"O Herre Gott, wie haben sie das
Volk zu beiden Seiten verraten, und haben sie [die Leute]
gebracht um all ihre Wohlfahrt und haben sie gebracht ein Teil
um Leib und Gut. Hätten dieselben zuvor gewusst, die sich des
Freitags taufen ließen, was die Prediger im Sinn hätten gehabt
mit der Taufe, da wäre des Freitags nicht ein Kind in der
Stadt geblieben, sondern wären all miteinander ausgezogen."
Heinrich Gresbeck, 1535
Der einzige zeitgenössische Erzähler, der das ganze
Wiedertäuferreich mitangesehen hat, ist der Schreiner Heinrich
Gresbeck, der kurz vor der Vertreibung der
Nichtwiedergetauften nach Münster gekommen war und die Taufe
der Flucht vorzog. Er erzählt in niederdeutscher Sprache, in
der behaglichen und stilistisch unbeholfenen Weise des Volkes
[...], aber anschaulich, lebendig und zuverlässig in allem,
was er selbst sah und hörte.
Sein Buch - Meister
Heinrich Gresbeck: Summarische Erzählung und Bericht der
Wiedertaufe und was sich binnen der Stadt Münster in Westfalen
zugetragen im Jahr 1535 -
enthält einen
Augenzeugenbericht aus dem sechzehnten Jahrhundert: die
Aufzeichnungen des jungen Schreinermeisters Heinrich Gresbeck
über das Reich der Wiedertäufer, die in den Jahren 1534/35 in
der westfälischen Bischofsstadt Münster eine Wahn- und
Schreckensherrschaft ausübten.
Über vieles (die
Beratungen und Pläne der Führer, ihr Verhältnis zueinander,
das Innere der Hofhaltung Johanns von Leiden, die
eigentümlichen Lehren der Sekte usw.) ist er aber nur
mangelhaft unterrichtet, weil er zum großen Haufen gehörte und
dem wiedertäuferischen Wesen innerlich fremd blieb.
Von besonderem
zeitgeschichtlichen Interesse sind diejenigen Abschnitte in
Gresbecks Text, in welchen suggestiv erzeugte Massenphänomene
beschrieben werden, die 400 Jahre später in abgewandelter Form
im NS-Staat wiederkehrten. Den Zitaten aus Gresbecks Bericht
soll eine kurze Zusammenfassung der Geschichte des
Wiedertäuferreichs vorangestellt werden:
Der Prediger
Bernhard Rothmann hatte 1530 in Münster die lutherische Lehre
verbreitet; 1532 wurden sämtliche katholische Pfarrkirchen den
Protestanten überlassen. Dem waren ein Volksaufstand und
Kirchensturm vorausgegangen, weil der Fürstbischof Franz von
Waldeck gegen die Anhänger Luthers mit Gewalt vorgehen wollte.
Die ergrimmten lutherisch gesinnten Bürger
überfielen daraufhin
in der Weihnachtsnacht 1532 das bischöfliche Lager im
nahen Telgte mit 600 Reitern und 300 Fußknechten. Die dort
versammelten Stände, die hohe Geistlichkeit und die
Ritterschaft, wurden gefangengenommen; nur drei Domherren
konnten über die zugefrorene Ems entkommen. Der Bischof selbst
war zu seinem Glück am Tage vorher nach Iburg geritten.
In Schwaben, am
Rhein und in Holland hatte sich um diese Zeit die Sekte der
Wiedertäufer ausgebreitet, die die Kindtaufe verwarf und die
Wiedertaufe der Erwachsenen lehrte, nach dem Vorbild der
ersten Christen die Gütergemeinschaft forderte und ihren
Anhängern die baldige Ankunft des Herrn und des 1000-jährigen
glückseligen Gottesreichs versprach. Die Wiedertäufer
schickten ihre Apostel auch nach Münster. Hier hatte Rothmann
von der Kanzel Ansichten verkündet, die sich der Lehre der
Wiedertäufer annäherten.
Katholiken und
Lutheraner versuchten vergeblich, die neue Lehre zu bekämpfen.
Die Wiedertäufer machten bald ein Drittel der Einwohner der
Stadt Münster aus, der Zuzug von draußen hörte nicht auf, der
gesamte Magistrat der Stadt wurde mit Wiedertäufern besetzt.
In den ersten Tagen
des Jahres 1534 erschienen die selbsternannten Propheten
Johann Matthiesen (ein Bäcker aus Harlem) und Johann
Bockelsohn (Schneider, Wirt und Handelsmann aus Leiden) in
Münster und herrschten nun mit unbeschränkter Gewalt in der
Stadt. Eine Schreckenszeit brach über Münster herein. Alle
Bürger, die sich den Wiedertäufern nicht anschließen wollten,
wurden aus der Stadt verjagt, die Gütergemeinschaft und die
Vielweiberei eingeführt, die Kirchen zerstört, die wertvollen
Bibliotheken verbrannt.
