Kinder – im Netz gefangen und gebannt!
Von den Lebensbedürfnissen des Kindes und dem Kapitalinteresse elektronischer Massenmedien
Heraklit, um 500 v.Chr. |
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Das Kapitalinteresse - als unstillbares Bedürfnis nach Anhäufung maximaler Gewinne - hält den gigantischen Markt elektronischer Massenmedien in rastloser Bewegung. In deren Strategiekonzept fungieren Kinder als besonders wichtige "Zielgruppe". Schon 1989 kritisierte der oben schon zitierte Bremer Bildungssenator Horst-Werner Franke (in den erwähnten Bremer Senatsinformationen vom 8.6.89), es gebe eine "mächtige Fernsehlobby in Verbindung mit Wirtschaft und Werbung, die eine frühe Heranführung der Kinder an das Fernsehen vorsieht und verteidigt".1 Die Eltern in unserer Gesellschaft wurden jedoch bis zum heutigen Tag nicht darüber aufgeklärt, daß die rigorose Anpassung ihrer Kinder an das Medium Fernsehen längst einem eisern vorgegebenen Generalplan folgt. Diese Informations-Unterdrückung großen Stils ist umso bemerkenswerter, als ja gerade die hier in Frage stehenden Groß-Lobbyisten im übrigen nicht müde werden, die Segnungen der "Welt-Informations-Gesellschaft" begeistert zu feiern. Kein Weg führt allerdings an den Eltern vorbei, wenn man ungehindert an ihre Kinder herankommen will. Wer also die "Heranführung" der Kinder ans Fernsehen vorsieht und verteidigt, muß vor allem dafür sorgen, daß die Eltern sich diesem Vorhaben nicht etwa störrisch in den Weg stellen. Besänftigendes "Expertenwissen" - publikumswirksam "unter die Leute gebracht": Was wäre besser geeignet, elterliche Bedenken in bezug auf die Kinder-Verträglichkeit des Fernsehens nachhaltig zu zerstreuen? Und so attestieren denn "Medienexperten" (mit einer wie auch immer gearteten Vorbildung und Berufsauffassung) dem Kinderfernsehen immer wieder Unbedenklichkeit, ja "Unverzichtbarkeit" in unserer modernen Informationsgesellschaft. Medienwissenschaftler der Universitäten Kansas und Massachusetts beispielsweise empfahlen, Kinder "zur Förderung ihres Intellekts" schon vom zehnten Lebensmonat an mit dem Fernsehen zu konfrontieren (laut SPIEGEL-Bericht vom 5.12.1988).2
Unter dem Titel "Baby-Fernsehen in Japan" kritisierte die Zeitschrift Psychologie Heute in ihrer Ausgabe vom April 1983: " Die Tatsache, daß in Japan nahezu alle Dreijährigen (98 Prozent) durchschnittlich dreieinhalb Stunden - und sogar eineinhalbjährige Kinder schon zwei Stunden vor dem Bildschirm sitzen, mag deutschen Eltern wie eine Schreckensvision erscheinen. Nicht so bei japanischen Medienpädagogen und Erziehern: Diese betrachten das kindliche Fernsehverhalten als sinnvolle Verbindung zwischen Erziehung und schulischem wie außerschulischem Leben.So ist denn auch die Nutzung von Fernsehprogrammen für Kinderkrippen (86 Prozent), Kindergärten (83 Prozent) und Grundschulen (95 Prozent) im japanischen Erziehungsalltag ganz selbstverständlich. Die zahlreichen kommerziellen Fernsehanstalten Japans (82 allein im Großraum Tokio) wissen sich darauf einzustellen. Durchschnittlich strahlen sie 82 Stunden in der Woche Kinderprogramme aus, von denen fast ein Viertel (18 Stunden) aus Werbung besteht. U m die Effektivität, das heißt den Nutzungsgrad der Fernsehsendungen auch für eineinhalb- bis zweijährige Kleinkinder zu erhöhen, hat ein öffentlich-rechtlicher Sender in Tokio gemeinsam mit einem technologischen Forschungsinstitut ein spezielles Fernsehprogramm für diese Konsumentengruppe entwickelt. Durch direkte Messung und durch Befragung der Eltern werden dabei physische und psychische Reaktionen auf verschiedene auditive und visuelle Darstellungsmuster und -mittel erforscht. Der Grund, warum man sich so eifrig um die Krabbelkinder bemüht: Sie nutzen das vormittägliche Fernsehprogramm zuhause, während die Dreijährigen bereits im Kindergarten Fernsehen konsumieren. (3)S olche Medienforschung, die letztlich den kommerziellen Fernsehanstalten zu Diensten ist, propagiert denn auch Ergebnisse wie dieses: 'Grundschulkinder, die die Wetternachrichten und die Wetterkarte sehen, haben ein signifikant höheres Wissen über Klimaverhältnisse als Kinder, die die Wetterkarte nicht sehen.'"
