Hugo Distler: Autobiographische Notiz
1936 veröffentlichte die im Bärenreiter-Verlag
erscheinende Zeitschrift zur Musikpflege „Lied und Volk“ eine kurze
autobiographische Notiz von Hugo Distler mit dem Titel „Wie mein ‚Jahrkreis‘
entstand“. Distler rekapituliert darin – in teils sarkastischen Formulierungen
– seinen Erfahrungsweg von seinem Studienort Leipzig nach Lübeck, dem Ort
seiner ersten Anstellung:
Es ist eine richtige Geschichte, die ich davon zu
erzählen habe; freilich eine nur kleine, so unscheinbar, daß ich Bedenken
trüge, sie niederzuschreiben, wäre sie mir nicht mittlerweile zum Inbegriff
einer Lebenserfahrung, mehr noch, zum Gleichnis einer Entwicklung geworden,
die, weil sie durchaus typisch, wohl wert ist, bekannt zu werden und gar
manchem wie damals ich ins Berufsleben Tretenden eine heilsame Lehre zu sein.
Es war im Jahr 1931, als ich mich plötzlich infolge
unvorhergesehener widriger Umstände nicht mehr in der Lage sah, mein Studium an
der bedeutenden deutschen Musikhochschule, an der ich vier Jahre hindurch
Unterricht genossen hatte, weiterhin zu bestreiten. Ich mußte, um nach dem
Ausfall jeglicher Mittel nur wieder Boden unter die Füße zu bekommen, nicht nur
mein mit großer Hingabe und beträchtlichen Hoffnungen betriebenes Studium
sogleich aufgeben, sondern daran denken, ein wenn auch noch so bescheidenes
Unterkommen zu finden. Das bot sich denn auch, wie es der Zufall will, und ich
ging schweren Herzens nach dem äußersten Norden Deutschlands, in eine Mittelstadt,
wo soeben die Stelle eines Organisten an einer Kirche, gar nicht einmal der
Hauptkirche, vakant geworden war, ein Amt, das damals seine Daseinsberechtigung
nur mehr aus der Existenz seiner beiden freilich herrlichen, alten Orgeln
bestritt.
Der Abgang von der Hochschule, der ich so viel zu
verdanken hatte, und der Abschied von der Großstadt und allem, was sie dem
Studierenden geboten, fielen mir in der Tat sehr schwer. Dieser Abschied war
für mich dazumal gleichbedeutend mit dem Verzicht auf Laufbahn und Erfolg in
der Kunst. Ich hatte als strebsam und ehrgeizig gegolten und soeben neben
meinem Kirchenmusikstudium meine ersten erfolgreichen Kompositionen
veröffentlicht. Ich erinnere mich noch meiner ersten großen Arbeit auf dem
Gebiet der geistlichen Chormusik, eines ausgedehnten mehrchörigen a
cappella=Werkes von eminenten technischen Schwierigkeiten. Ich hatte bei der
Komposition wohl gar nicht an irgendwelche praktische technische Maßstäbe
gedacht, und wenn schon, dann an die jenes weltberühmten Chores, den wir am Ort
hatten, für den keine Aufführungsschwierigkeiten mehr zu existieren schienen
und für den zu schreiben, von dem aufgeführt zu werden, unser aller höchstes
Ziel war.*
Es war sehr heilsam für mich, aus diesem Leben im
luftleeren Raum mit harter Hand gerissen zu werden. Vielleicht fände ich heute
die Verhältnisse, wie ich sie an meinem neuen Wirkungsort vorgefunden, nicht
mehr in dem Maße bedrückend, wie ich sie damals empfand und empfinden mußte.
