Bernward
Wembers
Analyse
Wahrnehmung und Gedächtnis im Härtetest
Der Fernseh-Gewöhnungs-Sog
Ein Pionierfilm des ZDF "in eigener Sache"
Als
sich in der Mitte der 80er Jahre abzeichnete, daß dem bewährten
öffentlich-rechtlichen Fernsehsystem das kommerzielle Fernsehen quasi
gleichrangig zur Seite gestellt werden würde, wuchs ebenso leise wie
rasch eine unheilvolle Schweige-Allianz: Es verbündeten sich
mächtige Interessengruppen unterschiedlicher Provenienz und Zielrichtung
, die es schlicht für "nicht wünschenswert" hielten, dass die
Bürger rechtzeitig und offen informiert wurden über das, was vonseiten
kommerzieller Sender unweigerlich auf sie und ihre Kinder zukommen
würde.
Demgegenüber hätte vor allem das
öffentlich-rechtliche Fernsehen beträchtliche Möglichkeiten gehabt (und
es hat sie nach wie vor), dieser gefährlichen Informationsbehinderung
der Öffentlichkeit entschlossen entgegenzuwirken. Aber gerade die
öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten, deren besondere
gesellschafts-integrierende Funktion doch durch die geplante
Neuordnung des Rundfunkwesens rigoros eingeschränkt werden sollte -,
gerade sie hielten sich in jener Umbruchszeit mit Informationssendungen
zum Thema "Fernseh-Wirkungen"
fast gänzlich zurück.
Dabei
war schon einmal – in den 70er Jahren – ein öffentlich-rechtlicher
Sender, das ZDF, mit bewundernswerter Offenheit und Souveränität an das
Thema "Fernseh-Wirkungen" herangegangen – ermutigend für weitere
Schritte in der eingeschlagenen Richtung, wie damals noch viele hofften.
Es ist die Rede von dem Film "Wie informiert das Fernsehen?" des
renommierten Medienwissenschaftler Bernward Wember, ausgestrahlt
mit großer Publikumsresonanz am 11. Dezember 1975 unter dem Titel "Wie
informiert das Fernsehen? Ein Indizienbeweis".
Man könnte heute fragen, ob es denn damals, als das
öffentliche Fernsehen noch nicht mit Kommerzsendern konkurrieren mußte,
überhaupt schon triftige Gründe gab für eine kritische
Auseinandersetzung mit Wirkungen des informierenden Fernsehens
auf die Zuschauer. Daß aber die spezifischen Wirkungs-Probleme, um deren
Aufhellung es Wember damals ging, aktuell wie eh und je sind, hat
Fritz Pleitgen, Intendant des Westdeutschen Rundfunks, später erneut
zur Sprache gebracht in der lesenswerten Streitschrift "Tagesthema ARD"
(Fischer-TB 1995):
"'Fernsehwelt und politische
Wirklichkeit' – beide haben viel zu häufig wenig, oft sogar nichts
miteinander zu tun. Wenn ich die Fernsehnachrichten betrachte, dann
beschleicht mich nicht selten ein ungutes Gefühl. Strenggenommen müßten
die Verantwortlichen mancher Sendungen wegen Irreführung und
Verdunkelungsgefahr belangt werden.
Daß das Publikum den größten Teil der
Informationen bereits beim Abspann vergessen hat, ist inzwischen von der
Medienforschung mehrfach nachgewiesen worden. ‚Selbst schuld!', könnte
man der verehrten Kundschaft vorhalten. Für ein paar Minuten sollte sie
ihre Gedanken wohl beieinanderhalten können! Doch die Ursache für das
Dilemma ist beim Absender, nicht beim Empfänger zu suchen. Die Sprache
ist oft unpräzise und abgegriffen, die Präsentation läßt gelegentlich
die Sinne des Betrachters schwinden, und die dauernde Diskrepanz
zwischen Bild und Text überfordert selbst die Konzentrationsfähigkeit
von Top-Schachspielern. Es handelt sich nicht um aktuelle Entwicklungen!
Diese Defizite werden schon seit langem beklagt. Neu daran ist: sie
haben sich verschärft."
