Hintergrund



Christlicher Glaube und Kirchenmusik
versus NS-Doktrin


"Ich darf nicht erst, wie ich es schändlicherweise schon habe
tun müssen, 'Rechtfertigungen' der Kirchenmusik unternehmen."
Hugo Distler an Axel W. Kühl am 27. Mai 1937


  

Die protestantische Kirche in Deutschland stand dem neuen Staat nicht wie ein geschlossenes Ganzes - als "heile Welt" - gegenüber. Denn 1932 hatte sich - im Schoß der Kirche selbst - die "Glaubensbewegung "Deutsche Christen (DC)" formiert, evangelisch getaufte Nationalsozialisten, die ein "arteigenes", das heißt antijüdisches rassistisches Christentum propagierten und mehrheitlich für eine "Entjudung" der Kirche und des Evangeliums eintraten.
Die nationalsozialistische Doktrin aber richtete sich - evident für jeden, der damals seine Ohren und sein Herz nicht verschloss - von Anfang an und von Grund auf gegen den überlieferten christlichen Glauben, auch wenn dies zunächst für viele verschleiert wurde durch Hitlers kirchenpolitische Taktik und geschickte Kumpanei mit den rassistischen "Deutschen Christen", die mit ihm eine deutsche "Reichskirche" etablieren wollten.

Zur totalen Kontrolle der Bevölkerung im Sinne der NS-Doktrin hatten die Nazis bekanntlich Ende Februar 1933 die Zensur verhängt. Als Vorwand diente ihnen ein angeblicher Sabotageakt der Kommunisten: der Reichstagsbrand in der Nacht vom 27. auf den 28. Februar 1933.
Sebastian Haffner
1 berichtet über jene Nacht, in der Hitler "flammenumloht wie ein Wagnerscher Wotan" vor dem Reichstagsportal mit einer Hetzrede die Jagd auf die Kommunisten eröffnete": "Ungefähr gleichzeitig [mit dem Reichstagsbrand] wurde jene Verordnung Hindenburgs angeschlagen, die für die Privatleute Meinungsfreiheit, Brief- und Telephongeheimnis aufhob und der Polizei dafür unbeschränkte Haussuchungs-, Beschlagnahme- und Verhaftungsrechte gab."

Unter diesen fatalen Bedingungen und unter dem Eindruck der erschreckenden Diskrepanz zwischen dem, was er unter Kirche verstand und dem, was in Lübeck daraus geworden war, hoffte Hugo Distler, sich dennoch die innere Freiheit des Komponierens bewahren zu können. Er versuchte nun, die Spiritualität seiner fragilen Musik2  (Choralpassion, Weihnachtsgeschichte, Totentanz) und den ungestörten Prozess seiner musikalischen Imagination und Erfindung zu schützen, indem er diesen Prozess in den jetzt gleichgeschalteten Medien mit einem Schutzzaun pompöser Formulierungen aus der Sprache der Herrschenden umgab. Deren Schablonenhaftigkeit ("das Wollen und Empfinden des Volksganzen", "die Größe der vaterländischen Ereignisse" etc.) stand der Natürlichkeit und Leichtigkeit seines persönlichen Schreibstils diametral entgegen. Er gab dabei den Geist seiner Musik nicht preis: "'Die Erneuerung [der Orgelbewegung] muß aus christlichem Geist erfolgen.' Und dieser Satz steht als Programm wie eine Mauer fest im Raum - da gibt es nichts zu deuteln, nichts zu erwidern." 3

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Unter der Überschrift "Tiefer Weltschmerz - Der Komponist Hugo Distler" schrieb Jens Voskamp in den Nürnberger Nachrichten vom 5. Dezember 2009:

"Depression heißt eines der Schlagworte dieser Tage. Seit dem Freitod von Nationaltorhüter Robert Enke ist vielen erst zu Bewusstsein gekommen, dass es sich nicht nur um eine verschwindende Minderheit handelt, die unter dieser Krankheit leidet. Nur wenig älter als Enke wurde Hugo Distler, der am 1. November 1942 im Alter von nur 34 Jahren per Gasvergiftung den Freitod suchte, und nicht nur seine Frau Waltraut, sondern auch drei kleine Kinder zurückließ. Auch er ein Opfer seit der Jugend niederdrückender Gefühle. Zwar war er als Dirigent und Komponist durchaus anerkannt, dachte von sich auch nicht gering, aber ihn umwehte stets ein tiefer Weltschmerz. Noch in seinem Abschiedsbrief an seine Frau finden sich die Worte: "Ach, wenn Du wüßtest, was an Schmerzen in mir umgeht [... ]

Der nach außen hin scheue und dann auch wieder jähzornig auffahrende Distler versuchte, sich schriftlich seiner komplexen Gefühlslage zu versichern. Oft knapp, oft insistierend, oft verzweifelt [...]

Für einen wie Distler, der während seiner Kindheit die pure Not am eigenen Leib erfahren hatte, war so eine Entscheidung [in die NSDAP einzutreten] sicher keine ideologische, sondern eine existentielle. Das beweist sein OEuvre, das sich ästhetisch nicht mit der NS-Kunst verträgt [...]

Aus Nürnberger Sicht (Distler wurde am 24. Juni 1908 am Marientorgraben geboren) sind natürlich die harten Kinder- und Jugendjahre besonders interessant, in denen der Junge quasi elternlos bei seinen gütigen, aber hochbetagten Großeltern [aufwuchs]. Seine egomanisch veranlagte Mutter, die immer aus der wirtschaftlichen und räumlichen Enge ihrer Herkunft ausbrechen wollte, hatte kaum Interesse an dem introvertierten Sohn - und ließ ihn das auch zu Zeiten spüren, in denen sie ihn wieder bei sich aufnahm. Sie erhielt übrigens später eine Leibrente der Stadt Nürnberg und starb hier im hohen Alter - ohne sich je über die künstlerische Bedeutung ihres Sohnes bewusst zu sein."

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Abbildung: Friedensreich Hundertwasser: St. Barbara-Kirche in Bärnbach/Steiermark
© Fotoatelier Spotlight Sabine Mense 8580 Köflach
[1]Sebastian Haffner: Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen 1914-1933, S. 226

[2] Winfried Lüdemann: Hugo Distler - Eine musikalische Biographie. Augsburg 2002, S. 325 ff.
[3] Hugo Distler; "Vom Geiste der neuen Evangelischen Kirchenmusik", in: Zeitschrift für Musik 102 (1935), S. 1325-1329.
Marcel Reich-Ranicki: Mein Leben. Stuttgart 1999, 10. Auflage, S. 356 f.
Distler-Harth: Hugo Distler - Lebensweg eines Frühvollendeten. S. 161 ff.
Fritz Stege: "Hugo Distler. Eine neue Portraitskizze". In der Rubrik "Musiker im Gespräch", Zeitschrift für Musik 102 (1934), S. 1263


 

 

 

 

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