Distlers Projekt "Die Wiedertäufer"


   Während eines Berlin-Aufenthalts war Hugo Distler am 1. Juli 1934 frühmorgens durch ein menschenleeres Viertel der Stadt gegangen und hatte zu seinem Entsetzen einen erschossenen Mann allein und verlassen auf der Straße liegen sehen. Dieser war vermutlich ein Opfer der Morde, die die SS im Zusammenhang mit dem sogenannten Röhm-Putsch in der Nacht vom 30. Juni zum 1. Juli 1934 verübte. Hitler entledigte sich damit bekanntlich auf einen Schlag seines innerparteilichen Widersachers, des SA-Führers Röhm, und dessen engerer Gefolgschaft. In derselben Nacht wurden auch zahlreiche politische Gegner des NS-Regimes ermordet.

   Distler kam verstört aus Berlin nach Lübeck zurück und sprach mit seiner Frau immer wieder entsetzt über das, was er gesehen hatte. Waltraut Distler schenkte ihrem Mann daraufhin ein kleines Buch von Heinrich Gresbeck über die Wiedertäufer zu Münster, das einen Gruß an ihn in Waltrauts Handschrift enthält. Das Buch enthält einen Augenzeugenbericht aus dem sechzehnten Jahrhundert: die Aufzeichnungen des jungen Schreinermeisters Heinrich Gresbeck über das Reich der Wiedertäufer, die in den Jahren 1534/35 in der westfälischen Bischofsstadt Münster eine Wahn- und Schreckensherrschaft ausübten.

   Diese Schrift und ein weiteres Buch aus Distlers erhaltenen Bücherbeständen – Die Wiedertäufer zu Münster 1534/35, herausgegeben von Klemens Löffler – waren die Quellen, auf die Hugo Distler zurückgriff, als er sich in den Jahren 1934/35 mit der Geschichte der Wiedertäufer in Münster intensiv beschäftigte. Wie aus einer Karte an seinen Lübecker Musikerkollegen und Freund Bruno Grusnick hervorgeht, entwarf Distler während eines mehrwöchigen Kur-Aufenthalts in Bacharach einen detaillierten Plan zu einer Oper über die Wiedertäufer.

   Vordergründig handelte es sich bei der geplanten Oper um ein „rein historisches“ Projekt: die musikdramatische Darstellung einer längst vergangenen düsteren Geschichte aus dem ersten Drittel des „religiös erregten sechzehnten Jahrhunderts“. Tatsächlich aber weist die Geschichte der Wiedertäufer zu Münster – en miniature und „in Reinkultur“ – Züge auf, die charakteristisch sind für alle fundamentalistisch begründeten Diktaturen. Mit seiner Oper wollte Hugo Distler das Innenleben einer solchen Diktatur darstellen.

   Hugo Distler hat diesen Entwurf später nicht weiter ausgeführt und auch weitere Textvorlagen, die er für Oper und szenisches Oratorium schrieb, nicht oder nur fragmentarisch in Musik gesetzt.
Wenn er jedoch 1934/35 in Nazideutschland das Wiedertäuferthema aufgriff, dann ist dies von besonderem biografischen Interesse, und beim Lesen der Texte, die er verwendete, erschließt sich dann auch unwillkürlich etwas von dem Mitgefühl und dem Schrecken, die ihn offenbar leiteten, als er sich gerade diesem finsteren Thema zuwandte.

   Distler, der so sehr auf das Echo anderer angewiesen war, hat seinen Opernentwurf mit Sicherheit einigen ihm nahestehenden Personen zum Lesen gegeben, allen voran Bruno Grusnick. Und dieser dürfte ihm davon abgeraten haben, ein Projekt weiterzuverfolgen, das damals bestürzende Aktualität besaß und eben deshalb auf tragische Weise "unzeitgemäß" war.

 

Anno 1534/35:
 Die Wiedertäufer zu Münster

 

"O Herre Gott, wie haben sie das Volk zu beiden Seiten verraten, und haben sie [die Leute] gebracht um all ihre Wohlfahrt und haben sie gebracht ein Teil um Leib und Gut. Hätten dieselben zuvor gewusst, die sich des Freitags taufen ließen, was die Prediger im Sinn hätten gehabt mit der Taufe, da wäre des Freitags nicht ein Kind in der Stadt geblieben, sondern wären all miteinander ausgezogen."