Eben
diese "seit langem beklagten" – und im Prinzip vermeidbaren –
Defizite sind Wembers Film-Thema. Und wie Pleitgen führt auch Wember sie
in erster Linie zurück auf den täglichen Produktionszwang der
Journalisten unter ständigem Zeitdruck. Um ein Vielfaches
verschärft werden die angesprochenen Probleme heute dadurch, daß die
öffentlich-rechtlichen Sender in der Präsentation ihrer Nachrichten dem
massiven Konkurrenzdruck gleichzeitig lancierter Kommerzprogramme mit
ihren bunten Mixturen aus "Unterhaltung und Aktualität" standhalten und
Paroli bieten müssen. (Daß dies den öffentlich-rechtlichen Anstalten –
unter Einhaltung ihres beachtlichen Qualitäts- und Seriositätsniveaus –
nach wie vor gelingt, ist ein hoffnungsvolles Zeichen – sowohl für die
Ausstrahlungskraft und Substanz der Sender selbst als auch für den tief
verankerten Wunsch breiter Bevölkerungsschichten nach solider
Berichterstattung, die allein der "spröden Wahrheit" verpflichtet ist.
Dies immer vorausgesetzt, lohnt es sich,
die von Wember untersuchten und von Pleitgen später wieder
thematisierten unbeabsichtigten Fernsehwirkungsfaktoren ein wenig
genauer zu betrachten, nicht zuletzt deshalb, weil deren Kenntnis dann
auch zum Verständnis jener beabsichtigten suggestiven
Fernsehwirkungen mit beitragen kann, denen heute die
"massen-attraktiven" werbeorientierten Fernsehprogramme ihre
außerordentliche Anziehungskraft und psychologische Macht verdanken.
In
seinem "Indizienbeweis" in Sachen Fernsehen geht es Wember nicht um
Fernsehwirkungen, die von den Inhalten der Sendungen ausgehen,
sondern der Autor untersucht die Machart von Fernsehsendungen und
deren Wirkung auf den Zuschauer, genauer: die Machart und
Zuschauer-Wirkung politischer Informationsprogramme.
Wer heutzutage unabhängige und
zuverlässige Informationen hierüber sucht, wird im Fernsehen nicht
fündig werden. Denn Wembers ebenso kompromißlose wie brillante
Fernsehwirkungs-Analyse blieb ein bisher einmaliges
öffentlich-rechtliches Fernsehereignis. Es sollen deshalb hier zur
Einführung einige Pressestimmen zitiert werden. Unter dem Titel "Das
große Selbstgericht" schrieb DIE ZEIT am 19.12.1975:
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"Na bitte, es geht also doch – und zwar
vortrefflich! Was hier und andernorts seit Jahr und Tag gefordert worden
ist: eine kritische Analyse der Manipulationstechniken im Fernsehen (mit
Hilfe welcher Tricks wird Information vorgetäuscht? Was muß einer am
Schneidetisch tun, damit der Zuschauer glaubt, der Teil sei das Ganze?)
– dieser Forderung kam Bernward Wember in einer Manier nach, die Respekt
und hohes Lob verdient ... In einem furiosen Kolleg ... wurden am
Beispiel der Nordirland-Berichterstattung die Praktiken jener
Bildreportagen erläutert, deren Grundgebot lautet: ‚Bewegung ist
alles, Inhalt ist nichts'. Eine Vorlesung im Stil des Brechtschen
Theaters. Unterhaltend und belehrend zugleich ... Insgesamt ein
Musterbeispiel fröhlicher Unterweisung ... Kein Zweifel, dieses
Experiment muß fortgesetzt werden. ‚Heute' will analysiert sein, das
ZDF-Magazin, ‚Kennzeichen D'. Kritik bleibt folgenlos, wenn sie nicht
fortgesetzt geäußert wird ... Kritikpunkt: Zwei Stunden zehn Minuten
ohne Pause, das ist des Guten zuviel. Man sollte die Sendungen, durch
Vor- und Rückgriffe verbunden, auf drei Abende verteilen. Warum
eigentlich nicht? Amüsanter als eine Kriminaltrilogie ist ‚betrifft
Fernsehen' ... gewiß. Und wichtiger ohnehin." Momos
Der SPIEGEL urteilt (Nr. 50/75):
"Fernsehen: ‚Verseuchung der Denkwelt?' Das
Fernsehen kritisiert sich selbst – so scharf und so gründlich wie noch
nie: Am Beispiel der
TV-Berichterstattung über den Bürgerkrieg in Nordirland hat der
Medien-Wissenschaftler Bernward Wember die Machart politischer
Informationssendungen und deren Wirkungen auf den Zuschauer
analysiert ... Gründlicher, seriöser und auf sachliche Weise spannender
ist Fernsehen im Fernsehen noch nicht kritisiert, härter noch nie
abgeurteilt worden.
