Am 13. November 1942 wollte Hugo Distler mit seinem Staats- und Domchor die "Musikalischen Exequien" von Heinrich Schütz aufführen*, die dieser zum Begräbnis seines Landesfürsten und Freundes Heinrich Posthumus Reuß komponiert hatte. Die Komposition enthält das Canticum Simeonis (Nunc dimittis) - den Lobgesang des greisen Simeon. Diesen Text aus dem Lukas-Evangelium hatte Hugo Distler selbst im Sommer 1933 als abschließenden Höhepunkt seiner Weihnachtsgeschichte vertont:
Erzähler: Und siehe, ein Mensch war zu Jerusalem, mit Namen Simeon; und derselbe Mensch war fromm und gottesfürchtig; und der heilige Geist war in ihm. Und ihm war eine Antwort gegeben von dem heiligen Geist: er sollte den Tod nicht sehen, er hätte denn zuvor den Christ des Herrn gesehen. Und er kam in den Tempel. Und da die Eltern das Kind Jesus in den Tempel brachten, daß sie täten, wie man pflegt nach dem Gesetz, da nahm er ihn auf seine Arme, und lobete Gott, und sprach - Simeon: Herr, Herr, nun lässest du deinen Diener in Frieden fahren, wie du gesagt hast. Denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen, welchen du bereitet hast vor allen Völkern, ein Licht, ein Licht, zu erleuchten die Heiden und zum Preis, zum Preis, zum Preis deines Volkes Israel. **********
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Hugo Distler erlebte den Tag des Konzerts nicht mehr; ein anderer dirigierte den Chor an seiner Stelle, und unter den Zuhörern befand sich auch der junge evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer. Es steht außer Zweifel, daß Bonhoeffer in der tief betroffenen Zuhörerschaft jenes Konzertabends manche Menschen traf, die er aufgrund seiner kirchlichen Stellung schon kannte und mit denen er nach dem Konzert noch sprach - vor allem mit denen, die die wachsende Angst und Verzweiflung Hugo Distlers vor seinem Tod am 1. November 1942 aus nächster Nähe miterlebt hatten. Zu ihnen gehörte Oberhofprediger Döhring, Distlers kirchlicher Vorgesetzter am Berliner Dom. Er und andere hatten versucht, eine nochmalige Rücknahme des (nunmehr sechsten) Gestellungsbefehls** vom 14. Oktober 1942 zu erreichen, der Hugo Distler endgültig in Panik versetzt hatte. Denn seit Kriegsbeginn hatte er gefürchtet, gegen seinen Willen zum Kriegsdienst gezwungen zu werden. Kriegsdienstverweigerung aber hatte im Dritten Reich die Todesstrafe zur Folge. Was öffentlich nicht gesagt werden durfte, konnte sich nun - am Rande des Gedächtniskonzerts - in vorsichtigen Gesprächen Bahn brechen: die Verstörung darüber, daß Hugo Distler sich dem Zugriff der Kriegsherren durch Freitod für immer entzogen hatte. Eberhard Bethge, Bonhoeffers Freund und Herausgeber von dessen Briefen und Aufzeichnungen aus der Haft, schrieb 1951 in seinem Vorwort zur ersten Auflage von "Widerstand und Ergebung": Den Briefen und den Arbeiten aus der Zelle vorangestellt ist eine Aufzeichnung "Nach zehn Jahren", die Bonhoeffer an der Wende 1942 zu 1943 geschrieben und wenigen Freunden als Weihnachtsgeschenk zugedacht hatte. Damals waren schon Warnungen, vor allem an Hans von Dohnanyi [Cousin Bonhoeffers], ergangen, daß das Reichssicherheitshauptamt auf Verhaftung dränge und Material zur Unterlage sammle. Zwischen Dachziegeln und Sparren hat dieses Schriftstück Haussuchungen und Bomben überstanden: Ein Zeugnis von dem Geist, in dem man damals gehandelt und dann auch gelitten hat. Zwei Tage nach dem Schütz-Requiem in Berlin schrieb Dietrich Bonhoeffer am 15. November 1942 an Waltraut Distler, die 31jährige Witwe Hugo Distlers: Sie kennen mich nicht, und ich habe auch Ihren Mann leider nicht gekannt, aber ich habe seine Musik geliebt, und ich habe von seinem Sterben gehört, und so möchte ich Ihnen gerade als einer der vielen Unbekannten schreiben, die am Leben und Sterben Ihres Mannes und nun an Ihrem Schmerz tiefen Anteil nehmen. Vorgestern hörte ich die Musikalischen Exequien, die er selbst aufführen wollte und die nun seinen Tod beklagten und alle um ihn Betrübten trösteten. Als der Chor von der Ruhe der Toten von ihrer Arbeit und vom FRieden der Gerechten, die in Gottes Hand sind, sang, da war es wie eine Bitte der Lebenden für den Toten und wie ein Segen des Toten für die Lebenden, der alle Selbstanklagen zum Schweigen bringt und den Sinn auf das Letzte ausrichtet. Wer um das Lebenswerk und den Tod Ihres Mannes weiß, der wird bei seinen Gedanken über Gegenwart und Zukunft nicht mehr daran vorbeikommen. Der Gedanke an die Ruhe, die er sich durch so viel Dunkelheit hindurch erobert hat und wohl nur noch so erobern konnte, möge unsere Herzen festigen und uns dazu auffordern, den Menschen um uns herum schon auf dieser Erde zu dem Frieden und der Ruhe zu helfen, die im Kreuz und in der Heiligen Schrift allein zu finden sind. In ehrerbietiger Teilnahme ************ Unter diesen Zensurbedingungen äußerte sich Dietrich Bonhoeffer während seiner Haft noch einmal schriftlich über Hugo Distler: [7.5.44] Cantate ************** Anmerkungen:
Das obige Zitat Bonhoeffers befindet sich auf S. 145 in: |