Bücher:
Klassiker & Neuerscheinungen
OLIVER LUBRICH Reisen
ins Reich Ausländische Autoren berichten
Taschenbuchausgabe btb
August 2009
Manche Besucher waren anfangs von dessen
Dynamik fasziniert. Einige blieben bis zum Ende Sympathisanten des Regimes.
Andere schildern den Prozeß ihrer allmählichen Desillusionierung. Dagegen
legten die kühleren Köpfe von Anfang an eine Hellsicht an den Tag, die
beeindruckend ist. (So sah der schwedische Dichter Gunnar Ekelöf schon kurz
nach der "Machtergreifung" den Zivilisationsbruch voraus, und die
Amerikanerin Martha Dodd kam bereits 1938 zu |
Die Liste der Zeugen ist eindrucksvoll: Samuel Beckett, Jean Genet, Max Frisch, Jean-Paul Sartre, Karen Blixen, Thomas Wolfe, Georges Simenon, Virginia Woolf und Albert Camus erlebten das nationalsozialistische Deutschland. Aber nicht weniger aufschlußreich sind die Beobachtungen von Vergessenen, von Unbekannten und von Exoten wie Meinrad Inglin, József Nyírö oder Shi Min. Es ist ein höchst widersprüchliches Bild, das diese bisher kaum genutzten Quellen zeichnen. Nicht die politische Analyse steht dabei im Vordergrund, sondern die unmittelbare Alltagserfahrung. Viele Texte erscheinen hier zum ersten Mal in deutscher Sprache. Aus
Oliver Lubrichs
Einleitungstexten: Aus Georges Simenons Artikel Hitler im Fahrstuhl, den er im März 1933 für die Zeitschrift Voilà schrieb: "Ich habe ihn gesehen, den Messias, zehn Tage vor den Wahlen, als er gerade in seine Suite im Kaiserhof zurückkehrte. Ich wohnte im selben Hotel, hundert Meter von Hindenburgs Haus entfernt. Es schneite. Das Wetter war trüb. In allen ausländischen Zeitungen las man Reportagen mit der Überschrift "Elend in Deutschland". Und tatsächlich bat alle hundert Meter ein sehr gut gekleideter, sehr diskreter Mann um eine Mark, oder auch um mehr oder um weniger, wobei er den Hut zog. Irgendwo begegnete ich einem Leichenwagen,
dem Tausende von Männern in braunen Hemden folgten. Und hier und da stand
ein Polizeiauto, Maschinenpistolen im Anschlag. Es handelte sich um die
Beerdigung eines von den Kommunisten getöteten Hitleranhängers. In der
seriösesten Pariser Zeitung las ich am nächsten Tag: 'Terror in
Deutschland'. Denn hier und da gab es noch einige weitere
Tote! Sonderberichterstatter schrieben allen Ernstes: 'Ausgeschlossen, daß
die Partei der Gewalt siegt!' Nicht jedoch die Deutschen! Sie gingen an
dem Leichenzug vorbei, ohne ihn überhaupt anzuschauen. Und wenn sie lasen,
daß tags zuvor fünf Kommunisten und drei Nazis getötet worden waren,
wunderte sie das nicht mehr, als wenn wir, täglich, von zwanzig tödlichen
Autounfällen erfahren. Und die ausländischen Journalisten kabelten: 'Rückkehr zur Monarchie ...' Hitler machte einen kleinen Abstecher nach München, und man druckte: 'Verhandlungen mit den Wittelsbachern ... Es liegt Streit in der Luft . Bayern stellt sich gegen den Führer ...' Derlei Dinge las ich in den ausländischen Zeitungen, doch im Kaiserhof, in Berlin, war niemand erregt, weder besorgt noch erstaunt. Eines Abends wurde ein großer Rat einberufen, und man beschloß, daß es eines Vorwands bedurfte, um vor den Wahlen den Kommunisten das Maul zu stopfen. Hitler machte den Vorschlag, ein Attentat gegen ihn zu inszenieren, um seine Truppen aufzupeitschen. Goebbels, gelassener, riet ihm davon ab, denn ein falsches Attentat könnte bestimmte Leute auf den Gedanken bringen, ein echtes zu verüben. Also verfiel man auf den Reichstag. Es war
eine Woche vor den Wahlen, ein Samstag. Ich habe die Nachricht nach Paris,
an die Abendzeitung telegraphiert. Man wagte nicht, sie zu veröffentlichen. Am
Mittwoch abend brannte der Reichstag, und kein Deutscher legte das geringste
Erstaunen an den Tag! Unglaublich! Und können Sie sich die Naivität der
Auslandskorrespondenten vorstellen, die ellenlange Artikel schreiben, um die
'Wahrheit' herauszufinden? - Er ist der Mann Papens! - Er ist der Mann des Kronprinzen! - Er ist der Mann Hugenbergs! - Er ist ein Strohmann! - Er ist der neue Siegfried ..."
