Biographische Daten

1908 Hugo Distler wird als Sohn der Modistin Helene Distler und des
Maschinenbauingenieurs August Louis Gotthilf Roth in Nürnberg geboren.
 
1912 Die Mutter verläßt ihren vierjährigen Sohn und wandert in die USA aus. Hugo Distler wächst in Nürnberg auf bei seinen Großeltern Johann Michael Herz und Kunigunda Herz, verw. Distler. Er erhält Klavierunterricht bei Elisabeth Weidmann und Carl Dupont, dem Leiter der privaten Musikschule Dupont, und besucht das Nürnberger Realgymnasium an der Vorderen Landauergasse.
 
 
1925 Nach dem Tod der Großmutter und Verarmung des Stiefgroßvaters muß Hugo Distler sich bei Carl Dupont abmelden und bewirbt sich um ein Stipendium am Konservatorium der Stadt Nürnberg, das ihn zweimal wegen „mangelnder Begabung“ ablehnt.
 
 
1927

 


 

Nach dem Abitur bewirbt sich Hugo Distler in Leipzig um einen Studienplatz für Musik am dortigen Landeskonservatorium und besteht die Aufnahmeprüfung mit Auszeichnung. Er studiert Dirigieren bei Max Hochkofler, Kontrapunkt und Formenlehre sowie Komposition bei Hermann Grabner, Klavier bei Carl Adolf Martienssen und Orgel bei Günther Ramin. 1

Hugo Distler lernt Arthur Honnegger kennen; er begeistert sich für dessen Kompositionen, die im Gewandhaus und am Leipziger Konseratorium aufgeführt werden. 2  
 

 
1930 Am 8. April 1930 findet am Leipziger Konservatorium die Uraufführung von Distlers Konzertanter Sonate für zwei Klaviere op. 1 statt. Solisten sind Hugo Distler und sein Mitstudent Carl Seemann. Nach dem Tod seines Stiefgroßvaters Johann Michael Herz, der sein Musikstudium finanziert hatte, muß Distler sein Studium abbrechen.
 
 
1931 Auf Vermittlung von Günther Ramin tritt Hugo Distler am 1. Januar 1931 eine Organistenstelle an der Lübecker St. Jakobikirche an. Sein kirchlicher Vorgesetzter Pastor Axel Werner Kühl und der Chorleiter Bruno Grusnick setzen sich in Lübeck seit 1928 für die Anliegen der Liturgischen Bewegung ein und begründen mit Distler die musikalischen Gottesdienste und Vespern in
Lübeck.

Kleine Jakoborgel in Lübeck, Zeichnung von
 Hans Peters

St. Jakobi. Hugo Distler komponiert die Deutsche Choralmesse op. 3, die am 4. Oktober 1931 vom Lübecker Sing-. und Spielkreis unter Leitung von Bruno Grusnick in St. Jakobi uraufgeführt wird, und beginnt mit der Komposition des Jahrkreis op. 5, einer Sammlung von 52 geistlichen Chormusiken zum Gebrauch in Kirchen-, Schul- und Laienchören.
 
 
1932

Distler beendet die Arbeit am Jahrkreis im Oktober 1932, die Sammlung erscheint 1933. Er komponiert 1932 die Orgelpartita Nun komm, der Heiden Heiland op. 8,1 und die Choralpassion op. 7, die am 29. April 1933 in Berlin uraufgeführt und fast zeitgleich u.a. in Leipzig (Thomanerchor), Wuppertal, Nürnberg und Königsberg aufgeführt wird.

In Deutschland formiert sich innerhalb der evangelischen Kirche die nationalsozialistische „Glaubensbewegung Deutsche Christen (DC)“; es beginnen zermürbende Richtungskämpfe zwischen den bekenntnistreuen Landeskirchen und Gemeinden einerseits und den „Deutschen Christen“ andererseits. 3
 

 
1933

In Lübeck gerät die lutherische Kirchengemeinde nach der „Machtergreifung“ in die Defensive gegenüber den „Deutschen Christen“, die jetzt auch im NS-dominierten sechsköpfigen Senat der Stadt vertreten sind. 4 Zur Entlastung der Pastoren werden durch Beschluss einer Gemeindeversammlung die hauptamtlichen kirchlichen Mitarbeiter, unter ihnen Distler, zum Eintritt in die NSDAP veranlasst.