Heinrich Gresbeck, 1535


   Der einzige zeitgenössische Erzähler, der das ganze Wiedertäuferreich mitangesehen hat, ist der Schreiner Heinrich Gresbeck, der kurz vor der Vertreibung der Nichtwiedergetauften nach Münster gekommen war und die Taufe der Flucht vorzog. Er erzählt in niederdeutscher Sprache, in der behaglichen und stilistisch unbeholfenen Weise des Volkes [...], aber anschaulich, lebendig und zuverlässig in allem, was er selbst sah und hörte.

   Sein Buch - Meister Heinrich Gresbeck: Summarische Erzählung und Bericht der Wiedertaufe und was sich binnen der Stadt Münster in Westfalen zugetragen im Jahr 1535 - enthält einen Augenzeugenbericht aus dem sechzehnten Jahrhundert: die Aufzeichnungen des jungen Schreinermeisters Heinrich Gresbeck über das Reich der Wiedertäufer, die in den Jahren 1534/35 in der westfälischen Bischofsstadt Münster eine Wahn- und Schreckensherrschaft ausübten.

   Über vieles (die Beratungen und Pläne der Führer, ihr Verhältnis zueinander, das Innere der Hofhaltung Johanns von Leiden, die eigentümlichen Lehren der Sekte usw.) ist er aber nur mangelhaft unterrichtet, weil er zum großen Haufen gehörte und dem wiedertäuferischen Wesen innerlich fremd blieb.

   Von besonderem zeitgeschichtlichen Interesse sind diejenigen Abschnitte in Gresbecks Text, in welchen suggestiv erzeugte Massenphänomene beschrieben werden, die 400 Jahre später in abgewandelter Form im NS-Staat wiederkehrten. Den Zitaten aus Gresbecks Bericht soll eine kurze Zusammenfassung der Geschichte des Wiedertäuferreichs vorangestellt werden:

   Der Prediger Bernhard Rothmann hatte 1530 in Münster die lutherische Lehre verbreitet; 1532 wurden sämtliche katholische Pfarrkirchen den Protestanten überlassen. Dem waren ein Volksaufstand und Kirchensturm vorausgegangen, weil der Fürstbischof Franz von Waldeck gegen die Anhänger Luthers mit Gewalt vorgehen wollte. Die ergrimmten lutherisch gesinnten Bürger überfielen daraufhin in der Weihnachtsnacht 1532 das bischöfliche Lager im nahen Telgte mit 600 Reitern und 300 Fußknechten. Die dort versammelten Stände, die hohe Geistlichkeit und die Ritterschaft, wurden gefangengenommen; nur drei Domherren konnten über die zugefrorene Ems entkommen. Der Bischof selbst war zu seinem Glück am Tage vorher nach Iburg geritten.

   In Schwaben, am Rhein und in Holland hatte sich um diese Zeit die Sekte der Wiedertäufer ausgebreitet, die die Kindtaufe verwarf und die Wiedertaufe der Erwachsenen lehrte, nach dem Vorbild der ersten Christen die Gütergemeinschaft forderte und ihren Anhängern die baldige Ankunft des Herrn und des 1000-jährigen glückseligen Gottesreichs versprach. Die Wiedertäufer schickten ihre Apostel auch nach Münster. Hier hatte Rothmann von der Kanzel Ansichten verkündet, die sich der Lehre der Wiedertäufer annäherten.

   Katholiken und Lutheraner versuchten vergeblich, die neue Lehre zu bekämpfen. Die Wiedertäufer machten bald ein Drittel der Einwohner der Stadt Münster aus, der Zuzug von draußen hörte nicht auf, der gesamte Magistrat der Stadt wurde mit Wiedertäufern besetzt.

   In den ersten Tagen des Jahres 1534 erschienen die selbsternannten Propheten Johann Matthiesen (ein Bäcker aus Harlem) und Johann Bockelsohn (Schneider, Wirt und Handelsmann aus Leiden) in Münster und herrschten nun mit unbeschränkter Gewalt in der Stadt. Eine Schreckenszeit brach über Münster herein. Alle Bürger, die sich den Wiedertäufern nicht anschließen wollten, wurden aus der Stadt verjagt, die Gütergemeinschaft und die Vielweiberei eingeführt, die Kirchen zerstört, die wertvollen Bibliotheken verbrannt.

   Matthiesen fiel bei einem Scharmützel mit den bischöflichen Belagerern. Der Bürgermeister Bernhard Knipperdollinck, der den Befehl gegeben hatte, alles Hohe zu erniedrigen und alle Turmspitzen der Stadt abzubrechen, wurde von dem Propheten Johann von Leiden zum Scharfrichter „erniedrigt“. Schließlich ließ sich Johann von Leiden zum König von Sion krönen. Festlichkeiten wechselten mit Hinrichtungen ab. Eine schreckliche Hungersnot folgte. Die erwartete Hilfe der holländischen Wiedertäufer blieb aus.

