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Im Jahr 1996
durchbrach das Bayerische Fernsehen in einem geradezu revolutionären Akt
ein sich selbst auferlegtes Tabu - die bis dahin konsequent durchgehaltene
Nicht-Information der Bürger über tiefgreifende emotionale
Wirkungen, die vom Fernsehen selbst auf Zuschauer - und insbesondere auf
die Kinder unter ihnen - ausgehen können. "Rettet unsere Kinder! - Die
visuelle Gewalt und ihre Folgen" hieß die Sendung des renommierten
Dokumentarfilmers Bernd Dost. Der Film war ein einmaliger Glücksfall für
die Zuschauer (und vor allem für die ihnen anvertrauten Kinder) - für
Eltern, Großeltern, Kindergärtnerinnen, Lehrer und alle anderen, "die
Kinder liebhaben" (J. Spyri). Denn die Dokumentation ermöglichte ihnen erstmals die
erschütternde direkte Anschauung und Information über offen zutage
liegende schwerste seelische Verletzungen und massive Sprachstörungen bei Kindern,
die regelmäßig mit Horror und Gewalt im Fernsehen und in Videofilmen
konfrontiert worden waren.
Wir zitieren
nachfolgend einige Ausschnitte aus diesem Dokumentarfilm, dessen
Manuskript auch bei der TR-Verlagsunion erschien (Mitschnittdienst BR:
01805300430, nähere Informationen auch unter
info@vedra.com) Weitere sehenswerte
Dokumentarfilme (ARD) von Bernd Dost: TATORT KIND und FLUCHT IN DIE
WERBEPARADIESE.
Anlaß und
"Rechtfertigungsgrund" der öffentlichen Präsentation des Films
Rettet unsere Kinder! war der
"Fall Christian", in dem ein Vierzehnjähriger in einem kleinen Ort bei
Passau mit der Axt auf seine zehnjährige Cousine und ihre Großmutter
einschlug und die Cousine lebensgefährlich verletzte. Die
Staatsanwaltschaft beim Landgericht Passau klagt ihn an, in zwei Fällen
unmittelbar dazu angesezt zu haben, einen Menschen zu töten, ohne Mörder
zu sein, strafbar als versuchter Totschlag in zwei Fällen. Spektakulär ist
dann
das Urteil im Strafprozeß: Zum ersten Mal wertet ein deutsches Gericht den
Einfluß von Horrorvideos - von visueller Gewalt also - als strafmildernd.
Drei Monate später klagt die Staatsanwaltschaft Passau die Eltern und den
Onkel Christians wegen "fahrlässiger Körperverletzung in zwei Fällen" an,
den Onkel zudem wegen Überlassung "jugendgefährdender Schriften" - also
Videos - an Christian und will so ein "einzigartiges Signal" gegen den
leichtfertigen Umgang mit Horrorfilmen setzen.
Die Horrorwelt
mörderischer Bilder
wird für Kinder zur wirklichen Welt
Christian galt in seiner Umgebung als
hilfsbereiter, sportbegeisterter Junge. Aber, so sein Rechtsanwalt Dr.
Edgar Weiler,
"Ich habe gesagt, daß mit dem Christian seit dem zehnten Lebensjahr
etwas passiert ist, was nie hätte passieren dürfen. Er erlangte Zutritt zu
einer Scheinwelt schlimmster Art, bei Verwandten Zutritt zu
Horrormaterial, das von der Freiwilligen Selbstkontrolle der
Filmwirtschaft erst ab 18 Jahren freigegeben ist und auf dem Index der
Prüfstelle für jugendgefährdende Schriften steht, also niemals an Kinder
und Jugendliche gelangen darf. Viele Filme waren zudem auch noch
beschlagnahmt. Beschlagnahmt heißt, daß sie noch nicht einmal Erwachsenen
gegeben werden dürfen.
Allerdings ist es sehr häufig, daß Jugendliche solche Filme
in Deutschland zu sehen bekommen. Die bekommen sie im Grunde auf jedem
Schulhof, weil die Eltern nicht mehr aufpassen.
