Wenn sie mich zum Militär holen
Wenn sie mich zum Militär holen ...
Von Barbara Distler-Harth
© Copyright by "Reformation und
Musik" EKD-Magazin zum Themenjahr 2012
der Lutherdekade
„Wer die Musik sich erkiest, hat ein
himmlisch Gut bekommen". Im Vorspruch zu Hugo Distlers Mörike-Chorliederbuch
klingt etwas an von der Freude über den göttlichen Ursprung der Musik - und von dem unzerstörbaren Gottvertrauen, das der junge Musiker sich bis zu
seinem Ende bewahrte.
In Nürnberg 1908 geboren, kam er nach traumatischen
Erfahrungen in frühester Kindheit - seine Mutter verließ ihn, als er vier Jahre
alt war und wanderte nach Amerika aus - in die liebevolle Obhut seiner
Großeltern. Johann Michael Herz, ein kleiner Viehhändler aus der Fürther Gegend,
und Kunigunda Herz, verwitwete Distler, sorgten auch dafür, dass "das
Hügele" mit sieben Jahren Klavierunterricht erhielt und später ein
Gymnasium besuchen konnte. Was sein 1930 verstorbener Stiefgroßvater für ihn
bedeutet hat, vertraute Hugo Distler seiner Verlobten Waltraut Thienhaus in
einem Brief aus dem Jahre 1932 an: "Siehst Du, er verstand wenig von
meinen Gedanken, ließ mich aber voll guten Vertrauens gewähren." Der
Großvater übertrug auf den Enkel seine tiefe Religiosität, die später in den
geistlichen und auch weltlichen Chorwerken Distlers immer neuen Ausdruck
finden sollte. Distler studierte Musik in Leipzig und kam 1931 als Organist an
die St. Jakobikirche nach Lübeck, wo er eine Fülle geistlicher Musik vor allem
für Chor a cappella komponierte - so 1932 seine Choralpassion, die zu
Ostern in zwölf deutschen Städten, darunter in Berlin und Leipzig (dort durch
den Thomanerchor) aufgeführt wurde, und den Jahrkreis: eine Sammlung von
52 zwei- und dreistimmigen geistlichen Chormusiken zum Gebrauch in Kirchen-,
Schul- und Laienchören. Hugo Distler erarbeitete die meisten dieser Motetten
mit seinem kleinen Knabenchor von St. Jakobi (vgl. hier: "Der Knabenchor
von St. Jakobi und die HJ"). Um diese Zeit entstand auch Hugo Distlers Pfingstkantate,
die er zu Pfingsten 1932 mit dem Chor des Deutschen Handlungsgehilfenverbands
(DHV) in der romanischen Michaeliskirche von Hildesheim uraufführte. Er schrieb
dazu wenig später einen Brief nach London an Waltraut Thienhaus (deren Mutter
ihn zu einer Harzreise eingeladen hatte): "Deine Mutter und ich starteten
am Sonntag partout
nach dem Gottesdienst und landeten gegen vier Uhr schweißtriefend in der Stadt,
in der ich mir, wie Du wohl weißt, ein bedeutendes Denkmal errichtet habe: die
Stadt meiner Pfingstkantate, der Tagungsort meines DHV, Hildesheim natürlich.
Wir landeten selbstverständlich im (unleserlich) Hospiz, einem wolkenkratzenden
Jugendstilprodukt, dreimal so hoch wie schmal, und zwar im letzten Geschoß,
direkt unter den Sternen, doch hatten wir dafür einen unvergleichlichen Blick
auf die Pfingstkantatenstadt, gleichsam aus der Vogelschau." In Lübeck geriet
die lutherische Kirchengemeinde nach der "Machtergreifung" der Nazis
1933 in die Defensive gegenüber den
nationalsozialistischen "Deutschen Christen", die nun auch zu zweit
im sechsköpfigen NS-Senat der Stadt saßen.
Berliner Sportpalastkundgebung
der Deutschen Christen am 31.11.1933 (20 000 Anwesende).
