Orlando di Lasso


In der DAZ - der bis 1945 in Berlin erscheinenden Deutschen Allgemeinen Zeitung – erschien am 5. Dezember 1941 der folgende Artikel:

Orlando di Lasso
von Hugo Distler

Am Montag, dem 8. 12., veranstaltet die Berliner Hochschule für Musik eine Lasso-Feier, in der die Kantorei der Hochschule unter Leitung von Prof. Distler einen Ausschnitt aus dem vielfältigen Schaffen des großen niederländischen Meisters zur Wiedergabe bringen wird.

   Es dürfte keinen Komponisten geben, der auf sinnfälligere Weise dem Volk so recht eigentlich „auf das Maul“ gesehen hat, wie Luther es nennt, denn Orlando  d i   L a s s o . Man hat diesen Künstler eines totalitären Anspruchs der  Musik bislang viel zu eng gesehen. Bekannt war Lasso früher entweder als Kirchenkomponist – bezeichnenderweise war es hierbei wieder in erster Linie die katholische musica sacra, die ihn in Beschlag legte, obwohl es von ihm meisterhafte volkssprachliche, ganz aus evangelischem Geist geborene Liedmotetten gibt – oder als Vertreter einiger verhältnismäßig weniger feststehenden und immer wieder gesungenen weltlichen, ausgesprochen heiteren Chorlieder. Und wie die Lebensbereiche der beiden sich des Meisters annehmenden Institutionen nichts miteinander gemein hatten, so krankte sein Werk in der Anschauung der Nachgeborenen selber an diesem tödlichen inneren Konflikt.

Eine neugeschenkte, ich möchte sagen: geoffenbarte Einsicht läßt uns in unseren Tagen die umfassende Persönlichkeit Lassos in neuem Glanz erkennen. Es gab keine Gelegenheit im menschlichen Leben, die der Meister nicht besungen hätte. In der Tat steckt noch etwas vom Geist eines Fahrenden in diesem Künstler des 16. Jahrhunderts, in seiner Musik, die in vielen Zungen singt: französisch, italienisch, deutsch, lateinisch, wie in seinem frühen Wanderleben, das ihn aus seiner Heimat Flandern nach Frankreich, Italien, England und in seine Wahlheimat Deutschland führt, wo er, in München als Hofkapellmeister, die zweite Hälfte seines Lebens verbringt, immer tätig, geehrt, am Ende aus Überanstrengung in Schwermut fallend. Selbstverständlich schreibt er also Kirchenmusik, altkirchliche wie reformatorische, und selbstverständlich schreibt er alle mögliche Musik zu jeder Art von Fest- und Feiergestaltung und Geselligkeit.

   Gerade darin verstand man den Meister bislang falsch: daß ein und derselbe Mensch einerseits hat Werke schreiben können von tiefster religiöser Weihe wie die Bußpsalmen, andererseits musikalische Scherze, die für seine Zeit die Grenze des Ausgelassenmöglichen streiften, in den Ohren späterer Geschlechter ungenießbar waren. So deutete man sein Werk um, „reinigte“ Texte, ließ aus und verleugnete. Wir aber erkennen gerade in dem großartigen Ausschwingen seiner schöpferischen Phantasie nach beiden Polen des Seins die Wahrzeichen seiner Größe.

 



Herausgegeben von HUGO DISTLER
(Aus dem Nachlaß)
Mit voller Absicht also umfasst das Programm der Lassofeier unserer Hochschule Werke von größter Gegensätzlichkeit, begleitet es so recht den Meister auf seinem danteschen Weg vom Himmel durch die Welt zur Hölle: am Anfang der Bußpsalm, am Ende jenes merkwürdige Fastnachtsspiel von den Nasen; absurd auf den ersten Blick der Gedanke, alle Arten schön- und mißgebildeter Nasenformen in einem grotesken Marsch und anschließendem Tanz auftreten zu lassen. Bei näherer Beschäftigung aber gewinnt dieses absonderliche Zeugnis der Kunst Lassos eine tiefsinnige Bedeutung, einen Beziehungsreichtum, für den – wie bei jeder echten Komödie – der Vorwurf nur mehr äußerlicher Anlaß ist zu einer sarkastischen, hintersinnigen Menschen- und Lebensbetrachtung. Man vergißt unterm Singen, daß es sich um Fastnachtsmasken handelt; hinter den Masken schaut drollig, drastisch, kläglich, bemitleidenswert, oder in seiner schönsten Gestalt, der Mensch hervor.