Matthiesen fiel bei
einem Scharmützel mit den bischöflichen Belagerern. Der
Bürgermeister Bernhard Knipperdollinck, der den Befehl gegeben
hatte, alles Hohe zu erniedrigen und alle Turmspitzen der
Stadt abzubrechen, wurde von dem Propheten Johann von Leiden
zum Scharfrichter „erniedrigt“. Schließlich ließ sich Johann
von Leiden zum König von Sion krönen. Festlichkeiten
wechselten mit Hinrichtungen ab. Eine schreckliche Hungersnot
folgte. Die erwartete Hilfe der holländischen Wiedertäufer
blieb aus.
Fürstbischof Franz
von Waldeck hatte unterdessen mit Hilfe des Reiches und der
Fürsten ein Belagerungsheer zusammengebracht. Die Stadt wurde
eingeschlossen und jede Zufuhr abgeschnitten. In der Nacht des
24. Juni 1535 fiel die ausgehungerte Stadt durch Verrat zweier
Münsterischer Bürger. Die Herrschaft des Wiedertäuferkönigs,
der selbst an seine göttliche Sendung geglaubt hatte, war
beendet.
(Z.T. zitiert nach Klemens Löffler vgl. unten [2].)
*****Heinrich Gresbeck
hat die Leiden der Menschen in der belagerten Stadt fünfzehn
Monate lang geteilt. Es folgen Auszüge aus seinem Bericht:
Die Gottlosen werden aus
Münster verjagt, die Zurückbleibenden werden getauft.
"So ist nun der Freitag (27. Februar 1534) gekommen nach
demselben Montag, da sie [die wiedergetauften Bürger Münsters]
hatten den Rat erkoren. Da sind sie auf denselben Freitag des
Morgens zu sieben Uhren in der Stadt gelaufen die Straßen auf
und nieder und haben gerufen: „Heraus, ihr Gottlosen, Gott
will einmal aufwachen und will euch strafen!“
So liefen sie durch die Stadt mit
ihrem Gewehr, mit Büchsen, Spießen und Hellebarden, und
schlugen die Türen auf und haben da einen jeden aus der Stadt
gejagt, die sich nicht wollten taufen lassen. Und dieselben
mussten lassen stehen all dasjenige, was sie hatten, Haus und
Hof, Weib und Kind, und mussten so jämmerlich von dem Ihren
ziehen und lassen das so stehen. So sind Männer und Frauen,
Mägde und Kinder und all die Geistlichkeit zur Stadt Münster
ausgezogen [...] Ist ein böses Wetter gewesen mit Regnen und
Schneien und großem Wind [...]"
Diejenigen, die in der Stadt
geblieben waren, wurden mit Gewalt zur Taufe gezwungen:
"Sie mussten gehen auf den Markt
und lassen sich taufen [...] So standen auf dem Markte drei
oder mehr Prediger und tauften die Leute. Da sagten [sie] zu
den Leuten, die sie tauften, sie das Böse sollten lassen und
tun das Gute, und hatten einen Eimer Wasser vor sich stehen.
Und so gingen die Leute vor dem
Prediger auf die Knie sitzen. So taufte der Prediger die Leute
mit drei Händen voll Wassers im Namen des Vaters, des Sohnes
und des Heiligen Geistes, Amen."
Gresbeck – unbeeinflussbar und
scharfsinnig – schreibt:
"Aber ihre [der Prediger] Meinung
war so gut nicht. Es hatte alles eine andere Meinung in sich,
als sie noch auf das Letzte wahr wurden, als ihr noch fortan
hören sollt."
Gresbeck beschreibt dann, wie die
Führer der Bewegung – die Propheten – das Volk zum
Kadavergehorsam umerzogen. Dabei suggerierten sie den zu
Unterwerfenden zunächst panische Angst vor irdischer und
höllischer Strafe wegen angeblich übergroßer Schuld [=
Unreinheit]. Nur wenn die Zwangsgetauften sich selbst
erniedrigten und dem „Bösen“ büßend abschworen [das heißt
allem, was nicht der Lehre der Wiedertäufer entsprach],
konnten sie, wie die Propheten ihnen einhämmerten, sich am
Ende reinwaschen und Erlösung finden.
Die Propheten bedrohen die
Wiedergetauften und verkünden ihnen dann Gottes Gnade.