© Calwer Verlag
Durch Beschluss einer
lutherischen Gemeindeversammlung wurden die hauptamtlichen Mitarbeiter, darunter Distler,
zum Eintritt in die NSDAP veranlasst. Die mit Distler bis zu seinem Tod eng
befreundete Ärztin Hilde Kreutz-Soergel schrieb in ihren 1958 veröffentlichten
Erinnerungen an Hugo Distler, dass dieser "schon in Lübeck zur Partei
gekeilt" worden sei, doch "nur aus einem ängstlichen 'Muss' kam er
dazu. In seiner großen Sensibilität hat er sich darum sehr gequält." Im
Sommer 1933 begann Distler mit der Komposition seiner Weihnachtsgeschichte,
einem Werk von "bukolischem Charakter" (Distler), das er den
"einfachen Leuten" widmete: dem Volk, das - unaufgeklärt - "im
Finstern wandelt". 1936 wurde Hugo Distlers Konzert für Cembalo und
Streichorchester op. 14, mit Distler am Cembalo, in Hamburg uraufgeführt. Das Werk wurde von der Kritik teils gefeiert,
teils als "entartet" angegriffen. Ende 1936 eskalierten in Lübeck die
Auseinandersetzungen zwischen "Deutschen Christen" und der 1934
gegründeten "Bekennenden Kirche", der auch Hugo Distler nahestand. Am
Silvesterabend 1936 legte er sein Organistenamt an St. Jakobi nieder und übernahm im April
1937 an der damals noch privaten Stuttgarter Musikhochschule die
Unterrichtsfächer Musiktheorie, Formenlehre, Orgel und Chorleitung. In
Stuttgart schuf Distler sein (in Lübeck begonnenes) Neues Chorliederbuch und sein Mörike-Chorliederbuch.
Eine Auswahl aus beiden Werken wurde in Graz am 26. Juni 1939 vom Kammerchor der Stuttgarter
Musikhochschule unter Distlers Leitung und vom Lübecker Sing- und Spielkreis unter Bruno Grusnick mit großem Erfolg uraufgeführt. Im
Sommer 1939 begann Distler mit der ersten Skizzierung eines eigenen Textes zu seinem
geplanten Friedensoratorium Die Weltalter, der auf der Kassandra-Sage
und dem Mythos vom Goldenen Zeitalter basiert. Er unterbrach diese Arbeit bei
Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, um sie 1941/42 mit vermehrter Intensität
fortzusetzen. Im Sommer 1942 konnte Hugo Distler noch die ersten vier Motetten
der Weltalter vertonen, im September brach er die Arbeit an seinem
Oratorium ab. 1940 wurde Distler an die Berliner Musikhochschule berufen. Obwohl
eine Verschärfung der Luftangriffe auf Berlin schon deutlich absehbar war, nahm
Distler den Ruf an, auch wenn er dafür seine ihm liebgewordene neue Heimat
Schwaben aufgeben musste. Was ihn zu dem Schritt antrieb, war seine fixe
Vorstellung, dass er - wenn überhaupt - nur noch in der Reichshauptstadt eine
Chance haben würde, von den dort zuständigen kulturpolitischen Instanzen als
"unabkömmlich" (für das deutsche Musikleben) eingestuft zu werden,
womit für ihn die endgültige Freistellung vom Kriegsdienst verknüpft gewesen
wäre. "Wenn sie mich zum Militär holen, mache ich Schluss; ich stehe das
nicht durch", hatte Distler schon 1940 einem Stuttgarter Schüler
gestanden. Am 1. April 1942 übernahm Hugo Distler zusätzlich die Leitung des
Berliner Staats- und Domchores. In einem Brief vom 17. August 1942 schrieb er
dazu aus seinem Ferienort Ahlbeck an seinen Freund Alfred Kreutz:
"Inzwischen erlebe ich mit dem Berliner Staats- und Domchor Schwierigkeiten
. . . Die HJ macht dauernd Scherereien wegen Freigabe der Knaben für den Dienst
im Chor. Um dies zu klären, machte ich mir vergangenen Donnerstag von hier aus
die Mühe, eigens nach Berlin zu fahren, um mit unserem sehr geschickten