Im Sommer 1933 beginnt Hugo Distler mit der Komposition der Weihnachtsgeschichte op. 10, die am 1. Dezember 1933 in der Kölner Karthäuserkirche durch Gottfried Grote uraufgeführt wird. Hugo Distler heiratet im Oktober Waltraut Thienhaus, Tochter des Lübecker Gymnasiallehrers Paul Thienhaus.

Am 20. November 1933 schließt der evangelische "Reichsbischof" Ludwig Müller mit dem "Reichsjugendführer" der HJ, Baldur v. Schirach, ein Abkommen, in dessen Folge Distler die bisherige fruchtbare Zusammenarbeit mit seinem kleinen Knabenchor von St. Jakobi, mit dem er u.a. seinen "Jahrkreis op. 5" einstudiert hatte, nicht mehr fortführen kann. Denn von nun an werden die Knaben jedesmal zum HJ-Dienst beordert, wenn Distler eine Chorprobe mit ihnen angesetzt hat.*

 
1934

Während eines Ferienaufenthalts bei Mittenwald vertont Hugo Distler Schillers Lied von der Glocke für Bariton, vier gemischte Stimmen, zwei Klaviere und Orchester. Distlers Komponistenkollege Gerhard Maasz führt das Werk Ende 1934 im Reichssender Hamburg auf. In einer negativen Kritik wird das Werk als „negroide Musik“ bezeichnet, es erfolgen keine weiteren Aufführungen. Hugo Distler beendet die erste Motette – Singet dem Herrn ein neues Lied - seiner Geistlichen Chormusik op.12. Es entstehen die Liturgischen Sätze über altevangelische  Kyrie- und Gloriaweisen op. 13: zwei- bis achtstimmige Besetzungen für gleiche und gemischte Chorstimmen, sowie seine Motette Totentanz op. 12,2.

Mit der „Theologischen Erklärung zur gegenwärtigen Lage der Deutschen Evangelischen Kirche“ schliessen sich lutherische und reformierte Protestanten in Barmen am 31. Mai 1934 zur Bekennenden Kirche zusammen.   
 

 
1935

Hugo Distler komponiert die Motetten Ich wollt, daß Ich daheime wär op.12,5 und Wachet auf, ruft uns die Stimme op. 12,6. Er skizziert ein Opernlibretto Die Wiedertäufer und schreibt Elf kleine Klavierstücke für die Jugend op. 15 b. Ende 1935 beginnt er mit der Komposition seines Konzerts für Cembalo und Streichorchester op. 14.
 

 
1936

Das Cembalokonzert wird am 29. April 1936 in Hamburg durch Hans Hoffmann mit dem Hamburger Kammerorchester uraufgeführt; Solist ist Hugo Distler. Es gibt positive und negative Kritiken für das Werk. Der HJ-Mann Guido Waldmann (nach dem Krieg langjähriger Leiter des Hochschulinstituts für Musik in Trossingen) greift Distlers Cembalokonzert und Distlers Reformationsmotette Wach auf, du deutsches Reich op. 12,3 scharf an. Distler meldet sein Cembalokonzert zur Aufführung auf dem Deutschen Tonkünstlerfest in Weimar an. Es soll dort auf die „schwarze Liste“ gesetzt werden, doch setzt sich u.a. Gerhard Maasz, der Distlers Lied von der Glocke uraufgeführt hatte, dafür ein, daß es in Weimar gespielt werden kann. Dagegen wird die Aufführung desselben Werks in der Orangerie des Charlottenburger Schlosses im Januar 1937 kurzfristig vom Programm abgesetzt.- In den Sommerferien 1936 verfaßt Hugo Distler ein Opernlibretto  Der Schalksknecht Gottes über den Nürnberger Bildschnitzer Veit Stoß.