Und wenn diese Moreske mit der Aufmunterung schließt, es möge sich jedermann an dem vielgestaltigen Tanz beteiligen, so will der Meister damit voll verborgener weiser Ironie nichts anderes sagen, als was einer unserer größten modernen Regisseure* vom Geist der Komödie aussagt, daß nämlich jede echte Komödie, die all die menschlichen Unzulänglichkeiten mehr oder minder gutmeinend belacht, im geheimsten ein Totentanzspiel sei, daß man daher den Tod zu agieren vermeine, der im verborgenen all die Drähte leite, an denen die Puppen hängen und ihr eigenes kleines Dasein zu spielen vorgeben. Auch in diesem Stück also spukt der Geist von Shakespeares Totengräber aus dem „Hamlet“, all jener freiwilligen und unfreiwilligen Komödianten, jener tiefsinnigen Narren. Überhaupt ist es Geist vom selben Geist, dasselbe germanische Genie, das hier beim großen Musiker, dort bei dem nordischen Protagonisten Ereignis ward.**


Anmerkungen:

* Bei dem hier nicht namentlich genannten Regisseur handelt es sich höchstwahrscheinlich um Jürgen Fehling. Auf dessen Wunsch hatte Distler im Herbst 1940 eine Bühnenmusik zu Ludwig Tiecks Schauspiel "Ritter Blaubart" geschrieben, das am Silvesterabend 1940/1941 unter der Regie Fehlings und mit Heinrich George in der Hauptrolle im Schillertheater Premiere haben sollte. Das Stück war dann im Dezember 1940 kurzfristig vom Programm abgesetzt worden infolge eines "Mordskrachs", so Distler, zwischen Fehling und George. Möglicherweise war es damals nicht opportun, ausgerechnet zu Silvester ein Stück über einen brutalen Serienmörder auf die Bühne zu bringen. Distler war über das Scheitern des gemeinsamen Blaubart-Projekts (für das die musikalischen Proben schon begonnen hatten) sehr enttäuscht gewesen. Die Passage in seinem Lassotext dürfte, demgegenüber, auch ein Hinweis sein auf  die - trotz allem - unveränderte Hochachtung Hugo Distlers für den bedeutenden  Regisseur.

**Nachfolgend ist das einführende Vorwort wiedergegeben, das Hugo Distler im März 1942 der von ihm edierten fünfstimmigen Lasso-Chorpartitur „Das Fasnachtsspiel von den Nasen“ voranstellte.

   


Im dritten Absatz dieses Vorworts zitierte Distler seinen eigenen Einführungstext aus dem Programmheft der Lasso-Feier, die am 8. Dezember 1941 unter seiner Leitung in der Berliner Musikhochschule stattfand. Beim Vergleich dieser Distlerschen Originalfassung (vor allem der drei letzten Zeilen im dritten Absatz) mit der drei Tage zuvor in der DAZ erschienenen Textversion zeigt sich, daß der letzte Satz im Zeitungstext vom 5. Dezember 1941 durch sinnentstellende NS-konforme Zusätze verfälscht wurde. Um sinnentstellende Wort-Zusätze dürfte es sich u.a. auch beim „totalitären Anspruch der Musik“ sowie bei der „Fest- und Feiergestaltung“ handeln (Abs. 1 und 2 des weiter oben wiedergegebenen DAZ-Zeitungsartikels). Die zwei unterschiedlichen Versionen des letzten Satzes - in Distlers Originalfassung sowie in der nachträglich manipulierten Zeitungsfassung vom 5. Dezember -  wurden zur leichteren Erkennbarkeit jeweils farbig markiert.


Die von Hugo Distler herausgegebene Chorpartitur des Orlando di Lasso erschien 1954 posthum als Bärenreiter-Ausgabe 2725. 



 

 

 

 

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