Sie waren indes schwierig genug. Die
Kirche, an der ich zu amtieren hatte, führte dazumal noch eine rechte
Winkelexistenz, die Ratskirche und der altehrwürdige Dom stellten die kleine
„Schiffer“-kirche in den Schatten. Die Besoldung war äußerst dürftig, die
Orgeln selber, der eigentliche Reichtum der Kirche, waren verfallen, die eine,
und zwar die größere von beiden, nahezu unspielbar. Die Organistenstelle war
früher hauptamtlich und mit dem Kantorat verbunden gewesen; die Nachkriegs= und
Inflationszeit waren Schuld an der Trennung der Ämter; das für mich schlimmste
war, daß in der Stadt weitgehend eine begreifliche Abneigung gegen die Besetzung
des schmalen Ämtleins mit einem Auswärtigen vorhanden war, die sich, sobald ich
gewählt, zunächst weiterhin noch gegen mich richtete.
Mein erster Erfolg nach hartnäckigem Kampf war die
Wiedervereinigung der beiden bisher getrennten Kirchenmusikämter. Indes
versetzte mich die veränderte Lage sogleich in neues Ungemach. Ich übernahm von
meinem Vorgänger einen winzigen, miserabel bezahlten Knabenchor, wie es in
manchen norddeutschen Gegenden bei der Singunlust der Gemeinden noch üblich
ist. Dazu mußte ich das Erbe an Notenmaterial antreten, das, in großen Stapeln
und seit manchem Jahrzehnt unverändert und längst vergilbt, den Schrank füllte.
Noch heute ist mir der Schrecken gegenwärtig, der mir beim Eröffnen und Sichten
der Bestände in die Glieder fuhr: da war nichts als die übliche, üble
Chorliteratur aus der Zeit um die Jahrhundertwende, fade, abgestandene und
schlechte Marktware, wie wir sie ja leider heute noch vielerorts antreffen.
Damals tat ich etwas, vor dessen praktischen Folgen
ich lange Zeit hindurch Sorge hatte, das ich allerdings mittlerweile als den
eigentlich ersten Schritt meines Berufs anzusehen gelernt habe. Ich
„entrümpelte“, das heißt, ich verbrannte den ganzen Plunder, nicht ohne mir
vorher von jeder der Motetten ein Partiturexemplar aus den Flammen gerettet zu
haben, zur bleibenden, unrühmlichen Erinnerung an das Chaos, das ich
vorgefunden und aus dem heraus ich meine Arbeit begonnen.
Damit aber nicht genug: der Scheiterhaufen war
entzündet und forderte weitere Opfer. Und, einmal bei der Arbeit, verbrannte
ich noch mehr, sozusagen mein eigenes besseres Ich – all meine angefangenen
oder bereits fertigen zahl= und unfangreichen sinfonischen und chorischen
Monsterwerke nämlich, so, wie sie waren. Angesichts der nüchternen Forderungen
des Tages hatten sie mit einem Mal schier jegliche Bedeutung, ja Sinn und
Berechtigung für mich verloren. Und ich wüßte nachträglich fürwahr schwerlich
zu sagen, welche von beiden feierlichen Inquisitionen sich glückhafter für mich
erwiesen hat. Hätte ich damals Muße und Zeit genug zum Nachdenken gehabt, wäre
mir wohl die Krisis deutlicher zu Bewußtsein gekommen, in der ich mich befand.
Zu meinem Glück hatte ich alle Hände voll zu tun.
Und, um mein Glück voll zu machen, erstand mir in dem einen der beiden Pfarrer
ein treuer Beistand und anregender, verständiger Ratgeber. Da wuchs denn von
Sonntag zu Sonntag Werklein um Werklein, wie es die Kirchenjahreszeit
verlangte, und meine Chorschüler halfen mir getreulich bei der mühevollen
Abschreibarbeit der Chorstimmen. So entstand die Sammlung jener kleinen,
anspruchslosen Sätzchen, die ich dann nachträglich unter dem Titel „Der
Jahrkreis“ veröffentlicht habe. […]. Siehe "Hörbeispiele" S. 8. * Hugo Distler: "Herzlich lieb hab ich dich, o Herr" op. 2
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