Hugo Distler zum 74. Todestag

Am 1. November 1942 schied Hugo Distler freiwillig aus dem Leben. In der Deutschen Allgemeinen Zeitung erschien eine kleine Anzeige, die der Musikwelt den Tod des Komponisten bekanntgab.







Zu den Lesern der Zeitungsnachricht gehörte auch der Augsburger Singschuldirektor und Stimmbildner Albert Greiner, der Hugo Distler von Graz her kannte, wo dieser 1939 sein Mörike-Chorliederbuch uraufgeführt hatte. Hugo Distler hatte Greiner zuletzt noch ratsuchend in Augsburg aufsuchen wollen und ihm deshalb am 26. Oktober 1942 noch einen Brief geschrieben. Am 9. November schrieb Albert Greiner an die Witwe Hugo Distlers:

Liebe Frau Distler!

Ich mußte mich erst mit dem harten Gedanken einigermaßen abzufinden suchen, den mir die böse, tieftraurige Kunde zutrug, ehe ich Ihnen schreiben konnte, um Ihnen zu sagen, wie mich diese Nachricht bis ins Innerste erschüttert hat. Wie sind doch Freude und Leid so nahe beisammen!

Der letzte Brief, wie er ihn am 26. X. abends aufgegeben hatte, war mir eine reine Freude und eröffnete die Aussicht auf eine gemeinsame, schöne und fruchtbare Arbeit und zugleich auf einen körperlichen und seelischen Ruhepunkt des Überbeschäftigten selbst.

Unwillkürlich lebte in mir die freundliche Erinnerung auf an unsere Begegnung in Graz und die gemeinsame Heimfahrt. Und nun! …

Ob ihn wohl meine postwendende Zusage noch erreicht hat? Ich habe das innerste Bedürfnis, Ihnen zu sagen, wie sehr ich Ihr tiefes Leid mitfühle und Ihren Schmerz teile! Menschlicher Trost ist ja hier eine Unmöglichkeit. Möge Gott Ihnen die Kraft geben, den Schmerz ohne Schaden zu tragen! Er möge mit Ihnen und Ihren lieben Kindern sein!

Bei mir bleibt „Hugo Distler“ unvergessen! Mit herzlichem Gruße

Ihr ergebener A. Greiner

Hugo Distler erhielt Greiners Antwort wahrscheinlich am 28. Oktober 1942 und hat diese Nachricht nicht mehr beantwortet. Das legt den Schluss nahe, daß er spätestens an diesem Tag jede Hoffnung auf eine glückliche Wendung in seinem Leben endgültig aufgegeben hatte. Waltraut Distler berichtete, sie habe die letzten Tage vor Distlers Tod große Angst um ihn gehabt, doch habe sie wegen der Kinder, die alle drei Keuchhusten hatten, nicht von Strausberg nach Berlin fahren und ihm das Gefühl des hilflosen Ausgeliefertseins nehmen können, das ihn von da an offenbar immer ausschließlicher beherrschte.

 



Hugo Distler mit Albert Greiner in Graz 1939
nach der Uraufführung des Mörike-Chorliederbuchs

© SCHOTT Music

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Über Distlers Stuttgarter Zeit und die Zusammenarbeit mit seinen dortigen Chorsängern berichtet Barbara Hug*, eine Schülerin Distlers, die an der Stuttgarter Musikhochschule studierte und in seinem kleinen Kammerchor mitsang:

Hugo Distler wohnte im Ammonitenweg und hatte dort eine Hausorgel. Außerdem hatte er ein Auto – soviel ich mich erinnere einen [Opel P4], in dem er bereitwillig und gern Studenten und Studentinnen nach Hause fuhr. Vor allem nach unerwartet langen Proben, nach langen Gesprächen in irgendeinem Stuttgarter Café oder nach dem Besuch von Veranstaltungen, zu denen er uns oft animierte.



Hausorgel von Hugo Distler
Entwurf des Orgelprospekts: Helmut Bornefeld

© SCHOTT Music


 „Uns“ heißt: Die Studenten, die im „Kammerchor“ (Kirchenmusiker, Schulmusiker und Hauptfach Gesang) mitsangen und die bei Distler Chorleitung hatten (Kirchen- und Schulmusiker). In Chorleitung empfahl er uns z. B. ganz dringend, uns den Film Effi Briest anzusehen, nur, weil wir unbedingt sehen müßten, wie schön und richtig die Schauspielerin Marianne Hoppe spricht.

Er ging mit uns Kirchenmusikern in den „Friedrichsbau“, das große Stuttgarter Varieté, weil dort Werner Kroll auftrat. Er [Kroll] parodierte Sänger von der Supersopranistin bis zum tiefen Baß Schaljapins. Distler fand das phänomenal und für werdende Chorleiter sehenswert.



Hugo Distler 1938
© SCHOTT Music


Mit den „Kammerchörlern“ habe Distler sich ausgezeichnet verstanden und ab und zu auch Ausflüge mit ihnen gemacht. Das Verhältnis zum großen Chor, der für alle Studenten Pflicht war, sei etwas weniger gut gewesen:

Mit dem großen Chor war nicht so gut zu arbeiten, er reagierte schwerfälliger auf Distlers leichten Dirigierstil.

Zum Dirigierstil Hugo Distlers ergänzt sein Stuttgarter Schüler Werner Hehl:**

Er liebte die Freiheit und ließ auch den Dirigierschülern ihre Eigenarten. Distler dirigierte mit knappen, dabei aber stets geschmeidigen, ja tänzerischen Bewegungen. Er trieb seine Sänger in unermüdlicher Probenarbeit zu Hochleistungen. Aber zugleich war er stets bereit, sein Klangbild zu erweitern, spontanen Eingebungen zu folgen.