"Gutachten", die die angebliche Nützlichkeit des Fernsehens für Kinder - und selbst für die kleinsten unter ihnen - zu beweisen vorgeben (4), werden bedenkenlos verbreitet, obwohl seit langem bekannt ist, daß Kinder bis zur Vollendung ihres zweiten Lebensjahres die Welt in einer Weise erfahren, die sich radikal von unserer eigenen Realitätserfahrung unterscheidet. Dies betrifft vor allem die Art ihrer Beziehung zu Objekten (Personen und Dingen): Nur in winzigen Schritten lernt ja das Kind allmählich, daß es ein Selbst - ein Ich - ein von der Welt um es herum klar unterschiedenes Subjekt ist. (Siehe hierzu u.a. die Untersuchungen von Jean Piaget, René Spitz, D.W. Winnicott und Bruno Bettelheim.) 5)Beseelte
Welt:
Der "archaischen" Denkart des Kindes (Hedwig v. Beit)8) kommt das Volksmärchen, als einzigartige Kunstform, besonders entgegen - wenn es dem Kind erzählt oder vorgelesen wird. Das hier folgende Beispiel (in dem Bettelheim einen Bericht von Bettina v. Arnim zitiert) beschreibt besonders anschaulich die Wechselseitigkeit der Beziehung zwischen Kind und Erzähler und die produktiven Prozesse, die beim Erzählen und Zuhören in beiden ausgelöst werden können:
Im Alter erzählte Goethes Mutter, wie sie ihrem Sohn Luft, Feuer, Wasser und Erde als wunderschöne Prinzessinnen dargestellt habe, und wie dadurch die ganze Natur reicher an Bedeutungen wurde ... Der kleine Junge verschlang sie fast mit den Augen, und wenn es einer seiner Lieblingsgestalten nicht so erging, wie er sich das vorstellte, konnte sie es seinem ärgerlichen Gesicht ansehen, oder sie merkte, wieviel Mühe er hatte, seine Tränen zurückzuhalten. Manchmal schaltete er sich auch in den Gang der Handlung ein und bestand darauf, daß der 'elende Schneider' die Prinzessin nicht heiraten werde, selbst wenn er den Riesen erschlagen sollte. Die Mutter unterbrach dann ihre Erzählung bis zum nächsten Abend. Oft wurde so ihre Einbildungskraft durch die ihres Kindes ersetzt, und wenn sie am nächsten Abend die Schicksale so ordnete, wie er es vorgeschlagen hatte, und fortfuhr, daß er es erraten habe, war er entzückt, und es klopfte ihm das Herz bis zum Halse."9)
In diesem Buch, das in der Präzision der Analyse und der Kunst der Darstellung seinesgleichen sucht und auch in Bettelheims eigenem Lebenswerk einen Höhepunkt seiner Forschungsarbeit und seines literarischen Schaffens darstellt, beschäftigt sich Bettelheim auch mit der Frage der Buch-Illustration von Volksmärchen. Solche "erläuternden" Bebilderungen mögen zwar, wie er schreibt, Erwachsenen großes ästhetisches Vergnügen bereiten und rufen vielleicht nostalgische Erinnerungen an die eigene Kindheit in ihnen hervor. Aber so ansprechend und reizvoll (für sich genommen) die "Veranschaulichung" der bildmächtigen alten Märchen sein kann: sie drängt doch naturgemäß der selbstschaffenden Phantasie des Kindes die Vorstellungen des Künstlers auf und schränkt insofern die entwicklungsnotwendige freie Imagination des Kindes bereits ein.(10) Um wieviel mehr muß dies dann für die rastlos wechselnden "bewegten Bilder" im Fernsehen gelten - ganz unabhängig von dem, was sie darstellen! Sie setzen ja nicht nur des Kindes eigene schöpferische Phantasie zeitweilig außer Kraft, sondern der Ablaufzwang der Bilder nötigt das Kind obendrein zur gleichsam atemlosen, punktuellen Konzentration auf eben diese rasch aufeinaderfolgenden Bilder bzw. Bildsequenzen. Die Wirkung solcher hochdynamischen Bildabfolgen besteht deshalb vor allem darin, daß im Kind rasch wechselnde Gefühle ausgelöst werden, daß es - sozusagen - "von Emotion zu Emotion" gejagt wird. 11) So bleibt dem Kind keine Zeit und keine Ruhe, "Abstand" zu nehmen und das ihm vorgeführte Geschehen innerlich zu verarbeiten. (Würde ihm die Geschichte "nur" erzählt oder vorgelesen werden, so könnte das Kind die Ereignisse, von denen da berichtet wird, vor seinem inneren Auge gemächlich vorbeiziehen lassen und den Zusammenhang und die Bedeutung der Geschichte in Ruhe mitdenkend erfassen.)Wenn Kinder viel allein sind, laufen sie Gefahr, sich in dem Netz wirklichkeitsfremder Bilderwelten immer tiefer zu verstricken. Um dieser Gefahr entrinnen zu können, brauchen sie den beständigen "Dialog mit der Welt" - vor allem im vertrauensvoll-geselligen Umgang mit ihren Eltern, im ausgiebigen Spiel mit anderen Kindern, in der praktischen Erkundung und Erprobung der realen Welt. 12) Auf diesem Weg vollzieht sich im Laufe der Kindheit unmerklich die Metamorphose des kindlichen Denkens: die inneren Bilder des Kindes von einer beseelten Natur (die mit guten und auch bösen Absichten erfüllt ist) treten langsam in den Hintergrund, und es erkennt mit der Zeit, daß in dieser Welt, wenigstens was ihre sinnlich erfaßbare Seite angeht, verläßliche Naturgesetze walten.
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