   Fürstbischof Franz von Waldeck hatte unterdessen mit Hilfe des Reiches und der Fürsten ein Belagerungsheer zusammengebracht. Die Stadt wurde eingeschlossen und jede Zufuhr abgeschnitten. In der Nacht des 24. Juni 1535 fiel die ausgehungerte Stadt durch Verrat zweier Münsterischer Bürger. Die Herrschaft des Wiedertäuferkönigs, der selbst an seine göttliche Sendung geglaubt hatte, war beendet.
 (Z.T. zitiert nach Klemens Löffler vgl. unten [2].)

                              *****

Heinrich Gresbeck hat die Leiden der Menschen in der belagerten Stadt fünfzehn Monate lang geteilt. Es folgen Auszüge aus seinem Bericht:

Die Gottlosen werden aus Münster verjagt, die Zurückbleibenden werden getauft.
"
So ist nun der Freitag (27. Februar 1534) gekommen nach demselben Montag, da sie [die wiedergetauften Bürger Münsters] hatten den Rat erkoren. Da sind sie auf denselben Freitag des Morgens zu sieben Uhren in der Stadt gelaufen die Straßen auf und nieder und haben gerufen: „Heraus, ihr Gottlosen, Gott will einmal aufwachen und will euch strafen!“

So liefen sie durch die Stadt mit ihrem Gewehr, mit Büchsen, Spießen und Hellebarden, und schlugen die Türen auf und haben da einen jeden aus der Stadt gejagt, die sich nicht wollten taufen lassen. Und dieselben mussten lassen stehen all dasjenige, was sie hatten, Haus und Hof, Weib und Kind, und mussten so jämmerlich von dem Ihren ziehen und lassen das so stehen. So sind Männer und Frauen, Mägde und Kinder und all die Geistlichkeit zur Stadt Münster ausgezogen [...] Ist ein böses Wetter gewesen mit Regnen und Schneien und großem Wind [...]"

Diejenigen, die in der Stadt geblieben waren, wurden mit Gewalt zur Taufe gezwungen:

"Sie mussten gehen auf den Markt und lassen sich taufen [...] So standen auf dem Markte drei oder mehr Prediger und tauften die Leute. Da sagten [sie] zu den Leuten, die sie tauften, sie das Böse sollten lassen und tun das Gute, und hatten einen Eimer Wasser vor sich stehen.

Und so gingen die Leute vor dem Prediger auf die Knie sitzen. So taufte der Prediger die Leute mit drei Händen voll Wassers im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, Amen."

Gresbeck – unbeeinflussbar und scharfsinnig – schreibt:

"Aber ihre [der Prediger] Meinung war so gut nicht. Es hatte alles eine andere Meinung in sich, als sie noch auf das Letzte wahr wurden, als ihr noch fortan hören sollt."

Gresbeck beschreibt dann, wie die Führer der Bewegung – die Propheten – das Volk zum Kadavergehorsam umerzogen. Dabei suggerierten sie den zu Unterwerfenden zunächst panische Angst vor irdischer und höllischer Strafe wegen angeblich übergroßer Schuld [= Unreinheit]. Nur wenn die Zwangsgetauften sich selbst erniedrigten und dem „Bösen“ büßend abschworen [das heißt allem, was nicht der Lehre der Wiedertäufer entsprach],  konnten sie, wie die Propheten ihnen einhämmerten, sich am Ende reinwaschen und Erlösung finden.

Die Propheten bedrohen die Wiedergetauften und verkünden ihnen dann Gottes Gnade.
"
So ließen die zwei Propheten [Johann Matthiesen und Johann von Leiden] alle die Mannleute, die in der Stadt waren, auf den Domhof beieinander kommen mit ihrem Gewehr und Harnisch, und gingen sieben [Mann] stark in den Reihen.

Da ließen die Propheten ausrufen auf dem Domhof, die Gnadentür wäre zu, Gott wäre verzürnt. Alle, die am Freitag getauft waren, mussten auf eine Seite gehen und ihre Büchsen und Harnische von sich legen. Dann mussten sie sich auf ihr Angesicht legen und den Vater [Gott] bitten, daß sie in der Stadt bleiben und zu Gnaden kommen möchten.

