An Alfred Kreutz




Ein Feldpostbrief H. Distlers an Alfred Kreuz, als Antwort auf einen Feldpostbrief aus Russland von A. Kreutz.


9.11.41.

Mein lieber Herr Kreutz,

Ihr lieber Brief, der mich sehr beunruhigt, da ich aus ihm deutlich entnehme, wie unendlich schwer Sie es haben, kam zu gleicher Zeit an wie das Telegramm, das anzeigte, daß mein Bruder vor Leningrad gefallen ist.*

Immer mehr kommt mir die Frage: wie und ob es überhaupt so weitergehen kann. Mein Ihnen bekannter Skeptizismus nimmt Formen an, die ans Krankhafte grenzen. Denn zu dem wie und wie lange kommt das wozu. Und wenn ich mir Novalis' herrlichen Spruch vor Augen halte, dann muß ich nur leider sagen, daß es nach menschlichem Ermessen noch ein weiter, weiter Weg ist zu dem verheißenen Ende.

Haben Sie überhaupt Lust, sich von mir, einem Zuhausegebliebenen, erzählen zu lassen? Zunächst beherrscht der Tod meines Bruders das Bild der nächsten Zeit; wie Sie vielleicht wissen, bestehen ja in unserer Familie große Spannungen; ob sie, vor allem die zwischen meiner Mutter und mir, nun durch das traurige Ereignis überwunden werden, kann ich nicht sagen. Zu denken gibt mir, daß nicht meine Mutter mir  den Tod meines Bruders ankündigte, sondern andere Verwandte. Meine Mutter hing mit einer grenzenlosen und einseitigen Liebe an ihm; zu fürchten ist, daß sie unter dem Eindruck ihren letzten Halt verliert und gar ganz verrückt wird. Meine Tante [Anna Dittrich] fuhr nun heute sogleich zu meiner Mutter nach Nürnberg; ich meinerseits warte nun telef. oder telegr. Bescheid meiner Tante ab, in welcher Verfassung sich meine Mutter befindet und was ich tun soll. Heute früh telefonierte ich schon mit meiner Tante: Wir fürchten, daß meine Mutter sich in der ersten Verzweiflung etwas angetan haben kann; denn mit solchen Anwandlungen spielt sie schon lang.

Was mich und meine Familie anlangt, so geht es uns den Umständen nach gut; ich halte mich gerade zum Wochende in Ahlbeck auf, wo meine Frau sich mit den Kindern bis zum 15. Dezember aufhält, weil wir zuhause so wenig Kohlen und bisher kein Mädchen gehabt haben. Hier bekamen Andreas und Barbara die Masern, sind aber übern Berg.

Für mich ist es inzwischen in Berlin reichlich ungemütlich; ich hause bei einer jungen Familie; die Frau ist in meinem Chor.

An der Hochschule geht der Betrieb weiter, so weit es eben die sich verschlechternden Umstände zulassen. Am kommenden Sonntag singt meine Kantorei in der Domvesper einen der großen Bußpsalmen von Orlando di Lasso und die Regermotette "O Tod, wie bitter bist du", am nächsten Tag, am 17., singen wir Mozartkanons in einer der Mozartfeiern der Hochschule.

[...] Die Übernahme des Berliner Staats- und Domchors zum 1.4.42 ist mir offenbar sicher, auch die Leitung des Berliner Musischen Gymnasiums, falls nichts Widriges dazwischen kommt.

[...] Erlaß: Wehrmachtsangehörige, die 3 Jahre (!) aktiv dienen am 15. November, können (!) auf Antrag (!) bis April (!) zum Studium vom Wehrdienst befreit werden.

Erlaß: "Kulturschaffende", älter als Jahrgang 07 sind nach Möglichkeit u.k. = zu stellen. Ich bin 1) kein "Kulturschaffender", 2. Jahrgang  08.