Aus Oliver Lubrichs einleitendem Text zu Karen Blixens Reisebericht Halbmond und Hakenkreuz: "Um für die Kopenhagener Zeitung Politiken eine Serie von Reportagen aus den Hauptstädten der drei kriegführenden Länder Deutschland, Frankreich und England zu schreiben, flog die dänische Schriftstellerin Karen Blixen am 1. März 1940 nach Deutschland. Wenige Tage nach ihrer Abreise aus Berlin am 2. April besetzten deutsche Truppen ihr Heimatland (9. April 1940) ... Überhaupt ist Blixens deutscher Reisebericht voller überraschender Assoziationen: ... Hitlers Untertanen verhalten sich wie Tiefseefische - die nur lebensfähig sind, wenn sie einen ungeheuren Druck verspüren ..." Aus Karen Blixens Text: "In einem totalitären Staat muß sich wohl, neben dem eigentlichen Beamtenstande, eine Art politischer Geistlichkeit entwickeln, ein Stab von sozialen Seelsorgern. Die hochgestellten unter ihnen werden hier besoldet, die meisten verrichten aber ihren Dienst 'ehrenamtlich'. Sie haben eine Macht wie die katholische Kirche in ihrer großen Zeit. Das private geistige Wohlergehen des Volkes, insbesondere dessen Erziehung und Festhalten am rechten Glauben, ist zu einem großen Teil in ihre Hände gelegt, und sie fühlen sich dafür verantwortlich. Sie rekrutieren sich, glaube ich, namentlich aus dem, was wir die Mittelschicht nennen. Man kann sich on dieser sozalen Priesterschaft schlecht vorstellen, daß sie in größerem Maße als die katholische Priesterschaft hätte - das Privatleben anderer Menschen bildet ihren Lebensinhalt, dort mischen sie sich ein, um zu helfen, zu steuern, zurechtzuweisen und zu strafen. Es liegt in der Natur der Sache, daß ich nur über diese aktive 'Innere Mission' etwas erfahren kann. Ihre Männer und Frauen sehen sich alle ähnlich - der Glaube leuchtet ihnen aus den Gesichtern, sie sind unermüdlich, eifrig bis in den Tod. Ihre Seelen kennen keine Zweifel und kein Zaudern.- Was das große, passive Volk sagt - 'the people, whom things are done to' - das kann ich nicht wisen. Der 'Reichsfrauenbund' war die erste der großen freiwilligen sozialen Organisationen, die ich zu sehen bekam. Der Verband hat 14 Millionen Mitglieder, und über allen steht Frau Scholtz-Klink, die wiederum nur dem Führer selbst verantwortlich ist. Ich hatte die Ehre, Frau Scholz-Klink vorgestellt zu werden, einer geraden typisch deutschen Dame mit langen blonden Zöpfen, die zum Kranz aufgesteckt waren, und einem Paar sehr heller Augen. Die Aufgabe des Reichsfrauenbundes ist vor allem die Erziehung der deutschen Frauen, der alten wie der jungen. Er verzweigt sich nach demselben System wie die anderen großen Institutionen dieser Art in Gau, Kreis, Ort, Zelle und Block bis hinunter in das eigentliche Volk in die einzelnen Familien. Der Block, die kleinste Zelle im System, umfaßt dreißig bis vierzig Familien, die in Nachbarschaft zueinander wohnen - entweder in einem großen Häuserblock in der Stadt, in einem Villenviertel oder in einem Dorf. Für sein Wohl steht die Vertreterin des Frauenbundes, die Blockwartin, ein. Sie wartet nicht, bis die Bedürftigen ihre Hilfe suchen, sondern an ihr ist es, zu wissen, wo materielle oder geistige Not herrscht - um dann sofort helfend einzugreifen. Sie hält die Mütter zum Stillen ihrer Kinder an, sie beschafft den jungen Mädchen Stellen bei rechtgläubigen Hausfrauen, sie schickt schwächliche Kinder aufs Land und schwierige ins Kinderheim, sie ermahnt insbesondere die Frauen ihres Blocks dazu, 'gute Nachbarschaft' zu halten, so daß die eine sich der Angelegenheiten der anderen annimmt ..." |
|
Tolstois
Roman Anna
Karenina, erschienen 1878, zählt zu den größten Meisterwerken der
Weltliteratur. Wenn wir hier auf dieses berühmte Werk eigens hinweisen, dann deshalb, weil
es von so großer Darstellungskraft, feinster Seelenkenntnis und zugleich zeitloser Gültigkeit ist, daß es
unseres Erachtens als wahrhaftiger Spiegel auch unseres heutigen
individuellen und gesellschaftlichen Lebens gesehen werden kann - und als
machtvoller Gegenentwurf zu einigen aus Profitgründen brachial
durchgesetzten "Lebensidealen" unseres Zeitalters. |
Leo Nikolaevic Graf Tolstoi, geboren 1828 auf Gut Jasnaja Poljana, starb 1910 in Astapovo. Tolstoi stammt aus einem der alten russischen Adelshäuser. Nach dem Tod der Eltern lebte Tolstoi unter der Obhut einer Tante seit 1841 in Kazan. Er studierte dort von 1844 - 1847. Von 1847 bis 1851, dem Beginn seiner Militärdienstzeit, war Tolstoi mit der Verwaltung von Jasnaja Poljana beschäftigt. Während der Militärdienstzeit entstanden seine ersten schriftstellerischen Arbeiten. 1857 und 1860/61 unternahm Tolstoi zwei Auslandsreisen, die ihn mach Oberitalien, in die Schweiz, nach Frankreich, Belgien, England und Deutschland führten. 1862 heiratete Tolstoi Sofja Andreevna Bers, die Tochter eines Moskauer Arztes. Seit 1862 lebte er fast ununterbrochen auf seinem Gut. Hier widmete er sich neben seiner Arbeit als Schriftsteller vor allem praktisch-humanitären Aufgaben, z.B. der Einrichtung einer Grundschule. (Aus dem Einführungsstext der zweibändigen Insel -Taschenbuchausgabe der Anna Karenina von 1978)
Abilldungen: |
|
Zum ersten Mal
begegnen sich Federico Fellini und Georges Simenon 1960 anläßlich des
Filmfestivals in Cannes. Simenon ist Vorsitzender der Jury - und Fellini
Gewinner der Goldenen Palme für La dolce vita. Der Briefwechsel
zwischen dem Filmkünstler und dem Romancier beginnt aber erst 16 Jahre
später, als Fellini seinen Casanova dreht. Simenon ist hingerissen
von diesem Film. Zu der Bewunderung, die er schon immer für Fellini hegte,
kommt nun die Neugier dazu: Wer ist der Schöpfer eines solchen Werks?
Umgekehrt fragt sich Fellini: Wer ist der Mann, der ohne Unterlaß so viele
wunderbare Romane schreibt?