Die Propheten und Prediger sagten, Gott wolle nichts Unreines in der Stadt Münster haben, Gott wolle ein heiliges Volk haben, das seinen Namen preisen sollte. So haben dieselben eine Stunde lang gelegen auf der Erde und haben geschrien und gebetet, und waren alle Augenblicke in Erwartung, daß die Propheten und die Prediger mit den andern Wiedertäufern wären über sie gefallen und hätten sie totgeschlagen."

Gresbeck berichtet, die verängstigten Männer hätten sich dann willenlos in die St. Lamberti- Kirche führen lassen, wo sie noch einmal an die drei Stunden auf Händen und Füßen gelegen hätten. In dieser Stellung mussten sie den „Vater“ bitten:

„'O Vater, o Vater, o Gott, erbarme dich unser und nimm uns zu Gnaden!' [...] Johann von Leiden und Schlachtschaep standen vor der Kirchtür und hörten zu. So das Rufen geschehen war, da schlossen sie die Kirchtür auf und gingen in die Kirche. Da ging Johann von Leiden auf einen Altar stehen und sagte da: „Liebe Brüder, ich soll euch verkündigen von Gottes wegen, daß ihr Gnade von Gott habt und sollt bleiben bei uns und sein ein heiliges Volk.“ So sind sie wieder nach dem Domhof gegangen, und jeder hat sein Gewehr wieder geholt und ist da nach Hause gegangen."

Bald darauf statuierten die Propheten ihr erstes Exempel, um zu demonstrieren, was denjenigen blühte, die es wagten, die lauteren Absichten der Propheten in Frage zu stellen:

Strafgericht über die Sünder.
"
So ist ein Bürger in der Stadt gewesen, genannt Hupert Smit, der sollte in einer Nacht wachen. Derselbe Bürger hatte gesagt auf der Wachen, die Propheten und Prediger wollten so lange prophetieren, daß sie uns wollten um den Hals bringen, sie müssten wohl einen Teufel im Leib haben.

Dasselbe wurde den Propheten und den Predigern [hinterbracht], daß derselbe Bürger auf der Wache solche Rede hätte gehabt. Da gingen sie hin und ließen denselben Bürger fangen und ließen ihn in den Turm werfen. Des andern Tages ließen sie alle die Mannleute beieinander kommen auf den Domhof [...] [Zuletzt] ließen sie den Bürger in den Ring kommen [...] Da gingen die Propheten und Prediger hin und verklagten ihn vor der Gemeinde, daß er hätte auf Gott, seine Propheten, Apostel und Prediger gesprochen [sie verleumdet]. Er wäre des Todes schuldig, er müsste sterben, er hätte Gott verzürnt, und es wäre Gottes Wille, Gott wolle nichts Unreines in seiner Stadt haben, und alles, was in Sünde sei, müsse ausgerottet sein, Gott wolle ein heiliges Volk haben."

Gresbeck beschreibt die qualvolle Exekution dieses „Schuldigen“ in Gegenwart der Wiedergetauften, die während dieser Prozedur im Domhof büßend auf der Erde lagen. Anschließend suchten die Führer nach weiteren „Sündern“, fanden sie auch und exekutierten sie – bis auf einen: den Bürgermeister Knipperdollinck:

"Knipperdollinck lag noch auf der Erden mit dem Angesicht und wühlte wie ein Schwein in der Erden mit dem Angesicht und hatte eine große Kule in die Erde gewühlt mit Händen und Füßen und mit dem Angesicht.[…] So ist Johann von Leiden auf den Domhof gegangen und hat in die Luft gesehen und hat prophetiert und hat bei sich selbst alleine gesagt: „Es wird weiß, es wird schwarz, es wird weiß, es wird schwarz.“ Als Johann von Leiden genug prophetieret hatte, da ging er zu demselben Bürgermeister und den zwei andern und nahm sie auf und verkündete ihnen, daß sie Gnade vor Gott hätten und sie sollten sich bessern."

Knipperdollinck gehörte zum „Establishment“ der Stadt, dessen Polizei- und Verwaltungsapparat die Propheten brauchten, um ihre ideologische Herrschaft ungehindert errichten und ausüben zu können.

Um diese Zeit herrschte bereits schreckliche Hungersnot in der eingeschlossenen Stadt. Johann von Leiden hatte sich inzwischen zum König von Sion krönen lassen und ließ im Dom das Spiel vom reichen Mann und vom armen Lazarus aufführen. Das hungernde Volk sah begeistert zu, wie in dem Schauspiel zuletzt Teufel erschienen und den reichen Mann „mit Leib und Seele“ holten:

"Da war ein groß Lachen in dem Dom, da sahen sie große Freude."