Und die Beweisaufnahme im Prozeß hat ergeben, daß der Christian spätestens
seit dem zehnten Lebensjahr auffällig geworden ist durch
Unkonzentriertheit, Angespanntsein und dergleichen durch Nachspielen von
Filminhalten. Christian hat von den etwa 3000 Filmen, die auf dem Index
stehen und den 100 bis 200, die beschlagnahmt sind, etwa 100 Stück
auswendig gekannt, fast täglich einen von der Sorte angeguckt, teilweise
auch mehrfach ...
Christian
befand sich vor der Tat in einem Gefühlszustand in einer Mischung aus
innerer Unruhe, resultierend aus der Vorahnung, daß heute etwas ganz
Besonderes passieren würde, an diesem Samstagabend, und in einer
offensichtlich bis dahin noch nicht erreichten Stufe der Begeisterung für
Jason aus "Freitag, der 13.", sein Vorbild, das er sich über Jahre
ausgesucht hatte. Dabei hat verstärkend mitgewirkt, daß Christian sich zum
ersten Mal von Kopf bis Fuß bewaffnet in einem Spiegel gesehen hat - als
Jason.
Vor der
Zimmertür, bevor er reinging in die Wohnstube, wo die beiden Opfer saßen,
zögerte er noch. 'Eigentlich', sagte er, 'wollte ich den Kopf nur ins
Zimmer reinstecken, in diesem Moment wußte ich noch nicht, daß ich
zuschlagen würde', so hat er es berichtet. 'Dieses Gefühl', so sagte er
weiter, 'ist erst gekommen, als ich in den Raum hineingegangen bin. Es
war nicht das Gefühl, daß ich es tun will, sondern daß ich es nicht
mehr verhindern kann.'"
Die Horrorwelt
mörderischer Bilder wird für die Kinder zur wirklichen Welt (und wir
erkennen hier unmittelbar auch die Macht von "Idolen"
über Jugendliche: im - dem
Jugendlichen selbst tief unbewußten - Prozeß der
Identifikation ...Anm. d. Verf.)
Interview mit
Kindern einer Computer-Spielgruppe:
Frage: "Ihr habt
vielleicht gelesen, daß ein Junge den Jason mit der Axt nachgemacht hat.
Wie kann so etwas passieren?"
1. Junge: "vielleicht durch Computerspiele ..."
2. Junge: "Der war da im Kino oder in so'n Ding, wo's ganz brutal
ist mit Köpfen und Messern in den Hals rein. Dann will man das auch
ausprobieren, und dann tut man mit einem Mal so draufschlagen."
Frage: "Dann kann er eigentlich nichts dafür?"
2. Junge: "Nein. Der guckt so Scheißfilme an, und das ist halt im
Kopf drin, daß man das nachmachen will ..."
Am Beispiel von
Killer-Computerspielen erklärt Prof. Dr. Karl-Heinz Menzen, Dekan
des Fachbereichs Heipädagogik der Freiburger Kath. Fachhochschule für
Sozialwesen und Pflege, die Faszination durch Verschmelzung von
Angst und Lust im aktiven oder passiven Umgang mit visueller
Gewalt:
Prof. Menzen:
"Wenn ich spiele, sitze ich an meiner Tastatur. Dann kommen die Szenen
aus dem Spiel. Ich werde durch das Labyrinth geführt - vielleicht über die
Zeitschrift, die ich gleich mitbeziehe - daß es da an die 150 Feinde gibt,
die ich umnieten muß, hinter der nächsten Ecke steht einer. Ich muß
ständig aufpassen, daß ich nicht selbst umgelegt werde. Und am Schluß
heißt es vielleicht dann: Gesundheitszustand gleich Null, das muß ich
verhindern. Also marschier ich los, in einem ständigen Spannungszustand:
Der erste wird umgelegt, der zweite, der dritte wird umgelegt. Ich geh' da
durch, ich fange an zu schwitzen ... Meine Frau ruft, komm endlich zum
Abendessen, ich kann's nicht. Ich schwitze weiter, ich muß ja die nächsten
umbringen. Ich kann nicht mehr zurück. Ich habe mich verwundbar gemacht am
Anfang des Spiels - da konnte ich noch frei entscheiden. Jetzt marschiere
ich weiter und lege um und lege um und lege um. Wenn ich dann später am
Autosteuer sitze, merke ich, daß ich versuche, auch die anderen mental
umzulegen. Weiterkommen, weiterkommen, weiterkommen - wie in Film. Es
bildet sich im Leben etwas ab."
