischen Legitimation der EU-Institutionen wirklich verhält, begann ich im Mai 2010 zu lernen, während jenes Gipfels des Europäischen Rats, bei dem es erstmals dezidiert um Rettungsmaßnahmen wegen der bedrohlichen Höhe des griechischen Haushaltsdefizits ging.

Zunächst erlebte ich am 6. Mai, am Vorabend des Gipfels, im ruhigen, eleganten Café Cirio in Brüssel Folgendes: Fünf deutsche Touristen, befeuert von belgischem Starkbier, begannen dröhnend über "die Griechen" zu schimpfen. Es wurde unangenehm, nicht nur wegen der Lautstärke, sondern wegen der abfälligen Klischees, die sie von sich gaben. Brüssel ist, ich sagte es schon, eine polyglotte Stadt. Der Kellner geht hin und sagt auf Deutsch: 'Sie wollen zahlen?' Ein Deutscher: 'Nein. Wir wollen noch nicht zahlen. Wir haben keine Rechnung bestellt.'
Der Kellner: 'Dass Sie nicht zahlen wollen, können Sie drüben im Ratsgebäude erzählen. Hier müssen Sie zahlen und bitte gehen.'

Das war natürlich kein nationalistischer Reflex des Kellners gegen 'die Deutschen', gegen ihr physisch aufstampfendes Klischeebild, sondern ein kühles Statement zum demonstrativen Nationalismus dieser Deutschen gegen die ' faulen und korrupten Griechen'. Bemerkenswert dabei, dass der Kellner, durch seinen Verweis auf den Rat, das Verhalten der Deutschen in Beziehung zur deutschen Europapolitik setzte - die damals, im Frühjahr 2010, seit ich mich im Brüssel aufhielt, allerorten diskutiert wurde [...]

In ein Bündnis von Nationalstaaten seine nationalen Interessen einzubringen, der Anspruch, sie in einem nachnationalen Prozess aufzuheben, kann vernünftig und notwendig sein. Dabei müsste man allerdings diskutieren, was in einem solchen Prozess nationale Interessen sinnvollerweise wären: etwa der Anspruch, die in einem Nationalstaat bereits erkämpften und durchgesetzten Standards von demokratischer Partizipation, Bürgerrechten , sozialem Ausgleich, Umweltschutz et cetera nicht zurückzulassen. Aber diese Diskussion wurde nie wirksam geführt. Im Gegenteil: Die politischen und wirtschaftlichen Eliten vor allem der mächtigen Mitgliedstaaten haben diese Standards zum Schaden der eigenen Bevölkerung gesenkt, immer wieder auch mit der apodiktischen Begründung, dass just dies für die europäische Integration und/oder 'Wettbewerbsfähigkeit' unabdingbar erforderlich und 'ohne Alternative' sei." (S.30-32)
 


In der Kommission
gibt es keine finsteren Gestalten
 

"[Im Beamtenapparat] der Kommission gibt es keine finsteren Gestalten, keine Faschisten und Antieuropäer (wie sie heute auch im Parlament sitzen), keine gebeugten Opportunisten (wie in den nationalen Regierungsapparaten), die aber nicht von der Last ihrer Verantwortung, sondern vom Druck der mächtigsten Partikularinteressen gebeugt sind, es gibt in der europäischen Bürokratie keine ressentimentgeladenen Köche eigener Süppchen und keine Kühler von Mütchen. Es gibt vielleicht Zyniker - sie haben Erfahrung. Es gibt sicherlich Missionare - sie haben Engagement für aufgeklärte Anliegen. Es gibt vor allem wirkliche Pragmatiker - sie nutzen und dehnen jede Möglichkeit, die das jeweilige Kräfteverhältnis bietet. Gemeinsam ist ihnen das aufgeklärte Denken in übernationalen Kategorien. Sie denken weit voraus, in der vor kurzem (mit Abstrichen durch den Rat) Agenda bis 2020, in der 'Groupe de reflexion' bereits bis 2030. Immer mit dem expliziten Anspruch, die sozialen Errungenschaften Europas zu sichern und auszubauen und eine stärkere gemeinsame wirtschaftspolitische Steuerung durchzusetzen.

Man muss sich einmal von den Beamten erzählen lassen, wie es ist, wenn man etwa seit Jahren an Konzepten zur Bewältigung der Haushaltskrise arbeitet und zuschauen muss, wie diese regelmäßig von den Regierungschefs im Rat zurückgeschickt weden, damit diese dann zu Hause ihren Wählern berichtenkönnen, was sie alles zur Verteidigung 'nationaler Interessen' gegen die 'böse EU' durchgesetzt beziehungsweise im Interesse ihrer Wähler verhindert haben. Als dann die Krise dramatisch geworden war, gaben die Regierungschefs der Kommission den 'Auftrag, Vorschläge zur Lösung der Finanzkrise auszuarbeiten', genau diese also, die sie im Rat zuvor regelmäßig vom Tisch gewischt hatten . . . [...]