Man kennt Georges Simenon, den "wichtigsten Schriftsteller unseres Jahrhunderts" (Gabriel García Márquez); die letzten 30 Jahre seines Lebens verbringt er zurückgezogen in der französischen Schweiz. Man kennt auch Federico Fellini: den Kinoriesen, Schöpfer opulenter Filmwerke; ständig in Gesellschaft von Produzenten, Schauspielern, Autoren. Scheinbar so unterschiedlich, vereinte sie doch ein Gefühl für etwas, das sie beide als "das Schöpferische" bezeichnen. In den Briefen erzählen sie sich von Träumen und Alpträumen, Zweifeln und Hochgefühlen - intime Zeugnisse zweier großer Geister über das Leben und die Kunst. Diogenes Verlag Zürich 1997 - ISBN 3 257 06159 5 |
|
Simenon auf
der Couch - Fünf Ärzte verhören den Autor sieben Stunden lang Aus dem Vorwort der Ärzte: Spezialisten zögern nicht zu behaupten, Simenon sei in der Literatur ein einmaliges Phänomen und in erster Linie ein schöpferisches Genie. Die Ärzte haben Simenons Werk bewundert und waren dabei immer ganz besonders fasziniert von der Art, wie Maigrets geistiger Vater vorging, wie er systematisch die ursprünglichsten Sinneswahrnehmungen (Geruch, Geschmack usw.) beschrieb, wie er sich wie kein anderer in die Haut des andern - seine Figur - versetzen konnte. In den Maigret-Romanen entspringt Spannung nicht dem Geheimnis der Identität des Schuldigen, sondern dem psychologischen Prozeß, der zur Tat führt, dem Schritt zur Tat. Demzufolge ist Maigrets Vorgehen ein Bemühen um phänomenologisches Begreifen: vom bloßen Erfassen zum Verstehen und Mitfühlen - und später, zum Zeitpunkt des Gesprächs (Verhörs) oder der entscheidenden Begegnung kommt sogar ein psychotherapeutischer Aspekt hinzu, den man folgendermaßen umschreiben könnte: 'Ich kenne Sie ganz genau, Ihre Vergangenheit, Ihre Licht- und Schattenseiten, kurzum: die ganze Wahrheit über Sie! Ich weiß, was Sie getan haben, und ich verstehe Sie und mag Sie trotzdem: ich lehne Sie nicht ab, ich verurteile Sie nicht, ich nehme Sie so, wie Sie sind!' Kein Wunder, daß sich die Ärzte in Maigret wiedererkennen. Ärzte, die Simenons Werk schlecht kannten, waren über Die Glocken von Bicètre sehr erstaunt: Die Widmung des Buches lautet: 'Für alle Professoren, Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger, die in Krankenhäusern und anderswo um Verständnis und Hilfe bemüht sind für das Wesen, dem wir am hilflosesten gegenüberstehen: den kranken Menschen.' Durch eine halbseitige Lähmung zur Bewegungslosigkeit verurteilt, sieht die Hauptfigur des Romans nun die andern Menschen anders, als sie sich selbst sehen; er teilt ihre Probleme nicht mehr, sie sind für ihn erledigt. Der Gelähmte beobachtet seine Umwelt und stellt sich dabei Grundfragen, Fragen, die einen gesunden Menschen im täglichen Leben aus Zeitmangel nicht bewegen können; es sind Fragen, die ihn wie in einem Strudel in die allertiefsten Bezirke des menschlichen Wesens hinabdringen lassen, da wo der Mensch seine Identität verliert, weil hier alle Menschen wieder gleich sind. ... Aus dieser Situation erwächst das Bedürfnis, Bilanz zu ziehen, was es Simenon ermöglicht, ein ganzes Leben mit vielen Rückblicken auf einzelne Kindheitserinnerungen zu streifen. Anläßlich des 25. Jahrestages der Entstehung unserer Zeitschrift 'Médecine et Hygiène' dachten wir, daß es aufschlußreich sein könnte, einen Tag mit Simenon auf seinem Besitz in Epalinges oder Lausanne zu verbingen. Diese Begegnung fand in einer geradezu freundschaftlichen Atmosphäre statt; der außerordentliche Erfolg hat Simenon nicht zu einem gezierten, künstlichen Menschen umgekrempelt: Wir sind einem Mann begegnet, der einfach und zugänglich geblieben ist, der sich ununterbrochen Fragen stellt und der sich und sein Talent durchaus auch in Zweifel zieht. Trotz der weltweiten Rezeption seines Werkes hat Simenon immer das Bedürfnis, ermutigt zu werden, was ihn menschlich erscheinen läßt und ihn sehr empfänglich für die Probleme seiner Mitmenschen macht ...
|
Barbara Distler-Harth
Hugo
Distler
Brochiert.
