ALFRED POLGAR
 


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Alfred Polgar war Verfasser von zeitkritischen Feuilletons, Skizzen, Erzählungen , Prosa zu Fragen der Literatur und des literarischen Lebens, Theaterrezensionen und dramatischen Szenen. Er war kritischer Schriftsteller, unbeugsamer Pazifist, skeptischer Humanist und Stilist von Rang.
1873 wurde er als drittes Kind des "Claviermeisters" (späteren Klavierschulinhabers) Josef Polak und seiner Frau Henriette, geb. Steiner, in Wien Leopoldstadt (II. Bezirk) geboren. - Nach dem "Anschluß" Österreichs ans Deutsche Reich am 11. März 1938 begann Polgars Flüchtlingsexistenz. Mit seiner Frau Lisl floh er über die Schweiz, Frankreich und von dort zu Fuß über die Pyrenäen nach Spanien. In Lissabon erreichten Sie am 4. Oktober 1940 das Schiff "Nea Hellas", das sie nach New York brachte. Alfred Polgar starb am 24. April 1955 in seinem Zürcher Hotelzimmer.

Wir entnehmen die folgenden Texte und Textauszüge dem Buch "Alfred Polgar. Das große Lesebuch", das Harry Rowohlt zusammengestellt und herausgegeben hat und das im Verlag Kein & Aber AG Zürich erschienen ist. (4. Auflage 2004).

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1921 (1921 / 1929)

Das ist ein Herbst, wie er, so weit die Erinnerung der Lebenden reicht, noch nicht da war. Kein Mensch, der es nicht wüßte, sähe dem Jahr die neun Monate an. Es sieht aus wie sieben. Weich gepolstert ist die Luft. Man ruht aus, wenn man sich an sie lehnt. Licht und Wärme sind üppig ausgegossen über jeden Tag: es sonnenscheint in Strömen, möchte man sprechen. Was grün war, ist noch immer grün, neu blüht die Kastanie, in Gärten spielen sommerlich die Kinder, strampeln Wiegensäuglinge sich den Flanell vom Leibe. Die Fliege summt, wie in Hundstagen stinkt es in der Straßenbahn, schmachtet das Herz nach Bier und Liebe.

Jedoch, was nützt das alles gegen die ökonomische Trübsal, die Wien blasen muß, übertönend alle Musik, deren es voll ist! Panische Flucht vor der Krone durchrast die Stadt, und keine Flucht gibt es vor solcher Flucht. Die tödlich erschreckten Preise klettern aufs Dach, aber die Banknotenüberschwemmung schwillt ihnen nach und treibt sie auf den Turm und vom Turm auf die Turmspitze und von dort ins Blitzblaue. Der fleißige Börsianer, der mit List und Wagemut aus 100 000 Kronen in ein paar Stunden 200 000 gemacht hat, muß erkennen, daß seine 200 000 genau so viel wert sind wie vor ein paar Stunden seine 100 00. Der brave Kaufmann, der zehn Waggons seiner Ware an den Mann gebracht hat, kann um den Erlös nur mehr fünf Waggons gleicher Ware anschaffen. Es ist ihm also dank guten Geschäftsgangs geglückt, seinen Besitz um die Hälfte zu vermindern. Von solchen vitiosen Zirkeln, Trugschlüssen, Selbsttäuschungen, Irrwischen, Halluzinationen, Blendungen, banknotenblauem Dunst, Widersinnigkeiten, Fallstricken, Seifenblasen, faulen Fischen, Sand in die Augen und Labyrinthen ist unser wirtschaftliches Leben derart durchsetzt, daß weder der klügste Gauner noch der geriebenste Bankdirektor in dem Chaos sich zurechtfindet.

[...] Alle Welt macht Geschäfte und jammert über die Schieber. Du glaubst, geschoben zu werden, und du schiebst! Die fremde Valuta steigt, wenn man sie braucht, und fällt, wenn man sie bekommt. In der vorigen Woche hatten wir eine Sonnenfinsternis, eine kleine unbedeutende österreichische Sonnenfinsternis. Die Schulkinder standen mit ihren Lehrern auf der Straße und sahen durch berußte Glasscheiben auf das populäre Gestirn. Von der Großartigkeit der kosmischen Mechanik erschüttert, gingen sie dann nach Hause und beschlossen, edle Menschen zu werden. Die Echtheit des Napoleon-Schreibtischs, den der dicke Bankier R. um dreizehn Millionen Kronen bei einer Auktion erstanden hat, wird angezweifelt. So echtwertig wie die dreizehn Millionen österreichischer Valuta wird er schon noch sein. In der Leopoldstraße ist ein Sprachlehrer verhungert; die Abendblätter widmeten ihm einen ehrenden Nachruf. Der Mensch ist aber auch in den Gefilden der Sättigung nicht unbedingt glücklich. So hat sich im Speisesaal eines Ringstraßenhotels eine junge Frau zwischen Entrecote und Patisserie erschossen. In der allgemeinen Aufregung bewahrte der Geschäftsleiter seine Geistesgegenwart, indem er dem erregt heranstürzenden Rechnungsführer des Speisesaals zurief: "Sie bleiben bei der Kassa!" Ein Wort, das in seiner überlegenen Größe dem berühmten "la séance continue" gleichkommt [...]