Revolution im zweiten Kanal: Die beiden
ZDF-Redaktionen ‚Filmforum' und ‚Medienkunde' haben den Fernsehprozeß
nicht nur in eigener Sache angestrengt, sondern größtenteils auch
finanziert. Während die kleinmütigen ARD-Intendanten ihre ohnehin
bescheidene Selbstkritik-Sendung, das ‚Glashaus' weiter demontieren,
öffneten die Mainzer ihrem Kritiker sämtliche Archive, gaben sein
Verdikt ungekürzt frei und schoben es trotz extremer Sendedauer (zwei
Stunden und zehn Minuten) nicht ins Nachtprogramm ab. ‚Mit Zeit und Geld
großzügig ausgestattet', vertiefte sich der TV-Forscher zunächst in die
Mainzer Filmbestände. Er sichtete insgesamt 50 Programme von 310 Minuten
Länge, rund eine Viertelstunde sonderte er als Beweismaterial aus –
‚genug, um die Probleme und Mängel exemplarisch zu demonstrieren.'
Auf den ersten Blick bieten Wembers aus
‚heute', ‚Drehscheibe', ZDF-Magazin und Sondersendungen
herausgeschnittene Schaustücke das gewohnte Bild: Auf der Straße liegen
Leichen, von den Häuserfronten leuchten Protestparolen, Soldaten
patrouillieren in Jeeps, dazwischen jede Menge Kirchtürme und
Stacheldraht, saufende, schuftende, betende, weinende Iren. Zum üblichen
Bilderverschnitt die übliche Klangkulisse: Sirenengeheul,
Maschinengewehr-Geknatter, Glockengeläut und das Gerede scheinbar
allwissender Reporter.
‚Um zu wissen, wie sowas nun wirkt',
mietete Wember in der Münchner Fußgängerzone einen Saal und ließ die
Standardware aus grauem Fernsehalltag von 850 Personen aller
Altersstufen und Berufsgruppen' für zehn Mark Handgeld testen.
Ergebnis: 80 Prozent der Zufallszuschauer hielten das
Informationsmaterial zwar für ‚sehr informativ und klar verständlich',
doch nur 20 Prozent hatten die Informationen am Ende der
Vorführung ‚einigermaßen verstanden und behalten'."
Karl Hugo Pruys, stellv. Sprecher
der CDU, nahm wie folgt Stellung: "Methodenkritik am Medium Fernsehen,
mit den Mitteln der Television selber ... Dem
Kommunikationswissenschaftler Bernward Wember blieb es vorbehalten,
diese Pioniertat zu vollbringen. Mit Spannung konnte man – nach viel
Vorschußlorbeeren und Kritikerlob – der ZDF-Sendung am 11. Dezember 1975
entgegensehen. Der Erwartungshorizont war weit gesteckt, nach 130
Minuten Film und Moderation war klar: Die Erwartungen wurden nicht
enttäuscht. Im Gegenteil: sie wurden übertroffen. Dem Zweiten Deutschen
Fernsehen ist hierfür zu danken. Es hat viel Geld, aber mehr noch: viel
Mut zur Selbstkritik aufgewendet, um die Flimmerkiste zu
entzaubern. Hoffentlich kein einmaliges Ereignis ..."
Der Journalist und Fernsehkritiker
Hermann Vagts erwartete Konsequenzen in den Rundfunkanstalten:
"Was die Beteiligten beim ZDF betrifft, so dienten sie mit der
couragierten Förderung des Projekts nicht nur der Sache, sondern auch
ihrer eigenen Glaubwürdigkeit. Zur Sache: Wer, etwa als
berufsmäßiger Fernsehkritiker, viele Jahre hindurch die
Informationssendungen ... prüfte, sah sich immer wieder mit bestimmten
Ärgernissen konfrontiert. Dazu gehörte vor allem das unerträgliche
Auseinanderklaffen von Bild und Text: die Zersplitterung der
Aufmerksamkeit tötete den Nerv und lähmte die Spannkraft.
