Hugo Distler: Drei Gedichte in Prosa

Advent 1937


Der Stern
(Matth. 2, 9-11)

 

Nacht ist es, und, von Ängsten arg geplagt, vergrab ich mich ins nasse Kissen. Vor mir das Lämpchen – ein Griff nur, und seine milde Flamme scheucht‘ mir die Finsternis, die mich mit Basiliskenaugen anstarrt. Und dennoch: ich vermag es nicht. Und ringsum wacht die Nacht ins Riesenhafte und, als Toter, lieg ich reglos.

Da – streift nicht eine Hand mir lind die Stirn, das Auge? Ach, lass sie ruhn, Barmherziger, wer du auch seist!

Wie lange sie auf mir geruht – ich weiß es nimmer. Ich fühlte sie nicht mehr und schaute auf: da war die Finsternis gewichen und wie aus offnem Grab erblickt ich über mir das weite Firmament. Und im Zenit ein heller Stern. Und Stille gleichwie eine Glocke über mir, von unsichtbarer Hand erschwingend und erklingend.

Indem ich mich erhebe, ein vom Tod Auferstandener, fühl ich, wie Raum und Zeit entweichen und mein Auge dringt weit in das Ferne und Vergangene. Und sieh – noch immer stund der Stern am Firmament und vom Morgen sah ich drei Reiter ihre endlose Straße ziehn.

Und meine Brust ward wie ein tiefer Brunnen, in den die Stille sank, der helle Stern, unirdische Musik …



Auszug
(Matth. 2, 13-15)

 

Man sagt ihn tot, eh er geboren, im Mutterleib das Kind schlägt man ans Kreuz. „Und vom Gebirge her hat man ein Geschrei gehört, viel Klagen, Weinen und Geheul; Rahel beweinte ihre Kinder und wollte sich nicht trösten lassen …“

Und wiederum strich eine Hand behutsam gleich der eines guten Arztes mir übers heiße Lid – da ward der Ferne ich gewahr und Vergangenes ward mir gegenwärtig. Und noch klingt wie Musik des Engels tröstliche Verheißung mir ins Ohr: „Steh auf und nimm dein Kindlein, flieh nach einem fernen Land und bleib allda.“

Nach einem fernen Land – o könnt ich mit dir ziehn, zurücklasssen würd ich deinetwegen alles, was mich hielte, Leib, Ehr, Gut, Kind und Weib. Ein fernes Land – sag: gibt es noch eine Freistatt, da der Erstgeborne seines Lebens froh, an deren Tor der Cherub wacht mit bloßem, hauendem Schwert und dem Arm der Mächtigen eine Grenze setzt?

Ich schließ die Augen vor dem andringenden Dunkel, das mich wieder übermannen will, und vor dem innern Blick steht voller Unschuld eine neue Schöpfung auf.

So gehe ich verschlossenen Auges traumwach durch die Zeit, wie ein Schlafwandler. Behüte Gott, daß keine böse Hand den Schritt mir wanken macht und mich in den Abgrund schaudernd stößt. 



Der Herr der Mitternacht
(Matth. 25, 1-13)

 

Mitternacht – drohend steht sie rings um mich, in mir auf. Sie ist da, die Stunde ohne Antlitz, an der der Zeiger steckt, die Stunde, die kein Gestern kennt, kein Morgen, da das Aug umsonst nach einem letzten trügerischen Schimmer fern ausschaut, wo auch kein noch so zartes Frührot mir den neuen Tag verkündet, kein erster Hahnenschrei …

Ein Wächter in der Nacht erheb ich mich vom Lager und taste nach dem Span, der mir den Docht entzünde. Es hilft dir nichts: steh auf, stoß auf die Tür – und daß du mir dein Lichtlein nicht verlöschst!

Demütig neig ich mich vor dir, du meine Flamme, die meine Hände, welche dich behutsam treuen, karg erwärmt und in die Finsternis geleitet, und geh der Nacht getrost entgegen.