Aber vielleicht funktioniert ja noch einmal die historische List der Vernunft: Mit jedem kleinen Schritt, der nun doch von der Krise erzwungen wird, voran auf dem Weg zu einer nachnationalen Entwicklung zur gemeinsamen Lösung der bereits weitgehend verflochtenen Probleme, müssen die Nationalstaaten und damit auch der Rat an Bedeutung einbüßen. Am Ende wird man die Regierungschefs höflich hinausbitten, wenn eine neue Demokratie sich entfaltet, als Check-and-Balance-System zwischen einem echten europäischen Parlament der Regionen und dem aufgeklärten, josephinischen Beamtenapparat der Kommission." (S. 41-43)



Der Europäische Rat
 

"Das Problem ist also der Europäische Rat. Er ist die vorgeblich demokratisch legitimierte gemeinschaftliche Institution - die allerdings nicht die Demokratie, sondern den Nationalismus auf eine neue Ebene gehoben hat und so dafür sorgt, dass sowohl die Gemeinschaft als auch jeder Mitgliedstaat für sich Probleme bekommt, die durch kein uns zur Verfügung stehendes demokratisches Instrumentarium gelöst werden können [...]

In der Europäischen Union und in der globalisierten Welt kann nationaler Furor nie wirklich befriedigt werden. Und die Wut wird maßlos werden, wenn die Menschen begreifen, dass die 'Verteidigung nationaler Interessen' von Anfang an ein Betrug war: Verteidigt werden ja nur die Interessen der nationalen politischen und (finanz)wirtschaftlichen Eliten." (S. 57-59)

Wie entledigt man sich einer Konstruktion, die ursprünglich unvermeidlich und notwendig war und die nur eine vorläufige sein sollte, die aber nur abgeschafft werden kann, wenn die Beteiligten ihrer eigenen Abschaffung zustimmen?

Solange die Union aus [28] Nationalstaaten besteht, muss jeder Staat darin seine Stimme haben. Aber ab einem gewissen Punkt der nachnationalen Entwicklung sind diese Stimmen, die im Rat die Interessen der Nationalstaaten repräsentieren, zum Störfeuer in jenem vernünftigen und gewünschten Prozess geworden, der von der Kommission befördert werden sollte.

In der Kommission sitzen nicht die Neoliberalen, zumindest haben sie dort nicht die Deutungshoheit über die Welt. Der neoliberale Einfluss kommt über die nationalstaatlichen Interessen herein. Es ist, lehnt man sich zurück und denkt darüber nach, völlig verrückt:   Die Nationalstaaten betreiben durch Privatisierungen, Sozialabbau und Rückzug von wesentlichen Staatsaufgaben einen systematischen Staatsaufbau, aber dort, wo die Nationalstaaten vernünftigerweise zurückgebaut werden sollten, in der Europäischen Gemeinschaft, dort spielen sie starker Staat.

'Weniger Staat' müsste mehr Europa bedeuten und nicht die Zerstörung von beidem: von Staat und Europa."


Das Europa der Regionen
 

"[Man darf] nationale Identität nicht mit Mentalität verwechseln. Es sind nicht Mentalitätsunterschiede, die zu unterschiedlichen nationalen Identitäten und also zu Grenzziehungen führen, es ist historisch erwiesenermaßen umgekehrt: Mentalitätsunterschiede entstehen nach Grenzziehungen. Wenn unterschiedliche Mentalitäten die Subsumierung unter das Abstraktum nationale Identität verhindern könnten oder müssten, dann hätte die DDR nie mit der BRD vereinigt werden dürfen. Im Übrigen entstehen Mentalitäten unabhängig von nationalen Grenzen, in den Bergen Tirols eine andere als in den Weingärten Niederösterreichs.

Europa ist in Wahrheit ein Europa der Regionen. Die Aufgabe europäischer Politik wäre es, Europa politisch zu dem zu machen, was es faktisch ist."
 

Erfahrungsfortschritt der
Erasmusgeneration


"Die Generation Kohl wusste aufgrund ihrer biografischen Prägungen besser, worum es bei dem Projekt Europa ging. Die Generation nach Merkel, die Erasmusgeneration, weiß es, aufgrund ihrer konkreten Erfahrungen mit den europäischen Errungenschaften, anders und wieder besser. [...]

Allerdings ist die Krise, in der sich das europäische Projekt befindet, natürlich nicht allein auf den menschlichen Faktor zurückzuführen, auf Sozialisation und Prägungen der gegenwärtigen Führungspersönlichkeiten. Tatsächlich ist das Knirschen und Krachen im Fundament und im Gebälk Europas die logische Konsequenz von Konstruktionsfehlern der Union [...]." S. 48 f.

 

Zuruf an die politischen Eliten:
 

"Wem das zu utopisch klingt: Die Römischen Verträge schienen ein Jahr nach ihrer Unterzeichnung noch völlig unrealistisch. Der Mauerfall war noch am Tag davor völlig utopisch. Wenn es eine historische Erfahrung meiner Generation gibt, dann diese: Die sogenannte pragmatische Vernunft der sogenannten Realisten hat sich vor der Geschichte dramatisch lächerlich gemacht. Es ist aufgrund unserer Erfahrungen die Pflicht meiner Generation, den politischen Eliten immer wieder zuzurufen: "Denke an die Römischen Verträge oder erinnere dich an den Fall der Berliner Mauer! Es ist viel mehr möglich, als du heute für machbar hältst." (S. 89)
 

P.S.: Einzelne Sätze in Menasses Text wurden von der Redaktion kursiv markiert.

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