 

Vorstadtmärchen (1929)


". . . da kam der Prinz herangefahren in einem Wagen aus lauterem Golde. Acht Schimmel zogen den, und auf ihren Köpfen wippten scharlachrote Federn, und ihr Geschirr war aus purem Silber und mit Edelsteinen besetzt . . . Hörst du zu?" fragte die Mutter.
"Ja", antwortete das Kind und blickte teilnahmslos.
"Die Prinzessin aber ritt ihm entgegen auf einem Falben. Sie trug ein Kleid aus Brokat und einen Gürtel aus Perlen, jede so groß wie eine Nuß, und ein Diadem aus Smaragden und Rubinen, und die Hofdamen mußten die Augen mit ihren Schleiern bedecken, so blendete sie der Glanz. Und zwanzig Jungfrauen streuten Rosen . . . Du hörst ja nicht zu", sagte die Mutter.
"Ja", antwortete das Kind und blickte teilnahmslos.
". . . die streuten Rosen auf den Weg. Und da hob der Prinz die Prinzessin vom Pferde, und sie traten in das Schloß, das aus lauter Jaspiz und Quarz war, und kamen in einen Saal, in dem hunderttausend Kerzen brannten . . ."
"Ja", sagte das Kind.
". . . Und die Diener brachten auf goldenen Schüsseln Fleisch und Kuchen und Obst . . ."
". . . Hörst du zu?" wollte die Mutter fragen, aber der Märchenglanz in des Kindes Augen ersparte ihr die Frage.

 

Verantwortung (1919)


Die leitenden Staatsmänner und Generale übernehmen "die Verantwortung" für das Schicksal, das sie den Völkern auferlegen.
Aber was heißt in dem Fall: Verantwortung?
Einer ungeheueren Verantwortung müßte doch ein ungeheueres Risiko dessen entsprechen, der sie übernimmt.
Ein unterernährter, müdgearbeiteter Motorführer, der durch ungeschicktes Lenken seines Wagens ein Malheur anrichtet, wird eingesperrt.
Was geschieht dem Staatsmann, der durch ungeschicktes Lenken des Staatswagens ein Malheur anrichtet?
Er geht in Pension.
Wenn durch des Motorführers Verschulden ein Mensch getötet wird, wandert der Motorführer auf Jahre ins Gefängnis.
Wenn der Feldherr nutzlos, erfolglos Zehntausende seiner Soldaten in den Tod geschickt hat, was erwartet ihn?
Ein Häuschen im Cottage. Dort pflanzt er, in einem verschnürten Samtrock und das Käppi auf dem Haupt, Rosen. Seine Lieblingssorten. Und schreibt Memoiren.
"Ich übernehme die Verantwortung", sagt der Minister so und so. Vor der Größe und dem kühnen Stolz dieses Wortes erbleichen die Zeitgenossen.
Aber es steht gar nicht das geringste dahinter.
Verantwortung ohne Sühne, deren Ungeheuerlichkeit der Ungeheuerlichkeit jener entspräche, ist ein leeres Wort.
Den Motorführer richten die Gerichte.
Den Staatsmann und den General richtet die Geschichte.
Sie überlassen ihr - so sagen sie im kritischen Fall - "ruhigen Herzens das Urteil"!
Großartig, was? Erschütternd, wie?
Der Herr Minister übernahm die Verantwortung? Halt, einen Augenblick! Wieviel Jahre Zuchthaus also, falls die Sache schiefgeht? Oder wie oft wünschen gehängt zu werden?
Was würde Exzellenz darauf antworten? " Ich überlasse das Urteil ruhig der Geschichte."
Und in der Tat haben jederzeit die Verantwortlichen auch nur dann die Konsequenz aus ihrer Übernahme der Verantwortung ziehen müssen, wenn das Volk Geschichte gespielt hat.
 

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Dezember 2011
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