Im Dezember 1936 eskalieren in Lübeck die Auseinandersetzungen zwischen Bekennender Kirche und "Deutschen Christen". An Silvester 1936 legt Hugo Distler sein Organistenamt an St. Jakobi nieder.5
 

 
1937

Am 1. April 1937 übernimmt er an der Württembergischen Hochschule für Musik die Fächer Musiktheorie, Formenlehre, Orgel und Chorleitung. Seine Hoffnung, in Stuttgart unbehelligt von der Politik komponieren zu können, erfüllt sich nicht, weil die dortige NS-Studentenschaft ihn wegen seiner Kirchenmusik attackiert.

Mit der Absicht, Deutschland zu verlassen, schreibt Distler im Mai 1937 an Pastor Kühl: Ich komme Anfang August nach Ratzeburg und anschließend nach Lübeck. Sind Sie da zuhause? Oder kann man Sie in nicht allzu großer Entfernung erreichen? Vielleicht würde ich es ermöglichen.

Ich fahre außerdem anschließend nach Schweden zu Sahlin. (Ich habe sogar Fluchtgedanken, zwar keine Weltfluchtgedanken, sondern die einer, ich gebe zu, egoistischen Entweichung).

Vielleicht finden Sie trotz Ihrer bekannten Arbeitsüberlastung gelegentlich Zeit, sich mit meiner Angelegenheit zu befassen. Schließlich stehe ja nicht ich, mein persönliches Wohl und Wehe, ja nicht einmal das meiner Familie auf dem Spiel, sondern mehr.

Distler reist im August 1937 nach Schweden, wo er sich mit seinem Freund Ingvar Sahlin auf die Suche nach einer geeigneten Arbeitsmöglichkeit in Schweden begibt. Seinen Auswanderungsplan kann Distler jedoch nicht verwirklichen. 6

Im Oktober 1937 findet in Berlin ein Kirchemusikfest statt, an dem Hugo Distler nicht teilnimmt. Er schreibt an Freunde: Zur Zeit wickelt sich in Berlin ein riesiges Kirchenmusikfest mit nur neuer Musik ab; ich bin mit meiner Musik dabei stark vertreten, ich selber habe aber gar keine Lust hinzufahren. Dabei wird man zu oft fotografiert [...] Timeo Danaos ...

Zusätzlich zu seinen Stuttgarter Hochschulverpflichtungen übernimmt Distler am 1. Oktober 1937 die Leitung der Esslinger Singakademie und befreundet sich dort näher  mit einigen der Chorsänger, darunter mit dem Ehepaar Hellmut und MetaTypke und mit Frau Erika Kienlin.**  Im Dezember 1937 singt die Singakademie unter Distlers Leitung Monteverdis Orfeo in der Bearbeitung von Carl Orff in Esslingen und wenig später in Stuttgart. Am Palmsonntag 1938 führt Hugo Distler mit der Singakademie Bachs Johannespassion in der Esslinger Stadtkirche auf. Da die Aufführung ohne Genehmigung der NS-Kulturgemeinde erfolgt ist, hat dies die Auflösung der Singakademie zur Folge. Dazu Erika Kienlin:

Als sich die Singakademie mit der Aufführung der Johannespassion ihr Grab gegraben hatte, weil ihr die nationalsozialistische Kulturgemeinde von da an ihr Wohlwollen versagte, da waren bei dem traurigen Abschied voneinander Hugo Distlers letzte Worte an uns Sänger:"Es muß Ihnen das Glück genügen, daß Sie diese Werke mitgesungen haben."***

 
1938 Die Teilnahme an einer Orgeltagung in Freiburg, für die er eigens Dreißig Spielstücke für die Kleinorgel oder andere Tasteninstrumente op. 18.1 komponiert hatte, sagt Hugo Distler kurzfristig ab, nachdem die Veranstalter (darunter der HJ-Mann Joseph Müller-Blattau) seine geistlichen Orgelstücke stillschweigend aus dem Programm genommen haben. Eine sehr kränkende Sache, die aber ganz die Entwicklung der Dinge bestätigt, wie ich sie kommen sehe. 8) – Im September 1938 beginnt Hugo Distler mit der Komposition seines Mörike-Chorliederbuchs op. 19, das er im  Frühjahr 1939 vollendet.
 