Aber auch andere Feststellungen Bernward Wembers waren dem Kritiker
geläufig, zum Beispiel die Ausklammerung geschichtlicher
Hintergründe, die fehlende Zusammenfassung der
Informationspartikelchen zu einem Gesamtbild oder die
Problemvernebelung durch optische Reizüberflutung. Nur, wie
diese scheinbar nicht auszumerzenden Fehler zu erklären waren, blieb der
Spekulation überlassen.
Bis zum 11. Dezember 1975 ... In seinem
didaktisch musterhaften Anschauungsunterricht machte Wember jedermann
mit den Künsten und Kniffen der Film-Autoren bekannt ... Er lenkte den
Blick auf die wahren Ursachen: den pausenlosen Produktionszwang
und die Forderung, einen Bericht zeitlich auf 5 bis 7 Minuten zu
begrenzen. Das bedeutet aber: sein Indizienbeweis trifft vorerst
nur auf jene Informationsangebote zu, die solchen Zwängen ausgesetzt
sind, also: ‚heute', ‚Tagesschau', ‚Drehscheibe', politische Magazine
und ähnlich konzipierte Sendungen ...
Es bliebe zu wünschen, daß Wembers
Beispiel auf ganzer Bandbreite Schule macht. Wie steht es mit den
Informationen durch Krimis, Western, Talk-Shows, Interviews, Werbespots
und so weiter? Die Verschmutzung der Denkwelt durch das Massenmedium
Fernsehen beschränkt sich ja gewiß nicht auf die sogenannten
Informationssendungen ... Entscheidend ist die Wirkung, die Wembers
Sendung dort ausübt, wo Menschen sich um das Medium Gedanken machen.
In erster Linie also in den
Rundfunkanstalten ..
Mit der Ausstrahlung dieser Untersuchung
hat sich das ZDF dem Problem gestellt, von dem die ARD weiß, daß es auch
ihr Problem ist. Jetzt mag bei den Betroffenen zunächst eine erhebliche
Verwirrung herrschen. Aber daß Konsequenzen von ihnen erwartet werden,
dürfte ihnen klar sein. Sie könnten sonst mitschuldig werden an der
‚Ruinierung der
Sehgewohnheiten' – was zur Konsequenz hätte, daß unser potentiell
stärkstes Informations-Instrument unbrauchbar würde."
|
|
Die
850 Bürger aus der Münchner Fußgängerzone, die sich damals bereitwillig
an dem Fernseh-Wirkungstest beteiligten, führten Wember auf die Spur noch unaufgedeckter Phänomene. Und er
erkannte, daß die Aufhellung dieser Phänomene von größter Dringlichkeit
war – nicht nur für Praktiker und Theoretiker im Medienbereich und die
Verantwortlichen in den Rundfunkanstalten, sondern auch – und dies vor
allem – für die ‚Rezipienten' von Fernsehsendungen, also für die
Bürger selbst. Denn wenn 80 Prozent der Zufalls-Testpersonen nach
dem Anschauen fernseh-üblicher politischer Informationssendungen
glaubten, gut informiert zu sein – ohne es in Wirklichkeit zu
sein, dann lag hier eine politisch gefährliche Selbst-Täuschung
vor – ein Widerspruch im Bewusstsein einer Bürger-Mehrheit,
dessen verursachende Faktoren aufgedeckt werden
mussten.
Der junge Medienwissenschaftler Wember stellte sich
dieser Herausforderung – auf einem noch weithin unerforschten,
schwierigen Terrain – mit Kompromisslosigkeit, Genauigkeit und
Konsequenz. Noch gab es ja keine genaue Bestimmung – und somit keinen
Namen - der Faktoren, die die durch Tests ans Licht gebrachte
Bewusstseins-Täuschung im Zuschauer bewirken. Wember greift deshalb
zunächst eine schon vorhandene Bezeichnung aus der Umwelt-Diskussion auf
und nennt diese immateriellen (nicht-stofflichen) Faktoren
"Schadstoffe":
"Was wäre, wenn in der Fernsehinformation
Schadstoffe enthalten sind, die durch eine schleichende
Verseuchung unsere Wahrnehmung ruinieren? Was wäre dann mit
der demokratischen Urteilsbildung der
Zuschauer?