Beim letzten Furtwängler Konzert gab es großen Krach mit Trillerpfeifen u.s.w. Uraufgeführt wurde das Machwerk eines jungen, von Göbbels protegierten Komponisten, der sein Werk - das aus dem
großen Erleben des Krieges entstanden sein soll und einen furchtbaren, offenbar heldischen Krach macht, auch Göbbels widmete, wie das Programm anzeigte. Wohlgemerkt: der Junge war natürlich nie bei den Soldaten; ähnlich [unleserlicher Name] oder wie der heißt. Morgenrot - ? Es muß ein Bockmist von Musik gewesen sein.

Der Text am Oratorium geht langsam, aber stetig weiter. Bei passender Gelegenheit schicke ich ihn Ihnen.
Wenn Sie einmal meiner Frau schreiben wollen: Ahlbeck Seebad, Heim Sonnendorf.
Ich wohne inzwischen: Charlottenburg, Brauhofstr. 16 II rechts bei Schott.

Nun lassen Sie uns schließen, Herr Kreutz. Glauben Sie mir: ich denke immer an Sie und hoffe, daß all die guten Gedanken doch ein klein wenig nützen, Ihnen draußen Zuversicht, jedenfalls Trost zu sein. Wissen Sie: überleben, moralisch und seelisch überleben kann man das, was heute geschieht, überhaupt nur dann, wenn man an die Wirklichkeit jenes Reiches glaubt, das nicht von dieser Welt ist. Das ist für mich immer mehr Tatsache und hoffentlich geht es recht vielen Menschen so.

Herzlichst  Ihr
                        Distler  


Anmerkung:

Der Pianist Prof. Alfred Kreutz, in Odessa geboren und aufgewachsen, emigrierte 1917 nach Deutschland. Er war ein Kollege Hugo Distlers an der Stuttgarter Musikhochschule und dort Dozent für Klavier und Klavichord.

In seinen Erinnerungen an Hugo Distler** schrieb Alfred Kreutz:

"Distlers menschliche Art war bestimmt durch die ihm angeborene, in seinem Wesen tief verwurzelte Ehrlichkeit. Er war nicht imstande, sich irgendwie zu verstellen, und seine Neigungen und Abneigungen traten immer deutlich zutage. Deshalb war er in allen Situationen, die Lebensgewandtheit oder diplomatisches Verhalten erforderten, völlig hilflos. Seine Meinung sagte er gerade heraus, ohne viel Worte zu machen, den Tadel unverhüllt, doch nicht verletzend, das Lob schlicht und warmherzig.

Während des Grazer Chorfestes 1939 ereignete sich folgender, für ihn bezeichnender Vorfall. Distler war im gleichen Hotel mit einem Kollegen einquartiert, der ihm, wie er annahm, mißgünstig gesinnt war. Nach der denkwürdigen Aufführung des Mörike-Liederbuches erblickte ihn dieser Kollege im Hotelkorridor und wollte schon auf ihn zugehen, um seinen Glückwunsch auszusprechen. Ein Ausweichen schien unmöglich zu sein, doch Distler drehte sich herum und lief einfach davon, da er eine ihm peinliche Szene konventioneller Verlogenheit vermeiden wollte.

[...] Nach der Chorprobe, in der ich den "Feuerreiter" zum ersten Mal gehört habe, bezeichnete ich ihm eine bestimmte Stelle und sagte, daß ich mir die Klangwirkung hier anders vorgestellt habe als sie in Wirklichkeit war. Distler lächelte schelmisch und sagte lebhaft hinter vorgehaltener Hand, wie wenn er mir ins Ohr flüstern wollte: 'Ich auch! Aber so klingt sie auch gut, und darum habe ich sie nicht abgeändert.' Nach diesem rührend offenen Geständnis, das ich von ihm als einem Meister des Chorsatzes nicht erwartet hatte, erschien er mir noch liebenswerter."

* Hugo Distlers Halbbruder Anton Meter, der in Amerika geborene Sohn von Distlers Mutter Helene Meter, geb. Distler, und ihrem Ehemann Anthony Meter.

**  Alfred Kreutz: Hugo Distler als Mensch. In: Der Kirchenmusiker 9. (1958),  S. 74-75.



 

 

 

 

Ofizielle Homepage Hugo Distler