Hausorgel von Hugo Distler, erbaut 1938

 
1939

Am 26. Juni 1939 wird sein Mörike-Chorliederbuch in Graz vom Stuttgarter Hochschulchor unter Distlers Leitung mit großem Erfolg aufgeführt. Im zweiten Teil des Konzerts führt Bruno Grusnick mit seinem Lübecker Chor Sätze aus Distlers Neuem Chorliederbuch op. 16 auf.9 Im Sommer 1939 beginnt er mit der Skizzierung des Textes zu einem Friedens-Oratorium Die Weltalter.10

Seit Beginn des Zweiten Weltkriegs wird Distler mehr und mehr von der Angst beherrscht, zum Kriegsdienst gezwungen zu werden. Er glaubt, eine Abwendung des Kriegsdienstes nur noch dadurch erreichen zu können, daß er sich „unabkömmlich“ macht, was in seinen Augen, wenn überhaupt, nur noch in Berlin möglich ist.11
 

 
1940

Im August 1940 wird Hugo Distler an die Berliner Hochschule für Musik berufen als Professor für Chorleitung, Tonsatz, Komposition und Orgelspiel. Er tritt seinen Dienst am 1. Oktober an und erlebt die ersten Bombenangriffe auf Berlin. Im November 1940 bezieht Distler mit seiner Familie ein Haus in Strausberg, 35 km nordöstlich von Berlin. Es beginnt eine Zeit fruchtbarer Zusammenarbeit mit dem Berliner Theaterregisseur Jürgen Fehling. Für dessen Inszenierung von Ludwig Tiecks „Ritter Blaubart“ am Schillertheater komponiert Hugo Distler die Schauspielmusik Ritter Blaubart. In einem Brief schreibt er: Nach dem ‚Blaubart’ kommt eine herrliche Tragödie von Grabbe, ‚Hannibal’ dran[...] Aber das Schönste ist, daß sich jetzt endlich für mich ein Zugang zur Bühne und schließlich zur Oper bietet. Jürgen Fehling [...] strebt eine Dauerarbeit an und hat bereits angefragt, ob ich für den nächsten Herbst eine Musik zum König Lear (wieder mit George) schreiben will. 15)  Ein Zerwürfnis Fehlings mit dem Intendanten des Schillertheaters, Heinrich George, beendet diese hoffnungsvolle Phase künstlerischer Zusammenarbeit.
 

 
1941

Am 9. Juli 1941 werden die beiden letzten großen Motetten aus Distlers Geistlicher Chormusik – Das ist je gewisslich wahr und Fürwahr, er trug unsere Krankheit – an der Berliner Musikhochschule durch Theodor Jakobi und den A-cappella-Chor der Hochschule uraufgeführt. Hugo Distlers Lied am Herde op. 21,2 – eine heitere Solokantate für hohen Baß und Kammerorchester – erlebt ihre Uraufführung am 1. Oktober in Bielefeld in einer Fassung für zwei Klaviere und Baß. Es musizieren Paul Gümmer sowie Hugo Distler und Ursula Ebbeke am Klavier. 

Distler nimmt die seit Kriegsbeginn unterbrochene Arbeit an seinem Oratoriumstext Die Weltalter mit vermehrter Intensität wieder auf und verbindet in seinem Werk die Kassandra-Sage (nach Aischylos' "Agamemnon") mit dem Mythos vom Goldenen Zeitalter. Er übernimmt dabei wörtlich Passagen aus einem Novalis-Fragment, das ein Jahr später auch auf dem Flugblatt IV der Weißen Rose auftaucht.16) Das Fragment lautet:

Es wird so lange Blut über Europa strömen, bis die Nationen ihren fürchterlichen Wahnsinn gewahr werden, der sie im Kreise herumtreibt, und von heiliger Musik getroffen und besänftigt zu ehemaligen Altären in bunter Vermischung treten, Werke des Friedens vornehmen und ein großes Friedensfest auf den rauchenden Walstätten mit heißen Tränen gefeiert wird. Nur die Religion kann Europa wieder aufwecken und das Völkerrecht sichern und die Christenheit mit neuer Herrlichkeit sichtbar auf Erden ihr altes, friedenstiftendes Amt installieren.