Frage: "Ist
es Angst oder Lust oder beides?"
Prof. Menzen:
"Es ist beides. Der Psychoanalytiker Balint hat gesagt: Es ist
AngstLust. Denn es macht Lust, dabei zu sein. Macht Lust, eine bestimmte
Leistung, ein bestimmtes Level, eine bestimmte Punktzahl zu erreichen. Und
es macht Angst, weil ich in jedem Augenblick kippen kann. Und diese Form
von Erregung, diese Form von Lust, die in Unlust umschlägt, ist genau
dieselbe Situation, die das Kind in der Familie, in der Schule, im Beruf
erfahren hat, aber nie richtig zu Ende gebracht hat."
Francisco de Goya: Bobalicon
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Goyas Visionen enthüllen
den Konflikt der menschlichen Vernunft, die aller ihr begegnenden
Brutalität, den Lastern, Leidenschaften und Lügen sowie sozialen
Ungerechtigkeiten ebenso ohnmächtig ausgeliefert ist wie den
Ängsten vor nicht meßbaren Gewalten. Dieser riesenhafte, Castagnetten
schlagende Tölpel erschreckt mit seinem plötzlichen nächtlichen Auftauchen
die Menschen. |
(Aus einer Einführung von Walter Koschatzky)
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Ramstein 1988:
Schwere seelische Verletzungen bei Kindern
sowohl durch wirkliche Katastrophen
als auch durch Horrorszenarios auf dem Bildschirm |
Auszug aus einem Interview mit
Dr. Hartmut Jatzko, Arzt für Psychosomatische Medizin,
Katastrophen-Nachsorge am Klinikum Kaiserlautern (Mitautor des Buches
Das durchstoßene Herz. Ramstein 1988, Beispiel einer
Katastrophennachsorge. Edewecht 1995.):
Frage: "Herr
Dr. Jatzko, Sie kommen von einer ganz anderen Seite an dieses Thema
(Wirkungen visueller Gewalt) heran - und zwar von der wirklichen Welt, den
wirklichen Geschehnissen, von wirklichen Unglücken. Welche Brücke schlagen
Sie zu den Kindern, zum Fernsehen und zu den Folgen?"
Dr. Jatzko:
"Ja. Wir haben nicht nur Erfahrungen mit erwachsenen Menschen, die
verletzende Ereignisse nicht nur körperlicher, sondern auch seelischer Art
erfuhren, sondern auch mit Kindern.
Ob das jetzt Verkehrsunfälle, also alltägliche Ereignisse sind, so sind es
auch Katastrophen, die wir in der Nachsorge betreuen durften und wo wir in
den letzten Jahren eine Reihe von Erfahrungen gemacht haben, daß auch
durch dieses Katastrophenerleben Erwachsene wie Kinder nicht nur Narben
des Körpers, sondern auch Narben der Seele bekommen, die lebenslange
Auswirkungen haben können."
Der "Höhepunkt"
des Flugtages 1988 in Ramstein. In wenigen Minuten werden 70 Menschen
sterben. Dr. Jatzko hat mit einer Nachsorgegruppe die Überlebenden
betreut.
Alpträume und
Ängste durch visuelle Gewalt - verstörte und verletzte Kinder:
Dr. Jatzko:
"Kinder fallen in einer Situation, die man ihnen anbietet, zum Beispiel im
Film, in eine Schein-Wirklichkeit hinein. Sie verlassen die
Realität und bekommen dadurch genau so traumatische Verletzungen - Narben
der Seele - als wenn sie es wirklich in der Natur erlebt hätten."