"So ließen die zwei Propheten [Johann Matthiesen und
Johann von Leiden] alle die Mannleute, die in der Stadt waren,
auf den Domhof beieinander kommen mit ihrem Gewehr und
Harnisch, und gingen sieben [Mann] stark in den Reihen.
Da ließen die Propheten ausrufen
auf dem Domhof, die Gnadentür wäre zu, Gott wäre verzürnt.
Alle, die am Freitag getauft waren, mussten auf eine Seite
gehen und ihre Büchsen und Harnische von sich legen. Dann
mussten sie sich auf ihr Angesicht legen und den Vater [Gott]
bitten, daß sie in der Stadt bleiben und zu Gnaden kommen
möchten.
Die Propheten und Prediger
sagten, Gott wolle nichts Unreines in der Stadt Münster haben,
Gott wolle ein heiliges Volk haben, das seinen Namen preisen
sollte. So haben dieselben eine Stunde lang gelegen auf der
Erde und haben geschrien und gebetet, und waren alle
Augenblicke in Erwartung, daß die Propheten und die Prediger
mit den andern Wiedertäufern wären über sie gefallen und
hätten sie totgeschlagen."
Gresbeck berichtet, die
verängstigten Männer hätten sich dann willenlos in die St.
Lamberti- Kirche führen lassen, wo sie noch einmal an die drei
Stunden auf Händen und Füßen gelegen hätten. In dieser
Stellung mussten sie den „Vater“ bitten:
„'O Vater, o Vater, o Gott,
erbarme dich unser und nimm uns zu Gnaden!' [...] Johann von
Leiden und Schlachtschaep standen vor der Kirchtür und hörten
zu. So das Rufen geschehen war, da schlossen sie die Kirchtür
auf und gingen in die Kirche. Da ging Johann von Leiden auf
einen Altar stehen und sagte da: „Liebe Brüder, ich soll euch
verkündigen von Gottes wegen, daß ihr Gnade von Gott habt und
sollt bleiben bei uns und sein ein heiliges Volk.“ So sind sie
wieder nach dem Domhof gegangen, und jeder hat sein Gewehr
wieder geholt und ist da nach Hause gegangen."
Bald darauf statuierten die
Propheten ihr erstes Exempel, um zu demonstrieren, was
denjenigen blühte, die es wagten, die lauteren Absichten der
Propheten in Frage zu stellen:
Strafgericht über die Sünder.
"So ist ein Bürger in der Stadt gewesen, genannt Hupert
Smit, der sollte in einer Nacht wachen. Derselbe Bürger hatte
gesagt auf der Wachen, die Propheten und Prediger wollten so
lange prophetieren, daß sie uns wollten um den Hals bringen,
sie müssten wohl einen Teufel im Leib haben.
Dasselbe wurde den Propheten und
den Predigern [hinterbracht], daß derselbe Bürger auf der
Wache solche Rede hätte gehabt. Da gingen sie hin und ließen
denselben Bürger fangen und ließen ihn in den Turm werfen. Des
andern Tages ließen sie alle die Mannleute beieinander kommen
auf den Domhof [...] [Zuletzt] ließen sie den Bürger in den
Ring kommen [...] Da gingen die Propheten und Prediger hin und
verklagten ihn vor der Gemeinde, daß er hätte auf Gott, seine
Propheten, Apostel und Prediger gesprochen [sie verleumdet].
Er wäre des Todes schuldig, er müsste sterben, er hätte Gott
verzürnt, und es wäre Gottes Wille, Gott wolle nichts Unreines
in seiner Stadt haben, und alles, was in Sünde sei, müsse
ausgerottet sein, Gott wolle ein heiliges Volk haben."
Gresbeck beschreibt die qualvolle
Exekution dieses „Schuldigen“ in Gegenwart der Wiedergetauften,
die während dieser Prozedur im Domhof büßend auf der Erde
lagen. Anschließend suchten die Führer nach weiteren
„Sündern“, fanden sie auch und exekutierten sie – bis auf
einen: den Bürgermeister Knipperdollinck:
"Knipperdollinck lag noch auf der
Erden mit dem Angesicht und wühlte wie ein Schwein in der
Erden mit dem Angesicht und hatte eine große Kule in die Erde
gewühlt mit Händen und Füßen und mit dem Angesicht.[…] So ist
Johann von Leiden auf den Domhof gegangen und hat in die Luft
gesehen und hat prophetiert und hat bei sich selbst alleine
gesagt: „Es wird weiß, es wird schwarz, es wird weiß, es wird
schwarz.“ Als Johann von Leiden genug prophetieret hatte, da
ging er zu demselben Bürgermeister und den zwei andern und
nahm sie auf und verkündete ihnen, daß sie Gnade vor Gott
hätten und sie sollten sich bessern."