Der Komponist Hugo Distler (1908-1942) schuf in den 1930er Jahren eine Fülle bewegender und geistvoller Chor- und Instrumentalmusik, darunter die Weihnachtsgeschichte op. 10 (1933) das Cembalokonzert op. 14 (1936) und das Mörike-Chorliederbuch op. 19 (1938/39). In Berlin setzte er im Alter von 34 Jahren seinem Leben ein Ende. Gestützt auf zahlreiche, bisher unveröffentlichter Briefe Hugo Distlers und auf viele weitere zeitgenössische Quellen, hat seine Tochter Barbara den Lebensweg ihres Vaters in diesem Buch nachgezeichnet. Mit einer Vorbemerkung von Karl Corino. |
"In dem Buch werden viele, oft unsachliche Äußerungen über Distlers angebliche Nähe zum Nazisystem widerlegt. Nicht allein sein künstlerisches Werk oder die enge Beziehung zur Bekennenden Kirche zeigen seine grundsätzliche Distance zur NS-Diktatur. Es liegen nun eindeutige Nachweise für seine oppositionelle Weltsicht vor. Darüber hinaus vermittelt die neue Biographie eine Fülle von Hinweisen und Hintergründen, die das Bild dieses wichtigen Komponisten des 20. Jahrhunderts begreifbarer und damit verständlicher machen." Deutschlandradio Kultur "Und noch
etwas wird in der anschaulich dokumentierten Biographie deutlich: Distler
konnte und wollte nur für seine Kunst leben; seine Getriebenheit, die Umzüge
von Lübeck nach Stuttgart und dann nach Berlin, gaben ihm kurzfristig die
Hoffnung, von der Politik unbehelligt zu bleiben. Den Wettlauf gegen die
verheerende Eskalation von Naziterror und Krieg hat er schließlich verloren.
Ein nachdenklich stimmendes Buch über einen der herausragendsten
Chorkomponisten des 20. Jahrhunderts." "Distler gehörte für mich, für uns
Nachgeborene zu jener verschollenen Generation von Künstlern, die Opfer des
Dritten Reichs geworden waren, sei es, dass sie, gleich Distler, Suizid
begangen hatten wie zum Beispiel Eugen Gottlob Winkler und Jochen Klepper,
dass sie im Zweiten Weltkrieg gefallen oder verschollen waren wie Wolfgang
Hoffmann-Zampis und Felix Hartlaub oder dass sie gar hingerichtet worden
waren wie Karlrobert Kreiten. Sie und die Umstände ihres kurzen Daseins galt
es nun wiederzuentdecken. Mir schien, in jedem dieser Fällle, in denen ein
Mensch damals im Dritten Reich durch eigenen Entschluß aus dem Leben schied,
lag ein Syndrom vor, in dem sich persönliche und politische Motive auf
letale Weise verbanden. Die tödliche 'Gemengelage' war natürlich jeweils
anders. Bei Hugo Distler war der ideologische Druck seit 1933 immens, und er
wurde mit der Fortdauer des Nationalsozialismus nicht geringer, aber
vielleicht war dieser Mensch überhaupt nicht wie andere auf der Welt zu
Hause, gehörte wie Kleist zu jenen, denen auf Erden "nicht zu helfen" war.
Schon lange vor seinem Tod gab es in Momenten des kurzen Glücks und des
schweren Verzichts bei ihm den Wunsch, dem Irdischen ganz zu entsagen und
ihm für immer Valet zu geben. Karl Corino
|
Karl Corino: Robert Musil Eine Biographie
Robert Musil. © Robert Musil Literatur-Museum Klagenfurt„Daß es erst 60 Jahre nach dem Tod des Autors zu einer ersten ausführlicheren Biographie kommt, hat verschiedene Gründe. Die Vernichtung seines bei der Emigration in Wien zurückgelassenen persönlichen Archivs, zahlloser Manuskripte, seiner Korrespondenz, seiner Foto-Sammlung, seiner Bibliothek, die Kompliziertheit seines Genfer Nachlasses, der Tod seiner Witwe Martha, bevor die Forschung einsetzte, die Versprengung seiner Freunde über ganz Europa und den amerikanischen Kontinent, die Unübersehbarkeit der heute Säle füllenden literaturwissenschaftlichen Abhandlungen sind ein Teil der Sachlage. Aber es gibt auch noch einen anderen Grund: daß Musil nach dem I. Weltkrieg mehr und mehr ein Autor ohne Biographie wurde, dass sein Leben nahezu ganz vom Werk aufgesogen wurde, dass ihm das ‚primitiv Epische’ abhanden kam. Dies erzwingt es, für die zweite Hälfte seines Lebens bisweilen von der schlichten Chronologie abzugehen und Sachzusammenhänge darzustellen.“ (Karl Corino)