Gresbeck klagt die Inszenatoren des Schauspiels an:

"Ach wie blind hatten sie die armen Leute gemachet. Dasselbe Spiel war einem Teil Leute ihr Gesottenes und Gebratenes. So hätten ein Teil viel lieber was gegessen, hätten sie was gehabt."

Die Prediger in den Kirchen befahlen die Bücherverbrennung: alle Bürger, die Bücher oder Briefe besaßen, mussten diese zur Verbrennung auf den Domhof bringen, ebenso befahlen die Propheten die Verbrennung aller Urkunden (Verträge und Gesetzestexte), die sich im Rathaus befanden. Damit trennten sie das Volk von seinen geistigen Besitztümern und persönlichen Erinnerungen und lieferten es noch vollständiger der gesetzlosen Willkür der Wiedertäufer aus.

Zum Abschluss folgt der Bericht Heinrich Gresbecks über den Aufstieg des Johann von Leiden zum König und „Weltherrscher“:

Johann von Leiden wird König.
"Nach ergangenem Sturm ist Johann von Leiden eine große Offenbarung gekommen, daß er sollte sein ein König über Neu-Israel
[3] und  über die ganze Welt und sollte sein nächst Gott. In der ganzen Welt sollte kein König oder Herr sein, denn Johann von Leiden, und in der ganzen Welt sollte keine Obrigkeit mehr sein, denn Johann von Leiden.

So hat Johann von Leiden die Offenbarung verkündigt dem gemeinen Volk, daß ihm so Gott geoffenbaret hätte, daß er sollte sein ein König der Gerechten, und sollte die Ungerechtigkeit strafen in der Welt, und sollte sein nächst Gott.

Das gemeine Volk hat still geschwiegen in der Stadt. Der eine hat das geglaubt und der andere nicht, mit der Offenbarung."

Gresbeck schreibt, dass es die ideologischen Führer und das Establishment waren, die die Erhebung des Johann von Leiden zum König vorantrieben und dies vor dem Volk als „gottgewollt“ hinstellten:

Die obersten von den Wiedertäufern in der Stadt sind des einig geworden, die Prediger mit Knipperdollinck und derselben noch mehr. Die hatten Johann von Leiden zu einem König gemacht.

Der gemeine Mann in der Stadt hat Johann von Leiden nicht zu einem König gemacht.

So hat Johann von Leiden fortan gesagt: 'Nur Gott hat mich zu einem König erwählet über die ganze Welt. Aber ich sage euch, lieben Brüder und Schwestern, ich wollte viel lieber den Pflug halten oder graben, denn ich so ein König sollte sein. Was ich tue, das muß ich tun, denn Gott hat mich dazu auserkoren. Lieben Brüder und Schwestern, das lasst uns Gott danken.'

Da haben sie alle aufgehört [sich innerlich aufzulehnen] und haben gesungen einen deutschen Psalm: 'Alleine Gott in der Höhe sei Ehr', und ein jeder ist da wieder zu Hause gegangen."

Mit dieser resignativen Haltung bestärkten sie Johann von Leiden in seinem Machtrausch und Größenwahn.

Heinrich Gresbeck resignierte nicht: Er beobachtete weiter den eskalierenden Wahn und dessen Folgen für die in der Stadt elend Eingeschlossenen und wagte mit einem Freund die Flucht aus Münster. Diese beiden Freunde waren jene in der Einleitung schon erwähnten zwei Bürger, die den Belagerern heimlich halfen, von außen in die hermetisch abgeriegelte Stadt einzudringen und der Schreckensherrschaft der Wiedertäufer ein Ende zu machen.

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1. Aus Meister Heinrich Gresbecks Summarische Erzählung und Bericht der Wiedertaufe und was sich binnen der Stadt Münster in Westfalen zugetragen im Jahr 1535. Ausgewählt und aus der niederdeutschen Sprache ins Hochdeutsche übersetzt von Otto Rohde.
Druck und Verlag von W. Crüwell, Dortmund,  o. J., wahrscheinlich 1933 oder 1934 erschienen.

2. Klemens Löffler (Hg.): Die Wiedertäufer zu Münster 1534/35 Berichte, Aussagen und Aktenstücke von Augenzeugen und Zeitgenossen. Mit Tafeln und 5 Abbildungen im Text. Jena 1923.

3. Dies war der Name, den die Wiedertäufer ihrem Reich gaben.

 


 

 

 

 

 

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