Hugo Distler: Musikbesprechungen


Aus zwei Beiträgen H. Distlers über Klaviermusik

in den Lübeckischen Blättern, Jahrg. 1931
(Farbige Markierung der Komponistennamen d.d. Redaktion)


I. Moderne Klaviermusik

(Im folgenden werden Edition Schott ES. und Edition Universal EU. abgekürzt)
 

   Einer der schärfsten Angriffe gegen die „Moderne Musik“ – unter welchem Begriff wir gemeinhin die Musik unseres Jahrhunderts, seit etwa A. Schönberg, zu bezeichnen pflegen – ist der, unentschieden, ob mit Recht oder Unrecht, oft erhobene Vorwurf mangelnder Verbindlichkeit, Verständlichkeit, Bodenständigkeit [...]

   Wir wissen, daß die Musik sich sehr energisch gegen diesen Vorwurf zu rühren unternahm; daß, gleichsam als Antwort gegen diese Stimmen, freilich letzten Endes viel, viel tiefer im Wesen der zwangsläufigen, eigengesetzlichen Entwicklung begründet, die „Jugendbewegung“ sich der Musik bemächtigte, die ganz bewußt all die angerührten strittigen Fragen aufnahm, zur Diskussion stellte und ihre Lösung zur Devise erhob [...]

   Daß auch andere, ihrem Wesen nach weniger auf kollektivistischer Grundlage beruhende Musikausübung (jegliche Art von Solomusik, Kammermusik) in dieser „Jugendbewegung“ mitten innen steht, das lehrt überzeugend ein Blick durch die neue einschlägige Klavierliteratur der Verlagshäuser Schott (Mainz) und Universal (Wien).

   Was an ihr schon rein äußerlich in die Augen fällt, ist: das (im Lauf der Entwicklung der letzten Jahre immer mehr zunehmende) Bestreben nach größtmöglicher Vereinfachung des Satzes und Notenbildes (charakteristisch dafür die zahlreichen Kinderliedsammlungen!), dann das Abrücken von den schwer zu erfassenden konzertanten und sonatenmäßigen Formen (den sogenannten „klassischen Formen“) zugunsten der Tanz= und Liedform, Zurückgehen auf alte und älteste Musik, Wiederentdeckung der primären formbildenden und =bindenen Kraft lapidarer Rhythmik (damit zusammenhängend das große Interesse für exotische und Jazzmusik), bewußte Betonung des nationalen Elements (Volkslied, Nationaltanz). Was Harmonik anlangt, ist im jüngsten Schaffen eine (freilich mehr bei den Romanen, vor allem in der französischen Musik) deutlich wahrnehmbare Abkehr von  r ü ck h al t l o s e r   A t o n a l i t ä t  als wichtigstes Kennzeichen festzustellen. Am frappantesten ist die nunmehr erreichte Entwicklungsstufe in Wolfgang Fortners (geb. 1907) Musik zu der Schuloper „Creß ertrinkt“ (Klavierauszug Edition Schott*) zu erkennen; neue, freizügige, aus linearen Gesetzen folgernde Diatonik, die stark an die ja ebenfalls linear bedingte Harmonik der Meister des 16. und 17. Jahrhunderts gemahnt. Als das nun allgemein gültige Stilmerkmal der „Moderne“ ist dann freilich das lineare Prinzip anzusprechen, dessen Emanzipierung seit der noch stark aus harmonischen und klanglichen Gegebenheiten resultierenden Polyphonie A. Schönberg (siehe "3 Klavierstücke", EU.) bis hin zu W. Fortner für eine imponierende, zwangsläufige „Entwicklung“ im eigentlichsten Sinn des Wortes zeugt.

   Nun im einzelnen: Da sind – um beim Einfachsten zu beginnen – die 4 Bände Kinderlieder des Ungarn B. Bartok (EU.), vielleicht das vortrefflichste auf diesem Gebiet, das sich an instruktivem Wert und Gehalt mit dem Besten der Klaviermusik der vergangenen Zeiten messen darf. Ebenso wertvoll, in der Ausführung gleich leicht, die „Tänze und Lieder aus dem Balkan“ von J. Slavensky (ES.), zum Teil noch pentatonisch; besonders schön der „Albanische Gesang“, der fantastische „Türkische Derwischtanz“, der „Gesang aus Medjimurje“: evident hier der Zusammenhang mit altjüdischem Tempelgesang und Gregorianik. Auf anderer Ebene die „Kleinstadtbilder“ von E. Toch (ES.), entzückend sauber und nett gearbeitet und ganz leicht (und viel besser als ihr gefährlicher Titel!), absolute Musik im Geiste der Klassik (Rob. Schumanns!). Vorwiegend instruktiven Zwecken wollen offenbar L. Windspergers „Kleine Klavierstücke“ dienen (ES.), eine stattliche Sammlung, leider ungleich an Wert, zum Teil jedoch vortrefflich („Geschwindmarsch“, „Scherzino“, „Synkopen“, „Tanzliedchen“, „Ungarischer Tanz“, aus dem 1. Band), manches lehrhaft oder überspannt (z. B. die 2= und 3tonalen Stücklein, die ataktigen Sätzchen wie „Nachtigall“ u.a.). Reizend die ostinaten Studien E.Schulhoffs (EU.) „Ostinato“ (hervorzuheben namentlich das kecke „Sopp=Sopp, das Bläserstückchen). Geradezu populär ist ja nachgerade die kleine Suite zu P. Hindemiths „Wir bauen eine Stadt“ geworden. Man kann diese köstlichen Kinderlieder sehr wohl auch losgelöst aus dem Rahmen des Schulstückes hören ES.)