Damit wird die
grundlegende Erkenntnis
Jean Piagets
- des großen Pioniers der ausschließlich mit intellektuellen
Reifungsprozessen befaßten Sparte der Entwicklungspsychologie -
eindrucksvoll bestätigt, daß Kinder bis zum Beginn der Pubertät
Wirklichkeit und Phantasiewelt (hier: die kaufsködernden "Phantasien" der
"Macher") nicht klar voneinander unterscheiden können.
Besuch der Klinik für
Kommunikationsstörungen der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz. In
einem Therapieraum sitzt eine Gruppe lächelnder und sensibel wirkender
Kinder im Kreis mit zwei Therapeutinnen:
Alarmierende Zunahme von
Sprachentwicklungsstörungen
bei dreieinhalb- bis vierjährigen Kindern
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Therapeutin: "Wer hat
etwas zu meckern? Patrick, Pascal, Frank, Francesco, Tanja ...?"
Frage:"Da wir ja vom Fernsehen sind, hab ich natürlich die Frage,
schaut ihr eigentlich gerne Fernsehen?"
Alle Kinder begeistert: "Jaaa!"
Frage: "Schaut ihr oft Fernsehen?"
Alle Kinder: "Jaaa!"
Therapeutin: "Wer was sagen will, was er im Fernsehen guckt, der
kann sich melden."
Kinder: "Bauer-Reindjers" (Power-Rangers) - "Monster-Angst haben."
- "Mänia" (Tazmania).
Therapeutin: "Hast du einen eigenen Fernseher?"
Francesco: "Ja, im Zimmer."
Therapeutin: "Hast du viele Videos?"
1. Junge: "Ja."
Therapeutin: "Und kannst du abends so lange gucken wie du
möchtest?"
2. Junge: "Ja."
Francesco: "Meine Mutter sagt nie nein."
1. Mädchen: "Wätmän." (Batman)
3. Junge: "Wieär" (VR Troopers)
4. Junge: "Wieär Huper!"
Therapeutin: "Schau, ich
habe hier eine Bildergeschichte, und Du sollst mal erzählen, was Du da
alles siehst."
Kind: "Die Wau gocht ..."
Therapeutin: "Die Frau kocht ..."
Prof. Dr.
Manfred Heinemann, Klinik für Kommunikationsstörungen:"Wir haben hier
in der Klinik gesehen, daß die Zahl der Kinder mit
Sprachentwicklungsstörungen enorm zunimmt und wir vor allen Dingen
sehr schwere Sprachentwicklungsstörungen sehen. Unter diesem Aspekt
hatten wir uns vorgenommen, ein screening-Verfahren zu entwickeln, das zu
den Vorsorgeuntersuchungen der Kinderärzte passen sollte. Es wurde deshalb
für die Altersgruppe der dreieinhalb- bis vierjährigen Kinder
konzipiert.
Wir haben ganz erschreckende Ergebnisse bekommen. Wir haben drei
Untersuchungen durchgeführt und zwar in den Jahren 1988 bis 1992 schon.
Wir haben in unterschiedlichen Kindergärten im Landkreis Mainz/Bingen 18
Prozent der Kinder mit Sprachentwicklungsstörungen gesehen. Bei zwei
Untersuchungen in Mainz waren es 22 Prozent, und, ganz erschreckend bei
der letzten Untersuchung, 25 Prozent dieser Altersgruppe,
die Sprachentwicklungsstörungen haben. Dagegen gab es 1976 bis 1977
vier Prozent Sprachentwicklungsstörungen."
Die Folge ist,
daß die Sprachheilschulen eine dramatische Zunahme der Anmeldungen
sprachgestörter Kinder erleben.
Prof.
Heinemann: "Wir müssen zwei Gruppen von Kindern unterscheiden: Die
einen, das sind Kinder, die ganz eindeutig organische Störungen
haben, z.B. Hörstörungen, geistige Entwicklungsstörungen, Sehstörungen,
Lippen-Kiefer-Gaumenspalten ... Diese medizinischen Ursachen haben jedoch
nicht oder nicht wesentlich zugenommen - somit kann dies die Zunahme
der Sprachentwicklungsstörungen nicht erklären.
... Wir müssen uns
dann natürlich fragen, ob wir ein Einschulunsalter von sechs Jahren
aufrechterhalten können, oder müssen wir die Kinder später einschulen?
