Brief Distlers an Ingeborg Heinsen



Landeskonservatorium Leipzig (um 1920)


Eine langjährige Kinder- und Jugendfreundschaft bestand zwischen Hugo Distler und der späteren Pianistin Ingeborg Heinsen. Beide hatten ihren ersten Klavierunterricht bei der Nürnberger Klavierlehrerin Elisabeth Weidmann. Als Hugo elf Jahre alt war, spielten er und seine neunjährige kleine Freundin zum ersten Mal in einem Schülerkonzert vierhändig zusammen, und zwar das "Rondeau militaire" von Diabelli, das ihre Lehreirn für ihre "besten Schüler" (so Ingeborg Heinsen) ausgesucht hatte. In ihren Erinnerungen berichtet I.Heinsen:

Frl. W. fragte erst Hugo, welchen Part er spielen wolle, den Diskant oder den Bass. Hugo sagte, er ließe seine Dame immer rechts sitzen. [...] Hugo trug einen braunen Waschsamtanzug, ich ein weißes Stickereikleid. Ein Jahr darauf war wieder Schülerkonzert, bei dem wir aber nur solo spielten. Nach meiner Nummer bekam ich ein Rosenbukett, was mich in große Verlegenheit brachte, denn ich wußte nicht, wie ich mich nun zu verhalten hätte.Meine Lehrerin flüsterte mir zu, ich solle einen Knicks machen, das tat ich, um dann erleichtert von der Bühne zu hüpfen. Als ich am Schluss des Konzerts fragte, von wem denn wohl die Rosen  seien, sagte Hugo stolzgeschwellt: "Die Rosen, Inge, die sind von mir." Als uns unsere Lehrerin fragte, welches von allen vorgetragenen Stücken uns am besten gefallen habe, fand Hugo den "Aufschwung" von Schumann als das hübscheste Stück.


Aus einem Brief, den Hugo Distler am 21. Januar 1928 von seinem Studienort Leipzig aus an Ingeborg Heinsen schrieb, geht hervor, dass er damals hoffte, auch seine Nürnberger Jugendfreundin würde zum Musikstudium nach Leipzig kommen. Offenbar hatten sie entsprechende Pläne schon ausführlich miteinander erörtert. Aus Vorfreude darauf, demnächst mit ihr gemeinsam in Leipzig Musik zu studieren, schilderte er ihr das Leipziger Musikleben in den interessantesten und lebhaftesten Farben und beantwortete bereitwillig alle berufsbezogenen Fragen, die sie auf dem Herzen hatte:


Liebe Inge!

zunächst, was den Beruf von Klavierlehrerinnen an Konservatorien betrifft, so findet sich schon noch hie und da (auch in Leipzig) irgend so eine ausrangierte Lokomotive aus dem vorigen Jahrhundert, aber - (sagte mir Keller) - aber auf diesem Berufsgebiet ist gerade die  umgekehrte Tendenz im Fortschritt wie in anderen Berufen: es besteht ein ungeschriebenes Gesetz, das ehemals schwache Geschlecht aus dem Konservatoriums-Klavierlehrerberuf zu verdrängen.

Zweitens: Selbtverständlich mußt Du verschiedene Nebenfächer belegen, als da sind: Musikgeschichte, Gehörbildung, Chor, Theorie, doch kein zweites Instrument.

Du fragst mich, was ich hier spiele? Zunächst - daß Du schon den schweren Chopin spielst (ich höre ihn zum Überdruß oft) freut mich sehr, daß Du den Gradus durchhast, darum beneide ich Dich ganz selbstlos: ich bin bei der ersten der Himmelsleitersprossen, und zwar nehme ich sie im langsamsten Zeitmaß. Schön, wunderschön! Nach der Mozartsonate spiele ich eine Regersonate (e-moll), dann ein blödes Hummelrondo und jetzt Sonaten von Scarlatti.

Daß Du so viele Konzerte besuchen kannst, versetzt mich ebenfalls in gelinden Neid - deshalb brauchst Du aber noch keine Angst vor mir zu haben -, mir sind sie hier zu teuer und zeitraubend.

Krug spielt Rhodes Variationen? Solche Lehrer wie Krug gibt es hier in Fülle.

Übrigens ist meine Passacaglia noch nicht fertig: Grabner sagt, ich müsse noch eine große Fuge als Abschluß komponieren; da ich in Kontrapunkt noch nicht so weit bin, um Fuge schreiben zu können, arbeite ich zur Zeit an anderem: jetzt an einer Klaviersonate nach Art der freien Busonisonatinen. Ich habe sie erst angefangen, Grabner noch nicht gewiesen.

Übrigens lernte ich nach und nach einige von Grabners Kompositionen kennen: sie sind großartig, von ergreifender Natürlichkeit und gehen ihre besonderen Wege durch das Wirrwar Tonal-Atonal.

Noch eins: für den genialsten Komponisten, den wir besitzen - nicht wir, sondern leider die Schweiz - halte ich


Arthur Honegger:


Es ist ein junger Komponist. Jüngst wurde im Gewandhaus sein Oratorium "König David" aufgeführt. Es war das Überwältigenste, was ich je in diesem geweihten Hause hörte.  In Leipzig wird er immer bekannter, am Kon wird er eifrig gespielt, im Philharmonischen Verein in nächster Zeit sein Oratorium "Judith" aufgeführt. Ich wurde mit Honegger (der sich übrigens ganz als Franzose betrachtet und in Paris  lebt) bekannt durch einen Studiengenossen bei Grabner, William Keiber, einen Schweizer, den Enkel des Direktors vom Mannheimer Konservatorium. Er wird Kapellmeister.

Nun genug von mir. Grüße, bitte, Deine lieben Angehörigen und unsere gemeinsamen Bekannten von mir. An Ostern komme ich. Da werde ich mir die Freiheit nehmen, Dich aufzusuchen.

Bis dahin lebe wohl und sei herzlichst gegrüßt von
Hugo Distler




 

 

 

 

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