Dieser Verdacht einer Verseuchung der Denkwelt ist
massiv. Das ist mir völlig klar. Denn die Informationssendungen des
deutschen Fernsehens genießen einen hervorragenden Ruf. Um aber allen
Mißverständnissen gleich von vornherein zuvorzukommen: Niemand sollte so
naiv sein anzunehmen, ich würde dem Fernsehen eine bewusste Absicht
unterstellen. Genauso wie es absurd wäre, der deutschen Industrie zu
unterstellen, sie würde mit Absicht unsere Umwelt verseuchen."
Trotzdem: die Wirkungen zahlloser industrieller
Produktionsverfahren auf unsere Umwelt sind erwiesenermaßen gravierend.
Über die Wirkungen des Fernsehens auf die Zuschauer ist schon viel
spekuliert worden, stellt Wember fest, aber: "Behaupten kann man vieles.
Was läßt sich beweisen, mit eindeutigen
Indizien?"
Wembers Untersuchung bringt Licht in Sachverhalte von
so großem allgemeinen Interesse, daß hier wenigstens drei von ihnen
skizzenhaft zur Sprache gebracht werden sollen. Wir stützen uns dabei
auf Wembers Buch-Dokumentation "Wie informiert das Fernsehen?" (dritte,
erweiterte Auflage 1983). "Es ist immer eine heikle Angelegenheit",
schrieb der Autor darin, "wenn man das Medium Film im Medium Buch
präzise festzuhalten versucht."
I. Der Effekt des Augen-Kitzels:
Hauptsache, es bewegt sich was!
Bewegung
in den Fernsehbildern wird vom menschlichen Auge als
angenehmer Reizwechsel – als "Augenkitzel" – erlebt. Sie
bewirkt automatisch eine Zuwendung des Auges zur Reizquelle –
d.h. zu den bewegten Bildinhalten des Films mit seinen (meist) rasch
wechselnden Einstellungen. Die Bewegung im Filmbild ist es, die
das "Dranbleiben" des Zuschauers in erster Linie bewirkt, ohne
daß er sich dessen – in der Regel – bewußt ist.
Die unwillkürliche Reaktion des
Auges auf Bewegung im Filmbild gehorcht dem Gesetz vom sogenannten
"orientierenden Reflex" (eine Erkenntnis aus der
Wahrnehmungspsychologie): In der Entwicklungsgeschichte der Menschheit
war dieser Mechanismus einst lebensnotwendig (und er ist es heute noch
in der freilebenden Tierwelt). Denn Bewegung konnte Nahrung
signalisieren (in der Form eines Beutetiers) oder Gefahr (durch
Raubtiere).
Als ein Beispiel für das manchmal geradezu widersinnige Funktionieren
des orientierenden Augen-Reflexes soll hier die jedermann geläufige
Tatsache angeführt werden , daß etwa in einem vollbesetzten
Vortragssaal, in dem ein aufmerksames Publikum dem Redner konzentriert
zuhört, erfahrungsgemäß ein allgemeines unwillkürliches
Köpfewenden erfolgt, sobald eine Seitentür sich geräuschlos
auftut und irgendein Zuspätkommender erscheint, der dann auf
Zehenspitzen dem nächstgelegenen freien Sitzplatz zustrebt.
Bewegungs-Armut im Filmbild wird (ebenso wie zu starke Bewegung)
vom Auge als unangenehm erlebt. Wenn Objekte, die gefilmt werden
sollen, zu wenig oder gar keine Bewegung aufweisen, wird deshalb der
fürs Auge so angenehme Reizwechsel häufig einfach künstlich
hergestellt. (Auch die gesamte Leuchtreklame wendet den
Reizmechanismus der optimalen – d.h. weder zu schnellen noch zu
langsamen Bewegung an.) Die Techniken (oder Tricks) zur
künstlichen Erzeugung von Bewegung im Filmbild sind, wie der
Fernsehkritiker Richard Kaufmann in einer Besprechung von Wembers Film
schrieb, "seit den Zeiten von Griffith und Murnau bekannt":
"Film muß die Augen kitzeln, und das erreicht er nur durch Bewegung.