Aber ganz wichtig ist, was mir viele Grundschullehrer sagen, daß sie heute
zu Beginn des 1. Schuljahres und auch im weiteren Verlauf nicht mehr so
schnell im Stoff vorwärts gehen können, wie das früher der Fall war. Sie
haben also ganz erheblich mit diesen Sprachentwicklungsstörungen zu
kämpfen."
Dr. Jatzko:
"Es gibt einige Beispiele schon im Kindergarten, ich meine, wir haben das
selbst als Kinder erlebt, wir als etwas reifere Generation, daß es auch da
Gewalt gegeben hat. Aber heute, diese Brutalität, dieses
Nicht-Einschätzen-Können der eigenen Kraft von Kindern, das ist deutlich
im Zunehmen. Wir haben eine zunehmende Zahl von Verletzungen von
Kindern durch Kinder. Nehmen wir mal die Filme, wo jemand dem
anderen einfach auf den Schädel schlägt: Der schüttelt sich und läuft
weiter. Was haben wir in unseren Ambulanzen? Es kommen schon Kinder
mit Hirnblutungen, sind lebenslänglich behindert. Ich glaube, daß diese
Bagatellisierung, diese Verharmlosung der Kraft, die durch menschliche
Gewalt, durch Machtmißbrauch geschieht, daß dies Schäden verursacht, die
bis zur schwersten körperlichen Verletzung und Behinderung gehen können."
Noch einmal Dr. Jatzko:
"Ich erlebe das, besonders aus Berichten der Eltern, daß die Kinder nachts
in Alpträumen diese (filmischen Gewalt-)Szenen wiedererleben, die sie als
Trauma oder als Verletzung in einem solchen Film mitbekommen haben.
Eltern, die mir das erzählen, sind oft gegen Gewaltdarstellungen, lassen
die Kinder nicht an diese Filme kommen. Doch die Kinder sehen diese Filme
bei Freunden und Bekannten. Die Eltern erfahren von den nächtlichen
Alpträumen und merken plötzlich, daß hier schwere seelische Verletzungen
den Kindern passieren."
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Interview mit dem
Leiter des
Sprachheilzentrums Meisenheim
Reinhold Marx: "Wir
beobachten eine extreme Zunahme von Sprachentwicklungsstörungen in den
letzten sieben, acht Jahren. Konkret für unser Haus, das Sprachheilzentrum
Meisenheim, heißt dies, daß wir über 100 Kinder auf der Warteliste haben,
die unter extremen Störungen leiden und die bereits erfolglos behandelt
worden sind. Sprechen lernt man nur durch Sprechen, d.h. ich
brauche einen Dialogpartner, der sich mit mir unterhält und an dem
ich mich orientieren kann. Da kommen in den letzten Jahren vermehrt die
negativen Einflüsse der Medien zum Ausdruck, d.h. die Kinder werden mehr
und mehr zu Empfängern, werden vor den Fernseher, den Computer
abgeschoben - eine Kommunikation findet nicht mehr statt. In der
Therapie müssen wir zunächst eine emotionale Wärme gegenüber den
Kindern erzeugen. Sie müssen merken, daß Sprache, daß Sprechen
Freude macht."
Der durch visuelle
Gewalt
entstehende Stress
Prof. Menzen:"Stress biochemisch
psychisch-physisch bedeutet, daß meine Sinne überfordert werden. Ich kann
diese Reize, die so schnell geschnitten sind, nicht mehr auseinanderhalten.
Meine Motorik wird völlig ausgerichtet auf die Mattscheibe des Computers,
der Konsole beim Spiel oder des Fernsehers beim Video oder Fernsehen.
Motorische Ausrichtung heißt, daß meine Skelett-Muskulatur, meine
Körperbewegungen diffus werden. Ich möchte sie abreagieren, kann es aber
nicht, weil ich gehalten werde, meine Augen fixiert werden. Kinder werden
in der Augenleistung überfordert, sie fangen an zu stottern. Verringertes
Sprachvermögen, eingeschränkte Grammatik, eingeschränkte Aussprache,
Reduzierung des Sprachgedächtnisses ..."