Hugo Distler 1938
© SCHOTT Music


Über Distlers Unterricht berichtet seine Schülerin:

Außer Chorleitung unterrichtete Distler noch Tonsatz (für wenige), Orgel (ganz selten), Formenlehre (für alle). Die Vorlesungen waren meistens sehr besucht, die Hörerinnen (es war Krieg und Männer selten) geschwätzig: Als es ihm zuviel wurde, rief Distler einmal: „Meine Damen, Sie sind hier in einem Konservatorium! Wissen Sie was das heißt? – Bewahranstalt! – Genauso komme ich mir hier vor.“

Als er einmal mit einem Abschnitt der Formenlehre fertig war, fragte er: „Haben Sie das verstanden?“ Wir riefen: „Nein!“ Er: „Gut, gehen wir weiter.“

In seinen Formenlehrevorlesungen ging es amüsant und etwas formlos zu. Orgelspielen, Komponieren und Dirigieren konnte er weitaus besser.


Barbara Hug schildert Distlers Art der Chorleitung:



Hugo Distler lehrt Chorleitung. 1938
© SCHOTT Music


Distler legte großen Wert auf einen „entkrampften“ Chor. Er versuchte die Lockerheit vor jeder Aufführung zu erreichen, machte einen Witz, eine amüsante Bemerkung oder ein paar Grimassen, bis er dem Chor ein Lächeln abspürte, ehe er begann.

Sein Dirigieren war leicht und musikantisch, wie seine Chormusik. Schwebend. Er begann nie mit einem vollen Taktaufschlag, immer nur mit einer ganz kleinen Bewegung der Hand, deren Kürze und Art abhängig war von dem Werk, das gesungen werden sollte. Er mühte sich sehr, uns Chorleitern den langen Aufschlag vor dem Einsatz abzugewöhnen (es gelang ihm) und uns den kurzen beizubringen, der Charakter und Tempo des kommenden Stückes den Sängern übermittelte, ohne sie und die Musik zu lähmen und zu beschweren. (Das war schwer.) Distler selbst konnte es unnachahmlich.

Sein Dirigieren war temperamentvoll und quicklebendig, wie sein ganzes Wesen. Er war klein, blond und eigentlich immer in Bewegung.




"Distler dirigiert": Der Name des Zeichners ist unbekannt
© Barbara Distler-Harth


In vertrauter Runde sprach Distler auch von Dingen, die ihn persönlich bewegten:

Im kleinen Kreis sprach er oft von seiner Angst, Soldat werden zu müssen, fragte er, ob es richtig war, von der Kirche weg in den Dienst des (NS-)Staates gegangen zu sein. Immer hatte er das Gefühl, seiner kirchenmusikalischen Kompositionen wegen besonders beobachtet zu werden. Wahrscheinlich trat er deswegen der NSDAP bei.

Dabei war er oppositionell wie kaum ein anderer. Er las damals [1938] das „Leben Michelangelos“ von Hermann Grimm. Es bewegte ihn sehr, weil es „damals noch schlimmer war als bei uns“. Er sprach viel darüber, brachte uns dazu, daß wir es ebenfalls lasen.

Immer wieder sprach er über den Selbstmord einer Orgelschülerin in der Lübecker [Jakobi-]Kirche, der ihn sehr getroffen hatte.

Im Lande der Schwaben (gegen deren Sprache er dauernd zu Felde zog, besonders beim Singen) traf er auf Mörike und schuf mit den Mörikeliedern sein letztes großes Chorwerk.

Mit dem Kammerchor wurden sie probiert, geprobt, eventuell abgeändert. Wir sangen von vervielfältigten Blättern, mit handschriftlichen Korrekturen. Wir hatten viele Proben. Ich erinnere mich, daß wir einmal über eine Stunde lang „Gelassen stieg die Nacht ans Land“ probten. Nur wegen des Schlusses: „Vom Tage, vom heute gewesenen Tage“. Das wollte einfach nicht so werden, wie Distler es sich gedacht hatte und nun unbedingt hören wollte. Oder: „und dein – der Knopf!“ bis der Knopf wirklich haargenau zusammen kam.



Hugo Distler 1938
© Barbara Distler-Harth

Die neuen Mörikelieder haben wir häufig zu Konzerten gesungen. Im Sommer 1939, kurz vor dem Krieg, sangen wir sie [...] in Graz. Sehr gut und mit großem Erfolg.

Bevor Hugo Distler 1940 nach Berlin ging, unternahm er mit dem Kammerchor eine Wanderung durch das Mombachtal nach Liebenzell im Schwarzwald:

Wir waren alle lustig und traurig zugleich. Distler auch, denn Berlin lockte ihn und ängstigte ihn – und die Stuttgarter Zeit war, wie er später öfters sagte, seine schönste Zeit.

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Auszüge aus der Biographie: Hugo Distler. Lebensweg eines Frühvollendeten. 
Von Barbara Distler-Harth. SCHOTT-Verlag, Mainz 2008

* Hug, Barbara: Erinnerungen an Hugo Distler. Unveröffentlichtes Manuskript.
** Hehl, Werner: Hugo Distler - Mensch und Künstler. In: Württembergische Blätter für Kirchenmmusik,
Mai - Juni 1983.

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Barbara Distler-Harth: Hugo Distler. Lebensweg eines Frühvollendeten.
SCHOTT Music / Mainz 2008  -  ISBN 978-3-7957--0182-6  . . . mehr


Barbara Distler-Harth studierte Philosophie,
Politikwissenschaft und Entwicklungspsychologie
in Braunschweig und München. Sie ist Publizistin
und lebt in München.

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