 

 

 

 

 

CD-Neuerscheinung !



 











       










Johannes Hämmerle:


.“Man begnügte sich damit, Chormusik ,nach ewigen Gesetzen’ im Stil Bachscher Choralsätze anzufertigen oder an der Orgel klassisch-romantisches Kombinationsspiel zu treiben. Andere Kreise wieder waren mit Entdeckerfreuden über die angeblich allein selig machende historische Kirchenmusik so restlos erfüllt, dass auch sie weder Zeit noch Lust hatten, sich mit einer so undankbaren Materie wie der Musik der Gegenwartzu befassen. [. ..]  So war und blieb das alles – bis Hugo Distler kam."      (Helmut Bornefeld in ‚Musica’, 1947)

„Bornefelds Bemerkungen über die stockende und widerspruchreiche Orientierungssuche der evangelischen Kirchenmusik in den 1920er und 30er Jahren charakterisieren und kritisieren das kulturelle Leben der Weimarer Republik ganz grundsätzlich. Nach dem Niedergang der alten Staats- und Gesellschaftsordnungen im Ersten Weltkrieg war eine Atmosphäre tiefer Ablehnung gegenüber dem Erbe der Vätergeneration zurückgeblieben. Aufbruch und Neuanfang waren folglich weithin von einem Gefühl der Entwurzelung begleitet, zumal die unmittelbar vergangene Geschichte ihre identitätsspendende Kraft eingebüßt hatte und als Quelle für neues Schaffen nicht mehr dienen konnte. Vor diesem Hintergrund begannen viele Menschen in länger, mitunter wesentlich länger zurückliegenden Epochen nach noch zeugungsfähigen kulturellen Wurzeln zu suchen – und schienen fündig zu werden.

 

Auch ‚Alter Musik’ wurde ein Interesse zuteil, wie es in solcher Intensität und Lebhaftigkeit vielleicht nie zuvor in der Geschichte aufgebracht worden war. Die evangelische Kirchenmusik entdeckte insbesondere in den Werken deutscher Komponisten vor J.S. Bach eine musikalische Sprache wieder, die zusätzlich zu ihrer kompositorisch-handwerklichen Meisterschaft gerade durch ihre Klarheit, Verständlichkeit und Eindringlichkeit den neu aufkeimenden Ideen einer liturgiegerechten Kunstform ausgesprochen nahe stand und dadurch regelrecht in den Rang überzeitlicher Gültigkeit erhoben wurde. Längst ging es dabei nicht nur um die Pflege ‚alter’ Kunst. Vielmehr knüpfte sich an die Wiederbelebung dieser Musik die Hoffnung, daraus unmittelbare Anknüpfungspunkte für das Schaffen einer zeitgemäßen neuen Kirchenmusik gewinnen zu können.

 

Doch wie sollte das geradezu übermächtige Vorbild älterer Musik nicht zur bloßen Kopie oder gar zum Plagiat und damit zur Stagnation führen? Wie sollte das Nebeneinander von Altem und Neuem nicht in einem Stil münden, der durch und durch von Brüchen und Inkohärenzen gekennzeichnet  war? Es bedurfte eines Musikers wie Hugo Distler, dessen gewaltiges Genie sich gerade in seiner Fähigkeit zur Synthese und gleichzeitigen Neuschöpfung offenbart hat.  Distler beherrschte und verstand die verschiedensten Kompositionsprinzipien nicht nur, er vermochte sie auch neuartig auszuloten und zueinander in Beziehung  zu setzen und fand auf diesem Weg zu einer völlig integren, eigenständigen musikalischen Sprache.“






           

Hugo Distler: Sämtliche Orgelwerke











           

Hugo Distler: Sämtliche Orgelwerke







           

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Hugo Distler: Sämtliche Orgelwerke




Eine Produktion des Labels Ambiente.