Prof. Heinemann: "Es gibt im wesentlichen
vier Hauptebenen: Das ist das Sprachverständnis, dann vor allen Dingen der
Wortschatz, die grammatikalischen Strukturen und die
Artikulation. Bei
unseren Untersuchungen nennen wir sprachgestörte Kinder nur diejenigen,
die Auffälligkeiten in mindestens drei Bereichen aufweisen.
Wir müssen zwei Gruppen von Kindern unterscheiden: Die einen, das sind
Kinder, die ganz eindeutig organische Störungen haben, z.B. Hörstörungen,
geistige Entwicklungsstörungen, Sehstörungen, Lippen-Kiefer-Gaumenspalten
... Diese medizinischen Ursachen haben jedoch nicht oder nicht wesentlich
zugenommen - somit kann dies die Zunahme von Sprachentwicklungsstörungen
nicht erklären.
Es sind bei der anderen
Gruppe von Kindern sicherlich Faktoren im sozio-kulturellen Bereich, die
für die zunehmenden Sprachentwicklungsstörungen verantwortlich sind:
Verstädterung, weniger Spielmöglichkeiten, weniger Kreativität, reduzierte
motorische Entwicklungsmöglichkeit, viele alleinerziehende Elternteile,
die unter erheblichen Belastungen stehen, Medienmächte, sprich Fernsehen.
Es ist bestimmt nicht nur
das Fernsehen, aber man kann es auf den Punkt bringen: In der Familie wird
heute weniger gesprochen als früher."
Wie erkenne ich, ob mein Kind
in seiner Sprachentwicklung gestört ist?
Prof. Heinemann: "Mit einem Jahr beginnt
ein Kindnnormalerweise die ersten Wörter zu sprechen. Meistens ist es Mama
oder Papa oder auch Auto.
Mit Dreijährigen kann man sich schon völlig normal kindgerecht
unterhalten. Die Kinder haben einen Wortschatz von 800 bis 1000 Wörtern.
Sie beginnen Nebensatzkonstruktionen zu benutzen und drücken sich
grundsätzlich einwandfrei aus.
Ich gebe folgende Ratschläge: Wenn bei den Eltern der Verdacht aufkommt,
daß die Sprachentwicklung nicht normal ist, dann sollten sie einen Arzt
aufsuchen, der die Sprachentwicklung beurteilt bzw. einen screening-Test
macht. Wichtig ist auch, daß Hörstörungen sehr früh erfaßt werden
müssen. Da liegt in Deutschland noch sehr viel im argen. Kinder mit
Hörstörungen müssen schon vom sechsten Monat an ärztlich versorgt werden."
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Ergänzend hierzu das
Ergebnis der Forschungen der britischen Sprachforscherin Sally Ward bei
Kleinkindern: Kinder mit hohem TV-Konsum bleiben in ihrer
Sprachentwicklung bis zu einem Jahr hinter anderen Kindern zurück.
Resolution
Besorgniserregende Zunahme
von
Sprachentwicklungsstörungen bei Kindern
erfordert rasches Handeln
Ärzte, Pädagogen und Erzieher
beobachten seit einigen Jahren eine erhebliche Zunahme von
Sprachentwicklungsstörungen bei Kindern.
Unter dem Oberbegriff
"Sprachentwicklungsstörung" - gleich dem häufig benutzten Begriff
"Sprachentwicklungsverzögerung" - wird eine zeitliche oder inhaltliche
Abweichung vom normalen Spracherwerb (Altersdurchschnitt) bei Kindern
zusammengefaßt.
Typische Symptome sind:
Verzögerter Sprechbeginn, eingeschränktes Sprachverständnis, unzureichender
Wortschatz, gestörte Grammatik, undeutliche bis unverständliche Aussprache und
eingeschränkte Kommunikationsfähigkeiten.
Werden diese Störungen nicht in
der sensiblen Altersphase vom zweiten bis dritten Lebensjahr erfaßt, beeinflußt
und ggf. behandelt, so drohen später vor allem Rückstände in der intellektuellen
und psychosozialen Entwicklung, z.B. Verhaltensstörungen,
Lese-Rechtschreib-Schwäche, Redeflußstörungen (Stottern, Poltern) oder
Sprachverweigerung (Mutismus).