   Etwas anspruchsvoller, was Technik anlangt, doch immerhin durchaus ins Gebiet „leicht ausführbarer Klaviermusik" gehörig: des gleichen Verfassers „Kleine Klaviermusik“ (ES.), sozusagen klassische Beispiele der atonalen Schreibweise, zum Teil von geradezu subtiler Wirkung, für Kinderhände und =gemüter dann freilich reichlich hoch. Im gleichen Geist die „Kleinen Klavierstücke“ von H. Reutter (ES.), schöner Satz, vielleicht weniger unmittelbar ansprechend als P. Hindemith. Ausgezeichnet F. Finkes „10 Kinderstücke“ (EU.), von eigenwilligem Gespräge und in feinem Klaviersatz geschrieben. Dann die an Haltung und in technischer Ausführung Hindemith sehr wahlverwandten "10 kleinen Klavierstücke" des Franzosen Ph. Jarnach (ES.), von wahrhaft "deutscher" Rückhaltlosigkeit - wenn wir diese streng atonale Musik mit der anderer junger Franzosen, etwa Poulencs, vergleichen, die die Bindung an Tradition viel bewußter aufrechtzuerhalten bemüht sind als die jungdeutsche Musik. Von sprühendem Witz erfüllt die "11 pieèces enfantines" des Italieners A. Casella (EU.), von eigensinniger Rhythmik ("Bolero"); ein entzückender Einfall die "Huldigung an Clementi". Eine höchst aufschlußreiche größere Sammlung von leicht spielbarer neuer Klaviermusik stellt das dreibändige "Neue Klavierbuch" (ES.) dar, das neben den erwähnten Komponisten Beiträge von Strawinsky, Tscherepnin, Tansman, Poulenc, D. Milhaud, Sekles, Schultheß, Bulting u.a. enthält.

   Bereits in das Gebiet mittelschwieriger Klaviermusik sind zu rechnen die meistens bei Schott erschienenen Klavierkompositionen Poulencs: wahrhaftig ein Universalgenie! Es gibt wohl keine Stilgattung in der Geschichte der Klavierliteratur, die dieser eminent tüchtige und gewandte Franzose nicht beherrschte, wobei er Persönlichkeit genug besitzt, um nie in den gefährlichen Fehler bloßer Nachahmung zu verfallen. Seine "Suite" ist stark von vorklassischer Musik beeinflußt; von sprühendem Elan, an Strawinsky erinnernd, das Rondo=Finale. (Leider fällt der Mittelsatz gegen die beiden Ecksätze ab). Von Schumannscher Klassizität seine beiden "Noveletten", vornehm=versonnen die erste, die andere ein glänzendes Bravourstück - ganz im alten Sinn. Seine "5 Impromptus" vereinigen impressionistische Elemente mit typisch "Modernem" (Motorik, Atonalität) sind jedoch technisch bereits ziemlich schwer (großartig das zweite Stück in dem stampfenden Dreiviertel=Rhythmus). Recht schwierig zum Teil auch die ostinaten Bewegungsstudien "Mouvements perpetuels". Im übrigen ist Poulenc auch vertreten in dem "Album des 6" (ES.), mit einem fulminanten "Walzer", A. Honegger mit einer überaus zarten, klangschönen "Sarabande", D. Milhaud mit einer graziösen "Mazurka" u. a. Von letzterem ist auch eine große zweibändige Tanzsuite "Sandades de Brazil" bei Schott erschienen; typisch für alle Sätze die volkstümliche dreiteilige Liedform, synkopierte Rhythmik;  durchaus originell auch in vielen Stücken eine Art "linearer" Akkordik: drei= bis vierfache, in sich selbständige Akkordlagerungen übereinander geschichtet. Trotz dieser recht komplizierten Formgebung bleibt das Klangbild stets klar und wird der Satz nie anspruchsvoll. Im selben Schwierigkeitsgrad bewegen sich die "9 kleinen Klavierstücke" von B. Bartok (EU.): an ursprünglicher Wirkung und klaviertechnischer Vollkommenheit können sich diese im übrigen teilweise doch recht feinen und originellen Sätze (z. B. die geradezu barbarische, rhythmisch großartig empfundene "Marcia delle Bestie") leider nicht mit der Bedeutung seiner "Kinderstücke" messen.