stellvertretenden Hochschuldirektor: Professor Rühlmann, den PG Cerf vom
Hauptkulturamt der N.S.D.A.P. zu besuchen, den Rühlmann kannte. Ergebnis völlig
negativ; erschütternder Eindruck: Cerf in meinem Alter, nach der Darstellung
Rühlmanns einstmals Bankangestellter. Wir kamen überhaupt nicht zu Wort vor dem
Hassgesang gegenüber der Kirche. Ich muß aber trotz allem sagen, daß ich über
den Eindruck der Persönlichkeit dieses Mannes noch weit erschütterter gewesen
bin, denn über den (im geheimen erwarteten) negativen Erfolg. Ich gehe mit
großem Grausen ins neue Semester. Man hat so viel organisatorische Arbeit, daß
man zum Musizieren überhaupt nicht mehr kommt. Und schließlich scheitern alle
Bemühungen an solchen nicht zu beseitigenden Schwierigkeiten." Einige
Monate zuvor hatte er dem Freund, der wegen einer Verwundung Heimaturlaub hatte
und in einem Weinberg bei Stuttgart einen verwunschenen alten Garten mit
Bienenstock und Sommerhäuschen besaß, noch geschrieben: "Wie beneide ich
Sie um Waiblingen! Und um Ihr Klavichord! Und um Ihre alten Schmöker! . . . Ich
sagte gerade zu Waltraut: ich fahre eines schönen Tages nach Stuttgart. Wenn
ich es hier gar nimmer aushalte. Dann schwätzen wir schön zusammen." Am 14.
Oktober 1942 bekam Distler vom Wehrbereichskommando Eberswalde seinen sechsten
Gestellungsbefehl. Zwar gelang es einflussreichen Persönlichkeiten, unter ihnen
vor allem Prof. Fritz Stein, Direktor der Berliner Musikhochschule, in letzter
Minute noch einmal eine Aufhebung des Befehls zu erreichen. Doch war Distler
von dem Eberswaler Kommandeur bereits davon in Kenntnis gesetzt worden, dass er
schon am 3. November 1942 erneut - und diesmal unwiderruflich - mit Einziehung
zur "motorisierten Truppe" zu rechnen habe. Hugo Distler, in höchster
Angst und endgültig entmutigt, entzog sich für immer dem Zugriff der
Kriegsherren, indem er am 1. November 1942 seinem Leben selbst ein Ende setzte. Der
Berliner Theaterregisseur Jürgen Fehling, für den Distler Ende 1940 eine
Schauspielmusik zu Ludwieg Tiecks Ritter Blaubart komponiert
hatte, schrieb am 15. November 1942 an die Witwe Hugo Distlers: "In Ihrem
Gemahl glaubte ich von der ersten Begegnung in Lübeck an einen kühnen und
leidenschaftlich begabten Musiker zu erkennen. Es war ein heißer Wunsch in mir,
mit diesem sehr männlichen Geiste in meiner Berufssphäre zusammenzutreffen.
Sicher wäre der Hannibal, wenn er nach unserem Geist hätte ausreifen
können, eine beispielhafte Inszenierung geworden. Als dieser Plan unmöglich
ward, begann ich voll zärtlicher Neugierde auf die Oratoriumsarbeit Ihres
Gatten zu warten. Ich hoffte, er würde dereinst eine Oper schreiben, eine Oper
aus dem Geist seiner strengen und zugleich blühenden Welt. Die Nachricht von
seinem Tode traf mich erschütternd . . . Die Größe und Feinheit, die seine -
Distlers - Person ausstrahlte, ist selten geworden und ich glaube, seine Figur
war im Kunstleben Deutschlands unendlich wichtig und wertvoll. Ich grüße Sie
mit der Versicherung, daß ich mit Bewunderung und Ehrfurcht um Hugo Distler
trauere. Ihr Jürgen Fehling.“
Quellen: Reimers, Karl Friedrich: Lübeck im Kirchenkampf des Dritten Reiches. Vandenhoeck & Ruprecht, 1965 Röhm, Eberhard und Thierfelder, Jörg: Evangelische Kirche zwischen Kreuz und Hakenkreuz, Stuttgart 1990
Distler-Harth, Barbara: Hugo Distler. Lebensweg eines Frühvollendeten.SCHOTT Music GmbH, 2008
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