1982 lag der
Anteil sprachentwicklungsgestörter dreijähriger Kinder in umfangreichen
epidemiologischen Reiehnuntersuchungen noch bei etwa vier Prozent.
Querschnittsuntersuchungen der Universitätsklinik für Kommunikationsstörungen
Mainz und der Logopäden-Lehranstalt Mainz erbrachten zwischen 1988 und
1992 in verschiedenen Kindergärten der Stadt Mainz und des Landkreises
Mainz-Bingen eindeutige Sprachentwicklungsstörungen bei etwa 25 Prozent
aller dreieinhalb- bis vierjährigen deutschsprachigen Kinder. Die Hälfte dieser
Kinder war sogar mittel- bis hochgradig betroffen, so daß sofortige
Sprachbehandlungen angezeigt waren.
Eine gravierende Zunahme
sprachauffälliger Kinder führte zum Beispiel auch zu einem enormen Anstieg der
Schüler an Schulen für Sprachbehinderte in Nordrhein-Westfalen von 4665
im Jahre 1986 auf 7381 im Jahre 1993; dabei weisen
erfahrungsgemäß etwa 80 Prozent dieser Schüler eine Sprachentwicklungsstörung
auf.
Diese Daten lassen keinen Zweifel
an einer erheblichen Zunahme der Kinder mit Sprachentwicklungsstörungen
innerhalb des letzten Jahrzehnts.
Der interdisziplinär mit Experten
der Medizin, Sonderpädagogik, Logopädie und Krankenkassenvertretern besetzte
Arbeitsausschuß "Hör- Stimm- und Sprachschäden" der Deutschen Vereinigung für
die Rehabilitation Behinderter (Leiter: Prof. Dr. M. Heinemann, Mainz) macht für
diese Zunahme nicht organische Ursachen, sondern in erster Linie eine
unzureichende sprachliche Anregung bei verändertem Kommunikationsverhalten in
der Familie verantwortlich: zum Beispiel mehrstündiges Fernsehen, das, neben
einer Reizüberflutung, vor allem das natürliche kommunikative Umfeld
verschlechtert, die Integration von Sinneswahrnehmungen (Sehen, Hören, Fühlen)
erschwert und dadurch die gesamte sprachlich-geistig-seelische Entwicklung des
Kindes beeinträchtigt.
Weitere Faktoren können
Veränderungen des sozialen und familiären Umfeldes sein, wie Berufstätigkeit
beider Elternteile, Scheidungskinder, aktive Gewaltbereitschaft in
Gruppensituationen u.ä. Wichtig ist auch das häufigere Auftreten von
Schalleitungsschwerhörigkeiten durch Tuben-Mittelohrkatarrhe und
Paukenhöhlenergüsse.
Die Deutsche Vereinigung für die
Rehabilitation Behinderter macht sich die Forderung ihres Arbeitsausschusses zu
eigen, angesichts der dramatischen Zunahme von Kindern mit
Sprachentwicklungsstörungen rasch und gezielt zu handeln.
Insbesondere ist es erforderlich,
bei allen Kindern bereits im zweiten bis dritten Lebensjahr auf
Sprachentwicklungsstörungen zu achten, um die nötige Förderung rechtzeitig
einleiten zu können.
Nur so können sich die
Kommunikationsfähigkeit des Kindes und damit seine geistig-seelischen
Fähigkeiten sowie seine Sozialisation möglichst normal entwickeln.
Ist eine Sprachentwicklungsstörung
erfaßt, so reichen in vielen Fällen schon intensive Elternberatungen
und eine gezielte häusliche Sprachförderung aus, um eine bleibende
Sprachentwicklungsstörung zu verhindern.
Es liegt vor allem im
Verantwortungsbereich der Eltern und der zuständigen Kinderärzte
sowie Erzieherinnen, auf erste Symptome zu achten und dann sogleich
spezielle Untersuchungen zur Frage der Förderungs- bzw. Behandlungsbedürftigkeit
zu veranlassen.