Es gelingt Hugo Distler mit Mühe, seinen fünften Gestellungsbefehl abzuwenden; er schreibt darüber in einem Feldpostbrief an seinen Freund Alfred Kreutz: Jedenfalls kann ich Ihnen sagen, dass ich ziemlich viel ausgestanden habe, zumal bei meinem ungeduldigen Temperament; ich habe das Gefühl, aller meiner Sünden durch diese Vorhölle ledig geworden zu sein, zumal ich noch nie von mir behauptet hatte, daß ich zum Heros geboren sei, trotz der heroischen Zeit. Erst allmählich wurde ich wieder Mensch und kehrte als ein Neugeborener in das alltägliche Berufs- und sonstige Leben zurück.17)
 

 
1942 In der Berliner Singakademie wird am 3. Februar 1942 die Orchesterfassung von Distlers Lied am Herde und am  21. Februar 1942 Distlers Streichquartett a-moll op. 20,1 uraufgeführt.18) Im April 1942 übernimmt Distler die Leitung des Berliner Staats- und Domchors und bezieht eine Dienstwohnung in der Nähe des Doms. Um diese Zeit gerät er ins Visier der SS.

Sein Verleger Karl Vötterle berichtet: [Im Jahre 1942 wurde ich] nach Berlin zu einem mit der ‚weltanschaulichen Ausrichtung’ beauftragten hohen SS-Führer zitiert. Das Gespräch mit diesem Herrn, er hieß Karl Cerff 19) und hatte ein ganzes Stockwerk im „Kaiserhof“ zu Verfügung, verlief ungefähr so:

Cerff: ‚Wie ich sehe, verlegen Sie unentwegt Kirchenmusik. Ich will nichts gegen alte Kirchenmusik sagen, das sind Dokumente unserer Geschichte. Aber Sie verlegen ja auch neue Kirchenmusik.’ Ich stellte mich dumm und erwiderte: ‚Ist denn die Musik, die ich verlege, schlecht?’

Cerff: ‚Darum geht es nicht! Deutschland führt einen Krieg gegen das Weltjudentum. Christentum und Judentum sind eins. Wer neue Musik verlegt, hilft den Gegnern des deutschen Volkes. Waren Sie schon einmal in einem Schulungslager? Nein? Dann wird es höchste Zeit! Ich habe vor wenigen Tagen Ihrem Autor Hugo Distler genau dasselbe gesagt. Man muß euch nur richtig anfassen, dann werdet ihr schon begreifen, worum es geht. Hugo Distler wird es auch einsehen. Jedenfalls ist er zusammengeklappt wie ein Taschenmesser. 20)

Hugo Distler selbst schreibt im August 1942 an seinen Freund Alfred Kreutz entmutigt über seine Erfahrung mit dem SS-Oberführer und HJ-Obergebietsführer Karl Cerff: Inzwischen erlebe ich mit dem Berliner Staats- und Domchor Schwierigkeiten [...] Die HJ macht dauernd Scherereien wegen Freigabe der Knaben für den Dienst im Chor. Um dies zu klären, machte ich mir vergangenen Donnerstag von hier aus [Ahlbeck] die Mühe, eigens nach Bln. zu fahren, um mit unserem sehr geschickten stellvertretenden Hochschuldirektor, Professor Rühlmann, zusammen den PG Cerf vom Hauptkulturamt der N.S.D.A.P. zu besuchen, den Rühlmann kannte.

Ergebnis völlig negativ; erschütternder Eindruck; Cerf  in meinem Alter, nach der Darstellung Rühlmanns einstmals Bankangestellter. Wir kamen überhaupt nicht zu Wort vor dem Hassgesang gegenüber der Kirche. Ich muß aber trotzdem sagen, daß ich über den Eindruck der Persönlichkeit dieses Mannes noch weit erschütterter gewesen bin denn über den (im geheimen erwarteten) negativen Erfolg.