Wenn beispielsweise in der Nachricht ein Bunker gezeigt wird, ist es
wider die Gesetze der Kunst, das Objekt einfach zu fotografieren. Man
muß es bewegen. Das kann durch eine fahrende Kamera geschehen,
durch die Zoomlinse, durch den Schwenk, noch einfacher
aber durch wahlloses Zerschnitzeln mehrerer Filme (die gar nichts
mit dem Tatort zu tun haben müssen), deren Bildatome nun bezugslos
aneinandergereiht werden, während die Stimme des Sprechers immer weiter
dröhnt. Sie spricht von Geschichte, von politsozio-psychologischen
Hintergründen, nennt Menschen und Mordwaffen – der Film indessen
plätschert, ein munteres optisches Bächlein, dahin, zeigt Soldaten,
Kinder am Fenster, tote Frauen, Kopfsteinpflaster mit Regenpfützen oder
eine Handgranate, die über ein Dach kullert."
Wember demonstriert die gebräuchlichen Techniken zur künstlichen
Herstellung von Bewegung im Filmbild, indem er einzelne Filmpassagen
wiederholt im Zeitlupentempo vorführt: etwa einen mit Soldaten
vollbesetzten Jeep, der langsam an Häuserfronten entlangfährt,
die emsig nähenden Hände von Textilarbeiterinnen in einer Fabrik,
eine flatternde Fahne vor dem Fenster eines Parlamentsgebäudes
(während der unsichtbare Sprecher politische Zusammenhänge erläutert).
Wember veranschaulicht, wie die – an sich unbewegte – Parole eines
Plakats auf einer Litfaßsäule "ins Auge springt" (indem sie mit
der Zoomlinse "herangeholt" wird).
Eine der vom Autor untersuchten Filmpassagen zeigt einen Soldaten.
Interessant ist nun für den aufmerksamen Betrachter, daß die Kamera
dabei rasch auf dessen gehende Füße schwenkt. Warum? Wember
bemerkt dazu:
"Was soll denn das für die Information bringen?
Vielleicht soll
das Laufpensum angedeutet werden oder der Gleichschritt beim
Patrouillieren. Ich glaube nicht. Was hier ausgewählt wurde, ist nur der
Ausschnitt, in dem am meisten Bewegung zu sehen ist, und beim
gehenden Menschen sind das die Füße ... Diese Demonstrations-Reihe ließe
sich durchaus verlängern. Und da sage einer, diese Fußausschnitte seien
aus reinem Informationsinteresse für Schrittgrößen ausgewählt worden."
Es geht hier also in Wirklichkeit gar nicht um Information, sondern
allein um Blick-Fesselung, und für die gilt:
Die Hauptsache, Beine strampeln durchs Bild.
Hauptsache, es bewegt sich was!
Man kann fast nie Einzelheiten in Ruhe beobachten, denn die Bilder
wechseln unglaublich schnell. Kaum sieht man richtig hin, werden sie
wieder geschnitten. Fast jeder Versuch, selber etwas in den Bildern zu
entdecken, ist zum Scheitern verurteilt, weil man das meiste in
riesiger Vergrößerung vorgesetzt bekommt und auch das nur ganz
kurz. Man kann in den Bildern kaum selber aktiv suchen. Das ist eine
pausenlose Bombardierung mit Reizmaterial. Das ist eine
pausenlose Gängelung der Aufmerksamkeit. Eins muß man allerdings
zugeben: Diese Reizmethoden funktionieren ... Es könnte jetzt
eingewendet werden,: Was soll die ganze Aufregung? Das Bild mag ja so
gemacht sein, wie die Analyse zeigt. Aber ist denn das so schlimm? Die
eigentliche Information kommt ja nicht vom Bild, die kommt
doch vom Text. Und wenn das Bild viel Augenkitzel macht, na wenn
schon! Der Text gleicht das doch alles aus."
Wie aber steht es damit? Erinnern wir uns hier noch einmal an die
Zuschauer in der Münchner Fußgängerzone: 80 Prozent von ihnen
glaubten,
durch die vorgeführten Fernsehfilme gut informiert zu sein, aber die
Tests ergaben, daß nur 20 Prozent von ihnen die wesentlichen
Informationen wirklich verstanden und behalten hatten!