Knipperdollinck gehörte zum
„Establishment“ der Stadt, dessen Polizei- und
Verwaltungsapparat die Propheten brauchten, um ihre
ideologische Herrschaft ungehindert errichten und ausüben zu
können.
Um diese
Zeit herrschte bereits schreckliche Hungersnot in der
eingeschlossenen Stadt. Johann von Leiden hatte sich
inzwischen zum König von Sion krönen lassen und ließ im Dom
das Spiel vom reichen Mann und vom armen Lazarus aufführen.
Das hungernde Volk sah begeistert zu, wie in dem Schauspiel
zuletzt Teufel erschienen und den reichen Mann „mit Leib und
Seele“ holten:
"Da war ein
groß Lachen in dem Dom, da sahen sie große Freude."
Gresbeck klagt die Inszenatoren
des Schauspiels an:
"Ach wie blind hatten sie die
armen Leute gemachet. Dasselbe Spiel war einem Teil Leute ihr
Gesottenes und Gebratenes. So hätten ein Teil viel lieber was
gegessen, hätten sie was gehabt."
Die Prediger
in den Kirchen befahlen die Bücherverbrennung: alle
Bürger, die Bücher oder Briefe besaßen, mussten diese zur
Verbrennung auf den Domhof bringen, ebenso befahlen die
Propheten die Verbrennung aller Urkunden (Verträge und
Gesetzestexte), die sich im Rathaus befanden. Damit trennten
sie das Volk von seinen geistigen Besitztümern und
persönlichen Erinnerungen und lieferten es noch vollständiger
der gesetzlosen Willkür der Wiedertäufer aus.
Zum
Abschluss folgt der Bericht Heinrich Gresbecks über den
Aufstieg des Johann von Leiden zum König und „Weltherrscher“:
Johann von Leiden wird
König.
"Nach ergangenem Sturm ist Johann
von Leiden eine große Offenbarung gekommen, daß er sollte sein
ein König über Neu-Israel [3] und
über die ganze Welt und sollte sein nächst Gott. In der ganzen
Welt sollte kein König oder Herr sein, denn Johann von Leiden,
und in der ganzen Welt sollte keine Obrigkeit mehr sein, denn
Johann von Leiden.
So hat Johann von Leiden die
Offenbarung verkündigt dem gemeinen Volk, daß ihm so Gott
geoffenbaret hätte, daß er sollte sein ein König der
Gerechten, und sollte die Ungerechtigkeit strafen in der Welt,
und sollte sein nächst Gott.
Das gemeine Volk hat still
geschwiegen in der Stadt. Der eine hat das geglaubt und der
andere nicht, mit der Offenbarung."
Gresbeck schreibt, dass es die
ideologischen Führer und das Establishment waren, die die
Erhebung des Johann von Leiden zum König vorantrieben und dies
vor dem Volk als „gottgewollt“ hinstellten:
Die obersten von den
Wiedertäufern in der Stadt sind des einig geworden, die
Prediger mit Knipperdollinck und derselben noch mehr. Die
hatten Johann von Leiden zu einem König gemacht.
Der gemeine Mann in der Stadt hat
Johann von Leiden nicht zu einem König gemacht.
So hat Johann von Leiden fortan
gesagt: 'Nur Gott hat mich zu einem König erwählet über die
ganze Welt. Aber ich sage euch, lieben Brüder und Schwestern,
ich wollte viel lieber den Pflug halten oder graben, denn ich
so ein König sollte sein. Was ich tue, das muß ich tun, denn
Gott hat mich dazu auserkoren. Lieben Brüder und Schwestern,
das lasst uns Gott danken.'
Da haben sie alle aufgehört [sich
innerlich aufzulehnen] und haben gesungen einen deutschen
Psalm: 'Alleine Gott in der Höhe sei Ehr', und ein jeder ist
da wieder zu Hause gegangen."
Mit dieser resignativen Haltung
bestärkten sie Johann von Leiden in seinem Machtrausch und
Größenwahn.
Heinrich Gresbeck resignierte
nicht: Er beobachtete weiter den eskalierenden Wahn und dessen
Folgen für die in der Stadt elend Eingeschlossenen und wagte
mit einem Freund die Flucht aus Münster. Diese beiden Freunde
waren jene in der Einleitung schon erwähnten zwei Bürger, die
den Belagerern heimlich halfen, von außen in die hermetisch
abgeriegelte Stadt einzudringen und der Schreckensherrschaft
der Wiedertäufer ein Ende zu machen.
*****