Ich gehe mit großem Grausen ins neue Semester. Man hat so viel organisatorische Arbeit, daß man zum Musizieren überhaupt nicht mehr kommt. Und schließlich scheitern alle Bemühungen an solchen nicht zu beseitigenden Schwierigkeiten. Vielleicht bist in dem Punkt Du sehr zu beneiden. 21)

Hugo Distler kann noch vier Motetten aus den Weltaltern vollenden, bricht aber die Arbeit an seinem Oratorium im September 1942 ab.

Am 14. Oktober 1942 erhält Hugo Distler seinen sechsten Gestellungsbefehl (fünfmal konnte er die Befehle abwenden). Am 1. November 1942 setzt er seinem Leben ein Ende.

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 * Vgl. hier unter "Zeitgeschichte" den Abschnitt  "Der Knabenchor von St. Jakobi und die HJ".

**  Aus Briefen von Dr. Volker Typke, Sohn des Ehepaares Typke, die er am 21.1.2010 und am 9.3.2010 an Hugo Distlers Tochter Barbara Distler-Harth schrieb:

"Für meine Mutter stand es immer außer Frage, dass Ihr Vater, Hugo Distler, im Gegensatz zu meinen Eltern der 'nationalsozialistischen Idee' fremd und ablehnend gegenüberstand. Das hat sie - nach meiner Erinnerung - bei allen Gesprächen betont, die sich zu diesem Thema ergaben. Aus diesem Grund war das Thema 'Nationalsozialismus' in der Beziehung zwischen Hugo Distler und meinen Eltern ausgespart. Dagegen hat meine Mutter öfters davon gesprochen, welch unerträglicher Gedanke es für Ihren Vater war, irgendwann einmal ein Gewehr in die Hand nehmen zu müssen, um es auf Menschen zu richten. - Würden Sie die Auffassung teilen, dass es bei dem Brief-Zitat eher darum geht, Teilnahme an der Enttäuschung meiner Eltern zu zeigen?"

Den hier zitierten Brief schrieb Hugo Distler am 20. September 1939 an das Ehepaar Typke, vollständig abgedruckt bei Winfried Lüdemann in: Hugo Distler. Eine musikalische Biographie (Augsburg 2002), S.319 ff.  Vgl. Barbara Distler-Harth: Hugo Distler - Lebensweg eines Frühvollendeten (Mainz 2008), S. 375.

*** Erika Kienlin: Erinnerungen an Hugo Distler.  In: Hausmusik 2 (1958).


[1] Winfried Lüdemann: Hugo Distler – eine musikalische Biographie. Augsburg 2002, S. 29
[2] Brief Hugo Distlers vom 21. Januar 1928 an Ingeborg Heinsen
Barbara Distler-Harth: Hugo Distler – Lebensweg eines Frühvollendeten. Mainz 2008, S. 69
[3]Herwart Vorländer: Kirchenkampf in Elberfeld 1933-1945. Göttingen 1968
[4] Karl Friedrich Reimers: Lübeck im Kirchenkampf des Dritten Reiches. Göttingen 1965, S. 32 f.
Distler-Harth, a.a.O., S. 186 ff.
[5] Paul Thienhaus: Tagebuchnotizen über Hugo Distler vom 31. Dezember 1936
Distler-Harth, a.a.O., S. 242 f.

[6] Brief Hugo Distlers vom 27. Mai 1937 an Axel Werner Kühl
Distler-Harth, a.a.O., S. 258 ff.

[7] Brief Hugo Distlers vom Oktober 1937 an Frau Lindloff
Distler-Harth, a.a.O., S. 232 f.

[8] Brief Hugo Distlers an Erich Thienhaus vom 16. Mai 1938
Universität des Saarlandes - Fachrichtung 3.10 - Musikwissenschaft

Dr. Joseph-François Angelloz und dem damaligen Direktor des Saarbrücker Konservatoriums Prof. Dr. Joseph Müller-Blattau beginnt die Geschichte des ...
Distler-Harth, a.a.O., S. 266 ff.
[9] Distler-Harth, a.a.O., S. 283 f.
[10] Distler-Harth, a.a.O., S. 286 f.
[11] Distler-Harth, a.a.O., S. 286 ff.

 

 

 

 

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