An Erich Thienhaus


Erich Thienhaus (1909-1968) war der älteste Bruder von Waltraut Thienhaus, Hugo Distlers späterer Ehefrau. Anfang der 1930er Jahre nahm Thienhaus in Lübeck Orgelunterrich bei Distler und war seither mit ihm befreundet. Thienhaus studierte Physik in Berlin und wurde ein gefragter Akustiker und Orgelsachverständiger (www.eti.hfm-detmold.de).

Im Mai 1938 wurde in Zürich die Oper "Mathis der Maler" von Paul Hindemith uraufgeführt. Hugo Distler reiste zu einer der ersten Aufführungen und schickte am 26. Mai 1938, kurz vor seiner Abreise, von Stuttgart aus eine  Postkarte an Erich Thienhaus:






"Am Samstag abend 19.55 Übertragung der Uraufführung von
Hindemiths Oper "Mathis" aus Zürich. Mußt Du unbedingt hören!
Alles Gute! Grüße an Otts!
Dein Hugo."





Den folgenden Brief schrieb Hugo Distler an seinen Schwager, unmittelbar nach dessen Hochzeit und kurz nach Kriegsbeginn, aus Vaihingen bei Stuttgart:


Vaihingen=F.
Amonitenweg 5

Den 18.9.39.

Lieber Erich, ich habe Dir und Deiner Frau Gemahlin* nicht noch selber geschrieben, Euer aber in Treue und herzlicher Mitfreude gedacht.

Ich will aber doch meinen heutigen, sehr nüchternen Brief - nicht umsonst schreibe ich mit der Maschine - mit einer nochmaligen persönlichen Gratulation beginnen.

Und nun zur Sache: Waltraut hat Dir, so viel ich weiss, schon angedeutet, dass unsere wirtschaftliche Lage durch den Krieg völlig infrage gestellt ist. Wir wissen weder etwas über die Höhe der Abfindung nach der Schliessung der Hochschule noch über das Verhältnis zu meinem Verleger. In beiden Fällen haben wir Grund anzunehmen, dass unser von diesen zwei Seiten bezogenes Einkommen in radikaler Weise beschnitten wird, vonseiten meines Verlegers vielleicht ganz ausfällt.

Ich hatte bereits auf meiner Rückreise [von einem Ferienaufenthalt an der Ostsee und in Lübeck] vorsorglicherweise mit Ott** über die Dinge gesprochen. Er braucht natürlich auch sein Geld, zumal erst die Hälfte der Summe (etwas über 4000.-) an ihn abbezahlt sind. Wie die Zeitläufe sich entwickeln, sind wir gezwungen, an die Möglichkeit ganz schwerer Zeiten (nicht nur für den Einzelnen) zu denken. Unter diesem Gesichtspunkt gewinnt nun das Gestalt, was s.Z. Ott und ich für den höchsten Ernstfall beredet hatten. Hinzukommt, dass ja nunmehr Stuttgart in der ersten Fliegergefahrzone liegt und wir alle damit rechnen, dass auch Stuttgart wie Karlsruhe in absehbarer Zeit evakuiert werden muss.

Es kommen nach unserer Meinung zwei Möglichkeiten infrage, was meine Orgel anlangt: entweder versucht Ott, sie irgendwo im östlicheren Deutschland sozusagen leihweise für die nächste Zeit unterzubringen. (Er hat mir extra erklärt, dass ja das Instrument, solang es noch nicht abbezahlt ist, sein Eigentum wäre. für das er verantwortlich wäre.) Oder aber, man sollte an Verkauf denken, und zwar dann, wenn wir zu übersehen vermögen, wie endgültig (wenn man so sagen darf) unsere wirtschaftlichen Verhältnisse sich gestalten werden, was ja allmählich, spätestens zum Monatswechsel, sich herausstellen muss. (Ich habe mit Absicht bisher Vötterle [dem Gründer des Bärenreiterverlags] gegenüber noch nichts durchblicken lassen von meinen Sorgen, da ich ihn nicht von mir aus auf solche Gedanken noch stossen möchte. Andrerseits hat er mir aber schon mitgeteilt, dass ans Weiterdrucken nicht zu denken sei, wo alle Eingänge ausblieben. So stehen die Dinge. Für den letzten Monat erhielt ich noch mein Honorar natürlich.)

Ich wollte Dir jedenfalls die Dinge gleich berichten, da Du sicher am Schicksal dieser Orgel besonderes Interesse hast. Es hat sich nämlich bereits durch Otts Vermittlung für beide Möglichkeiten (Verleihung bzw. Verkauf) ein Interessent gefunden in der Nähe von München, auf dem Land.

Wir müssen ja leider noch ein Stück weiter denken, so schwer alles uns wird, wo wir beide den praktischen Dingen des Lebens gegenüber in vieler Hinsicht noch heute sehr unwissend sind. Ich begiinne zu fürchten, dass der Augenblick kommt, wo Waltaut und die Kinder von hier weg müssen. Ich dachte etwa an Marquartstein [Oberbayern]. Ich würde dann zeitig genug die Möbel dorthin schaffen, ich selber würde dann hier irgendwo ein Zimmer mieten, vielleicht komme ich bei einem Kollegen unter. Ausserdem werde ich ja sowieso über kurzem einrücken müssen.