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II. Die Bild-Text-Schere:
Sehen contra Hören
Die Testergebnisse zeigen: Je dichter Text und Bild
beieinander sind, desto besser können wir die Textaussagen des Films
aufmerksam verfolgen – und im Gedächtnis behalten. Wenn jeoch Text und
Bild – wie eine sich öffnende Schere – sich inhaltlich immer weiter
voneinander entfernen, dann muß der Zuschauer sich immer mehr
anstrengen, wenn er gleichzeitig noch zusehen und zuhören will.
Früher oder später bleibt vor dem hoffnungslosen Auseinanderklaffen von
Bild und Text die "Aufmerksamkeit jedes Zuschauers hoffnungslos auf
der Strecke" – und damit die unerläßliche Voraussetzung für ein
Erinnern des Zusammenhangs.
Dabei ist die thematische Entfernung von Text und Bild noch
nicht einmal das ganze Problem. Denn erschwerend kommt stets hinzu die
"natürliche" Dominanz des Bildes über den Text – vor allem
aufgrund des schon besprochenen "Augenkitzels". Die Bild-Text-Schere,
verstärkt durch den "Augenkitzel"-Effekt, macht es für den Zuschauer
(auch wenn er glaubt, sich gerade gut zu informieren) in
Wirklichkeit extrem schwierig, das Entscheidende eines jeden
Informationsfilms – seine Textaussagen – in ihrem Zusammenhang zu
erfassen und zu behalten:
"Wegen der Scherenprobleme ist es oft unmöglich, gleichzeitig
genau zu beobachten und genau hinzuhören. Entweder man hört zu, dann
verkommt das Sehen zum Glotzen. Oder man ist von den Bildern
gefesselt, dann verkommt der Text zur plätschernden Geräuschkulisse".
III. Die Fernsehnachricht im "Durchlauferhitzer":
Zurückblättern geht nicht!
Wie war das gleich nochmal?" Es gibt wohl kaum jemanden, der sich
nicht schon darüber geärgert hätte. Man will eine wichtige Information
im Fernsehen festhalten und sich einprägen, aber schon ist sie weg,
unwiederbringlich!
"Anhalten, zurückblättern und nochmal nachschauen geht leider nicht.
Das, was vorher war, der Zusammenhang, entzieht sich dem direkten
Zugriff ... Sie erleben immer nur diesen einen Punkt. Sie haben
überhaupt keine Möglichkeit, von hier aus den Zusammenhang direkt
nachzuschauen. Das hört sich vielleicht banal an, aber im Klartext heißt
das: Der Zusammenhang ist nicht überprüfbar."
Die Testergebnisse und Analysebefunde ergeben, daß infolge des
Ablaufzwangs die Informationsfilme "wie durch einen
Durchlauferhitzer gejagt werden", und die Filmautoren selbst
scheinen, wie Wember demonstriert, stets nur an diesem einen
Durchlaufpunkt interessiert zu sein. Dort sollen die Filmbilder
nacheinander "für einen kurzen Augen- und Ohrenkitzel erhitzt werden"
– um sofort danach "auf Nimmerwiedersehen" im Orkus des Vergessens zu
versinken. Ein Rückgriff auf den Zusammenhang endet deshalb, so
Wember, "wie im Nebel", und:
"Das Schlimme ist, daß man diesen Vorgang meist nicht unmittelbar
merkt. Der Reizkitzel (fesselnder Bilder und plätschernder
Geräuschkulissen) ist nämlich angenehm und kostet keine Anstrengung.
Man braucht sich nur dem Reiz zu überlassen, sonst nichts ... Im
Einzelfall wäre das noch nicht so tragisch. Gefährlich wird das nur,
wenn es Dauerzustand wird. Denn man gewöhnt sich
daran, daß ein genaues, aktives Zuschauen kaum möglich ist.
Man gewöhnt sich daran, daß ein verstehendes, aktives Zuhören kaum
möglich ist. Man gewöhnt sich daran, daß genaues Mitdenken kaum möglich
ist.
Aber es ist ein alter Hut, daß Fähigkeiten verkümmern, wenn man sie
nicht aktiv einsetzt. Ein Arm, den man nicht bewegt, wird steif. Wenn
aktives Beobachten nicht geübt wird, dann verkrüppelt das Sehen zu
passivem Reizkonsum. Wenn aktives, mitdenkendes Zuhören nicht möglich
ist, dann verkümmert das Hören zu passivem Reizkonsum ...