   Hohe technische Fertigkeit verlangen die auch inhaltlich sehr schwierigen und problematischen "2 Suiten" von E. Krenek  (EU.), die zarten, lyrischen, höchst differenzierten "Klavierstücke" J. M. Hauers (EU.), die fünf Klavierstücke "Im Freien" B. Bartoks (EU.): eigenwillige Musik, in der überscharfe Rhythmik ("Mit Trommeln und Pfeifen", "Hetzjagd") und rein stimmungsmäßiges Kolorit (von den grellsten bis zu dunkel=unheimlichen Schattierungen: "Klänge der Nacht"!) formbildende Faktoren sind.

   Meisterhafte Beherrschung des Instruments verlangen die A. Rubinstein gewidmeten "Promenades" von F. Poulenc (ES.): eine Reihe auch inhaltlich hervorragender Klavierstücke, in denen (eben wie bei  Bartok!) scharf rhythmische Prägung und impressionistische Elemente formbestimmend wirken - gegossen in einen makellosen, auch höchsten Anforderungen genügenden, bei aller Schwierigkeit außerordentlich dankbaren Klaviersatz [...]                                                                   

Hugo Distler

 

II. Das Klavierwerk Arnold Schönbergs

  Bislang hatte sich wohl kaum Gelegenheit geboten, das gesamte Schaffen A. Schönbergs auf dem Gebiete der Klaviermusik in einer übersichtlichen chronologischen Darstellung zu hören. Frau Else E. Kraus, Lehrerin an der Berliner Akademie für Kirchen- und Schulmusik, gebührt das Verdienst – und, es ist gewiß anzunehmen, das unbestrittene Vorrecht – dieses Riesenwerk mit seinen unerhörten musikalischen Schwierigkeiten in schlechthin vollendeter Weise zu leisten.

   Ich sage: „Verdienst“ – ja, gewiß: „Verdienst“, mehr noch: „Mission“; freilich „Mission“ nicht im Sinn einer allgemeinstem brennendem Verlangen entsprechenden [unleserlicher Druck]: wurde uns doch eben an diesem Abend nur zu bewußt, daß Schönbergs immense Bedeutung – des einst erbittert Kämpfenden, umkämpften Ahnherrn der „Modernen“ – bereits eine historische ist, daß seit dem Erscheinen der ersten seinerzeit größtes Aufsehen erregenden Klavierwerke Schönbergs (1908-1910) die von ihm ins Rollen gebrachte Entwicklung in mächtigen Schritten weitergeeilt ist zu neuen Zielen, die – wir dürfen es offen gestehen – mittlerweile doch eine andere Weisung erfahren hat; eine Richtung, der zu folgen Schönberg versagt blieb.

   Das Klavierwerk A. Schönbergs: Wahrhaft eine von tiefstem Ernst erfüllte Kunst, von unerhörter Konsequenz, erschreckender Rückhaltlosigkeit, vollkommener Synthese des bewußt gestaltenden Willens mit dem Elan leidenschaftlichen Temperaments; man ist ebenso verblüfft von der Unterwerfung des architektonischen Elementes unter die musikalisch=künstlerische Idee wie wiederum von der glänzenden Entwicklung logisch=gesetzlicher Verarbeitung trotz des ungehemmten Ausbruches eines hinreißenden Temperamentes [...]

   Nirgends wurde mir die veränderte Haltung der „Modernen“ im Vergleich zu der der Schönbergischen Musik evidenter als beim Vortrag des „Walzers“ aus Schönbergs „5 Klavierstücken op. 23“; nirgends auch die von Schönberg selbst des öfteren betonte traditionsmäßige Gebundenheit seiner Musik: ein Tonstück von sublimster, nervösester Zartheit, in dem das Tänzerisch=Rhythmische vollkommen aufgelöst erscheint, eine letzte Verflüchtigung der Chopinschen „Valses“. Wie nahe liegt der Vergleich mit einem der köstlichen Walzer Strawinskys; hier primäres Erleben des tänzerischen Impulses, dort Symbol, noch weniger: Bild, Impression.

   Frau Else E. Kraus setzte sich für das Werk mit hinreißender Meisterschaft ein. Allein schon des glänzenden Vortrags wegen hätte das hochinteressante Konzert, das durch eine längere Einführung in das Wesen des Schaffen A. Schönbergs durch Herrn Dr. Fritz von Borries eingeleitet wurde, eine stärkere Teilnahme der Lübecker Bevölkerung verdient.                   

H. Distler

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