Wir haben in Marq. nicht nur die Tante*** von Waltraut sitzen, sondern auch die Familie eines uns befreundeten Malers(von Kraliks; sie zogen im Frühjahr dorthin.) Also hätte Waltraut Anschluss. Was meinst Du zu unseren Plänen? Weisst Du, es handelt sich vor allem um die Kinder. Wir Erwachsenen wüssten uns, selbst im Fall von Angriffen, schon nach unserem Vermögen jedenfalls zu wehren, aber ganz entsetzlich ist uns der Gedanke an die Kinder, die doch völlig wehrlos sind. (Wollen wir aber auch unsere Möbel noch in Sicherheit bringen - Du weisst, wie wir an ihnen hängen -, so müssen wir uns vor dem Zeitpunkt der offiziellen Evakuierung entschliessen, unseren Haushalt zu verlegen; denn sonst darf man nur mitnehmen, was man auf dem Leib hat.) Wir halten für das einzig noch verhältnismässig Sichere für Waltraut und die Kinder Aufenthalt auf dem Lande, denn heute ist ja faktisch jede Stadt feindlichen Luftangriffen offen.

Unsere Hochschule ist also geschlossen, das heisst: wir sollen nun die paar Leute noch zu Ende unterrichten, die noch das Examen machen. Das ist insofern ganz gut, als wir dann nicht an anderer unpassender Stelle eingesetzt werden. Dann wollen wir unsere Freizeit schon noch lieber zum musikalischen Arbeiten verwenden, ich z.B. zum Komponieren. In der Tat arbeite ich mit grosser Vehemenz an einem Streichquartett, dessen erster Satz bald fertig sein wird. Hier eine Zwischenfrage: kennst Du nicht in Berlin eine Quartettvereinigung, die etwa dafür Interesse haben könnte? Zunächst soll das Werk dem [Stuttgarter] Wendlingquartett gewidmet sein, und ich hoffe, dass es es öfters aufführen wird.

Wir sind ja nun nach Verlust des Autos [das nach Kriegsbeginn beschlagnahmt wurde] sehr von aller Welt abgeschnitten hier. Gestern war ich mit Waltrauts Damenrad in Stuttgart, eine Tagereise, wenn man allerlei zu besorgen hat. Trotzdem sind wir entschlossen, nach Möglichkeit zu versuchen, uns nicht ganz einpökeln zu lassen (was auch seine Poesie hat), indem wir hie und da Konzerte in St. besuchen, Bekannte heimsuchen usw.

Du bist Dir doch darüber klar, dass Du sehr zu beneiden bist dafür, dass  Du an Deinem alten Platz weiterarbeiten kannst. Das erscheint mir heute das entscheidende: weiterzuarbeiten. Ich wüsste nicht, was ich tun sollte, hätte ich nicht meine kompositorische Tätigkeit. Auch dass Du nicht ins Feld musst, ohne deshalb vor Dir selber als ein Mann dazustehen, der abseits steht, ist ein grosser Vorteil. Wir Musiker sind ja doch so entsetzlich "lebensunwichtig". Leider denken Viele so und man selber in traurigen Augenblicken ebenso.

Waltrut und den Kindern geht es gut. Nur die Bewirtschaftung des Haushalts mit Einholen, Schlange stehen und Abgewiesenwerden ist für Waltraut eine grosse Erschwerung; zumal wir ja z.Z. auch kein Mädchen haben. Ich helfe ihr so gut ichs vermag, aber Du weisst ja, dass meine Hilfe nicht allzuviel taugt. Doch kannst Du miich oft in Ausübung von Dingen tätig sehen, die ich mir früher nie zugetraut hätte. Es wächst halt der Mensch mit seinen höheren Zwecken.

Nun lass mich Dich und Deine liebe Frau Gemahlin unbekannterweise aufs herzlichste grüssen, auch von Waltraut.

                                                                        Dein
                                                                             Hugo



Waltraut Distler



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* Ruth Thienhaus, geb. Bauer
** Der Orgelbauer Paul Ott hatte Hugo Distlers Hausorgel 1938 gebaut und am 9. September 1938 in Vaihingen fertiggestellt.
*** Dass Distler den Namen von" Waltrauts Tante" in dem Brief nicht erwähnte, belegt - neben anderen Bemerkungen  -, dass Distler, als er seinen Brief an seinen Schwager schrieb, mit (seit Kriegsbeginn verschärfter) Zensur zu rechnen hatte und deshalb vor allem genaue Hinweise in bezug auf die Familie vermied. 



Gertrud Dickhäuser (die Marquartsteiner Tante von Erich und Waltraut) und der Schüler Erich Thienhaus hören gemeinsam  ein Konzert mithilfe des von Erich konstruierten Radioapparats.  Um 1925.




 

 

 

 

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