Weitere Auskünfte erhalten Sie
über die Geschäftsstelle der Deutschen Vereinigung für die Rehalbilitation
Behinderter e.V., Friedrich-Ebert-Anlage 9, 69117 Heidelberg (Tel.: 06221/25485,
Fax:06221/166009).
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Was
daraus folgt
Die hier wiedergegebene Resolution
wurde 1996 in dem Manuskript zum Film "Rettet unsere Kinder!" veröffentlicht. In
den Untersuchungsergebnissen, die sie zitiert, wird ein alarmierender
"Quantensprung" deutlich sichtbar: 1982 liegt der Anteil
sprachentwicklungsgestörter dreijähriger Kinder bei vier Prozent, 1992
ist er bereits auf 25 Prozent gestiegen. Dies ist das Jahrzehnt, in
dem die (westdeutsche) "Medienlandschaft" von Grund auf umstrukturiert wurde -
gipfelnd 1987 in der Einführung der "dualen" Rundfunkordnung, also
der Etablierung des "reinen" Werbe-Quoten-Kommerzfernsehens (zusätzlich zum
öffentlichen Fernsehen), dessen einziger Daseinszweck
bekanntlich die tägliche Langzeit-Fesselung möglichst vieler Zuschauer ist -
einschließlich der Kleinsten unter ihnen, gleich mit welchen Mitteln, gleich um
welchen Preis.
Der Dokumentarfilm "Rettet
unsere Kinder!" wurde vor nunmehr acht Jahren den Bürgern zugänglich gemacht. Seither ist vonseiten des
öffentlich-rechtlichen Fernsehens (ARD und ZDF) so gut wie nichts
geschehen, um mehr Medienwirkungs-Transparenz für die Gesamtgesellschaft
zu schaffen: ihr die Medienwirkungs-Informationen zu vermitteln,
deren allgemeine Kenntnis für die Weiterentwicklung unserer Demokratie und
den Aufbau einer humanen Gesellschaft von allerhöchster Dringlichkeit ist.
Angesichts zunehmend ungehemmter Mordlust, Brutalität und Tötungswut auf der ganzen
Welt ist jedoch das
folgenschwere Schweigen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens nicht länger hinzunehmen.
Die Quoten-fixierten Verantwortlichen in den öffentlich-rechtlichen
Fernsehsendern fürchten, daß Zuschauer ihnen in Scharen abtrünnig werden
könnten, wenn sie endlich rückhaltslos informiert werden über tiefgehende
unterschwellige Wirkungen, die vom Fernsehen selbst auf die Zuschauer
ausgehen können. Dies aber ist eine sehr ängstliche und unwürdige, wenn
nicht menschenverachtende Einstellung gegenüber den Bürgerinnen und
Bürgern unserer Zivilgesellschaft im angehenden 21. Jahrhundert!
Die
Fernseh-Verantwortlichen sollten vielmehr endlich verstehen lernen, daß
sie sich keineswegs "den eigenen Ast absägen" werden, wenn sie uns die Medien-Basisinformationen an die Hand geben, um die es geht. Denn wir
- Medien und Gesellschaft - werden entweder
eine humane Gesellschaft miteinander aufbauen - oder es wird schon
bald keine
Humanität mehr geben. Und in einer dann endgültig inhumanen Welt wird
niemand mehr ein menschenwürdiges und zufriedenes Leben führen können -
weder die sogenannten breiten Schichten, die heute noch auf höchst
fahrlässige und unverantwortliche Weise in Unwissenheit gehalten werden
über mediale Wirkungsprozesse, die ihr Zusammenleben tief tangieren
- noch diejenigen, die jetzt noch sich ängstlich an ihr
"Herrschaftswissen" anzuklammern scheinen wie an einen porösen
Rettungsring auf immer
stürmischer werdender dunkler See.
* * * *
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Siehe auch
Münchner Abendzeitung vom 17./18. April 2004:
"Mehr Gewalt bei Kindern: Dramatische Entwicklung - der Polizeipräsident
schlägt Alarm"
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