Man behält, daß man nichts zu behalten braucht."
. . . . . . . . .
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Bernward Wember analysiert in seinem
Film Fernsehwirkungen, die vorwiegend die Wahrnehmungs- und
Erkenntnisebene, also den sogenannten kognitiven Bereich
betreffen. Diese von den Filmautoren unbeabsichtigten
Wirkungen sind überwiegend die Folge extremen Zeitdrucks und
fernsehjournalistischen Produktionszwangs. Sie ruinieren – so Wember –
unmerklich unsere Seh- und Hörgewohnheiten und unser Gedächtnis.
Und sie können im Zuschauer die gefährliche Illusion nähren, durchs
Fernsehen gut informiert zu sein, auch wenn dies – wie die
Testergebnisse ergaben – in den meisten Fällen nachweislich nicht
zutrifft.
Die hier skizzenhaft wiedergegebenen strukturellen
Fernsehwirkungen ("Augenkitzel", Bild-Text-Schere, "Durchlauferhitzer")
verringern auf gefährliche Weise den "Gebrauchswert politischer
Information":
Auf Dauer könnte sich das sehr rächen. Das sinkende Interesse an
sogenannter "politischer Information", das zur Zeit überall zu
beobachten ist, könnte ein Symptom dafür sein. Denn langfristig läßt
sich ein echter Gebrauchswert politischer Information nicht vortäuschen.
Den muß man erfahren können. Wer's nicht glaubt, der sollte zur
Überprüfung meiner These einen simplen Test an einer beliebigen
Informationssendung ausprobieren. Am Morgen nach der Sendung (nicht erst
Monate später!) die banale Frage: Worum ging's eigentlich?"
Auch wenn es sich bei den von Wember zutage geförderten
Fernsehwirkungen "nur" um "mentale" – überwiegend unsere
Bewußtseinsebene tangierende – Wirkungen handelt, können wir uns
über die Jahre hin so sehr an sie gewöhnen, daß
ihr unverhofftes Ausbleiben – ähnlich wie der abrupte Entzug einer
gewohnten, "klassischen" Droge
massive Entzugs-Erscheinungen auslösen kann.
In den "Nachtgedanken" der 1983 erschienenen dritten, erweiterten
Auflage seines Buches weist Wember auf Untersuchungen hin, die schon
Ende der siebziger Jahre seinen Vorwurf in bezug auf die Gefahr der
Drogenwirkung des Dauerfernsehens - unabhängig von den
gezeigten Inhalten -
erhärten. Der Autor nennt in diesem Zusammenhang die vieldiskutierte
ZDF-Studie "Vier Wochen ohne Fernsehen" von Helmut Greulich,
1976, und Marie Winns Pionierarbeit "Die Droge im
Wohnzimmer", 1979. Inzwischen liegt - in bezug auf dieses immense
Problemfeld - eine überwältigende Zahl international beachteter
Forschungsergebnisse vor aus angesehenen Wissenschaftszentren in den USA
, Japan, Brasilien und zahlreichen anderen (europäischen wie
außereuropäischen) Ländern. Erwähnt sei in diesem Zusammenhang auch ein
verdienstvoller Bericht des ZDF vom 3.5.1996 über
die Art und Weise, wie kürzlich US-amerikanische Bürger und ihre Kinder
bundesweit eine selbstverordnete "fernsehfreie Woche" erlebten und
verarbeiteten.
Lassen wir zum Schluß noch einmal Bernward Wember
selbst zu Wort kommen: "Durch die ewige
Wiederkehr
des immergleichen Augenkitzel-Verfahrens entsteht beim Zuschauer
der Gewöhnungs-Effekt
... Fernseh-Information ist, wenn
Bild-Text-Brei serviert wird, süffig und
leicht eingängig. Die Sogwirkung des Augenkitzels und die Eigendynamik
der Bild-Text-Schere haben Drogenwirkung auf
den Zuschauer.
Damit aber betritt der Autor selbst schon den Weg, der
dann zur Analyse auch jener Medienwirkungen hinführt, die - wie in der
Fernsehwerbung - gezielt die tieferen Schichten der menschlichen
Psyche ins Visier heben.
Weitere Informationen zu Bernward Wembers Werk
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hier
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