An Ingvar und Essie Sahlin


Hugo Distler und Ingvar Sahlin 1937
in Viksta / Schweden

Ahlbeck / Heim Sonnendorf
August 1941

Meine lieben Freunde,

über Ingvars hierher nachgesandte Karte haben wir uns sehr gefreut. Herzlichen Dank. Wir sind auf den angekündigten Brief sehr gespannt.

Seit Ende Juli sind wir alle miteinander hier an der Ostsee. Waltraut fährt am 8. mit Barbara (da Barbaras Schule beginnt) und Brigitte nachhause, ich bleibe noch mit Andreas bis 21; dann fahre ich zum Semesterbeginn zurück, während Waltraut mit den Kindern  - Barbara wird dann nach hier zur Schule überschrieben - wieder nach hier zurückkommt, wo sie die nächsten Monate jedenfalls bleiben soll.

Oft werfen wir einen sehnsüchtigen Blick gegen Norden und gedenken Euer in Treue. Z.Zt lese ich wieder einmal mit Begeisterung Lagerlöf, zuerst den Gösta Berling, dann Herrn Arnes Schatz, das Mädchen vom Moorhof und ein paar Christuslegenden. Vielleicht ist die Lagerlöf wirklich der größte Dichter unserer Zeit. Jedenfalls bedeutete sie in der augenblicklichen Situation für mich einen großen Trost.

Den Umständen entsprechend geht es meiner Familie sehr gut. Wir haben uns sehr erholt und gehen an Leib und Seele gestärkt in den Winter.

Vom 27. September bis 9. Oktober mache ich mit meiner Hochschulkantorei eine Konzertreise, die uns nach Osnabrück, Rheine, Bielefeld, Lemgo, Melle, Mühlheim (an der Ruhr) Essen und abschließend nach Kassel führt. Wir singen Acappellamusik von Lasso - 9 originale franz., ital. und deutsche Madrigale-, Reger (Motette "O Tod, wie bitter bist du") und 9 meiner Mörikelieder; dazwischen allerlei Kammermusik, von meinen Studenten ausgeführt.

Zum 1.4.42 soll ich nun (ziemlich definitiv) den Berliner Staats- und Domchor übernehmen. Ich freue mich sehr auf diese erweiterte Tätigkeit und hoffe nur, daß nichts mehr dazwischen kommt.

Hat Ingvar schon meine bei Bärenreiter erschienene Harmonielehre? Sonst veranlasse ich, daß sie ihm geschickt wird.

Z:Zt. sind wieder einige Euch gewiß interessierende Kompositionen von mir im Druck: 2 große, neue Motetten ("Fürwahr, er trug unsere Krankheit" und "Das ist je gewißlich wahr"), eine Reihe kleiner Klavierstücke, eine neue Musik für 2 Klaviere, eine eine größere weltliche Kantate für Baß und Orchester ("Lied am Herde"), von der außerdem eine Fassung für begleitendes Klavier zu 4 Händen in Arbeit ist; sie wird in Bielefeld in meinem Konzert am 1. Oktober uraufgeführt. Auch ein schon länger fertiges Streichquartett wird eben überholt und soll dann an Bärenreiter gehen. Die Häufung rührt teilweise daher, daß mein Verlag im vorigen Jahr wenig erscheinen ließ.

Vor 2 Monaten erschien außerdem eine geistliche, leichte Kantate für Chor, Streicher und Orgel über "Nun danket all und bringet Ehr."

Allerdings war ich in der letzten Zeit ziemlich fleißig. Hier arbeitete ich konsequent täglich, z. Zt. am Text zu einem abendfüllenden Oratorium. Ich hoffe Euch bald seinen Inhalt mitteilen zu können. Ein tragischer Gegenstand, von dem ich glaube, daß er viele unmittelbar angeht.

Seltsam: immer träume ich davon, nach diesen stürmischen Zeiten einst bei Euch im Norden zur Ruhe zu kommen. Immer noch, und mehr denn je, könnte ich mir nichts seligeres denken, als in Euren großen Wäldern namenlos unterzugehen. Denkt auch weiter an uns: vielleicht ist die Zeit nicht fern, da unsere Sehnsucht zu konkreterer Gestalt gezwungen wird. Bis dahin laßt uns getrosten Mutes durch die Zeit gehen. "So ernst ers auch meint" ---

Lieber Ingvar, denkst Du noch zurück an Deinen letzten Stuttgarter Besuch. Denkst Du noch an Deine unerklärliche Unruhe und unser Gespräch auf der Terrasse unseres Häuschens in Vaihingen?

Ich hoffe zuversichtlch, daß, wenn wir uns wiedersehen sollten einmal, diese große Unruhe des Herzens von uns gewichen ist. Wie gesagt: ich hätte weinen mögen unter der Lektüre von Lagerlöfs "gösta".

Lebt wohl und vergeßt nicht, stets zu denken an
                                   Eure
                                            Hugo und Waltraut Distler.


Anmerkung:
 
 Distler lernte Ingvar und Essie Sahlin auf dem Kirchengesangstag kennen, der im Juni 1933 in Stuttgart stattfand. Am 23. Juni 1933 schrieb er aus Lübeck an seinen Schwager Erich Thienhaus: "Im August kommt ein schwedischer junger Pastor + Frau für 4 Wochen nach hier: er will bei mir (d.h. auf der alten Orgel) Orgelspiel studieren; er kommt aus Upsala, wo man mich als Komponisten kennt und allerhand von mir machen wird."
 
 1937 hoffte Hugo Distler, mit seiner Familie nach Schweden emigrieren zu können - mit tatkräftiger Unterstützung seines Freundes Sahlin. Im August 1937 landete er bei Sahlins und  schrieb von dort am 21.8.37 an seine Frau: "Meine liebe Waltraut, die ersten Grüße aus Viksta, dem vorläufigen Ziel meiner ziellosen Ferienfahrt!" Ingvar Sahlin hatte damals umgehend alle Hebel in Bewegung gesetzt und schon eine sichere Stelle für Distler gefunden: eine Dozentenstelle (als Nachfolger Sahlins) an einer angesehenen Volkshochschule im Norden des Landes, im Kirchspiel Själevad.




 

 

 

 

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