Karl Corino: Robert Musil. Leben und Werk in Bildern und Texten. Rowohlt, Reinbek 1988 Karl Corino: Robert Musil, Thomas Mann. Ein Dialog. Klett-Cotta 1998 Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Zwei Bände, herausgegeben von Adolf Frisé, Rowohlt, Reinbek 2000 Robert Musil: Drei Frauen. Rowohlt Taschenbuch Robert Musil: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß. Rowohlt Taschenbuch 2008
Joseph Roth: Radetzkymarsch
... An jenem Abend findet in Galizien, an der russischen Grenze, ein phantastisches, von den Offizieren des dort stationierten Dragonerregiments liebevoll vorbereitetes Fest statt: „ ... Als der Abend über Zelte, Wagen, Konfetti und Tanz hereinbrach, zündete man die Lampions an, und man bemerkte nicht, daß sie von plötzlichen Windstößen stärker geschaukelt wurden, als es sich für festliche Lampions schicken mochte. Das Wetterleuchten, das immer heftiger den Himmel erhellte, konnte sich mit dem Feuerwerk, das die Mannschaft hinter dem Wäldchen abknallte, noch lange nicht vergleichen. Und man war allgemein geneigt, die Blitze, die man zufällig bemerkte, für mißlungene Raketen zu halten. „Es gibt ein Gewitter!“, sagte plötzlich einer. Und das Gerücht vom Gewitter begann sich im Wäldchen zu verbreiten ... ... Niemand vernahm den Galopp der Ordonnanz, die jetzt auf dem Vorplatz heransprengte, mit plötzlichem Ruck anhielt und ... mit blinkendem Helm, umgeschnalltem Karabiner am Rücken und Patronentaschen am Gurt, um- flackert von weißen Blitzen und von violetten Wolken umdüstert, einem theatralischen Kriegsboten nicht unähnlich war ...“ Die Eilnachricht, die er dem diensthabenden Oberst überbringt, lautet: „Thronfolger gerüchtweise in Sarajevo ermordet.“ ... Jemand berichtet, dass die Aufregung in der Stadt und in den Dörfern ständig wachse, und trotz des Gewitters ständen die Leute in den Gassen ... „Während der Kommissär hastig und flüsternd erzählte, hörte man aus den Räumen die schleifenden Schritte der Tanzenden, das helle Klirren der Gläser und von Zeit zu Zeit ein tiefes Gelächter der Männer.“ ... Ein paar Offiziere, darunter der Leutnant Trotta, sind in einem kleinen Zimmer versammelt: „ Das Zimmer ... enthielt wenig Sitzgelegenheiten, sodaß mehrere sich ringsum an die Wände lehnen mussten, einige sich ahnungslos und übermütig, bevor sie noch wussten, worum es sich handle, auf den Teppich setzten, mit gekreuzten Beinen. Aber es erwies sich bald, daß sie in ihrer Lage verblieben, auch als man ihnen alles mitgeteilt hatte. Manche mochte der Schreck gelähmt haben, andere waren einfach betrunken. Die dritten waren von Natur aus gleichgültig gegen alle Vorgänge in der Welt und sozusagen aus angeborener Vornehmheit gelähmt, und es schien ihnen, dass es sich für sie nicht schicke, lediglich wegen einer Katastrophe ihren Körper zu inkommodieren. Manche hatten nicht einmal die bunten Papierschlangenfetzen und die runden Koriandoliblättchen von ihren Schultern, Hälsen und Köpfen entfernt. Und ihre närrischen Abzeichen verstärkten noch den Schrecken der Nachricht. In dem kleinen Raum wurde es nach einigen Minuten heißt. „Öffnen wir Das Fenster!“ sagte einer. Ein anderer ... lehnte sich hinaus und prallte im nächsten Augenblick zurück. Ein weißglühender Blitz von einer unge- wöhnlichen Heftigkeit schlug in den Park, in den das Fenster führte. Zwar konnte man die Stelle nicht unterscheiden, die er getroffen hatte, aber man hörte das Splittern gefällter Bäume. Schwarz und schwer rauschten ihre umsinkenden Kronen. Und selbst die übermütig Kauernden, die Gleichgültigen, sprangen auf, die Angeheiterten begannen zu taumeln, und alle erbleichten. Sie wunderten sich, daß sie noch lebten ...“ .... Unter den Offizieren befinden sich auch Slowenen, Tschechen und Ungarn, die in ihrer eigenen Sprache das Ereignis hitzig diskutieren. Jemand bittet darum, die Unterhaltung auf deutsch zu führen ... „Benkyö (ein Ungar), der gerade gesprochen hatte, hielt ein und antwortete: ‚Ich will es auf deutsch sagen: Wir sind übereingekommen, meine Landsleute und ich, dass wir froh sein können, wann das Schwein hin is.’ Alle sprangen auf ... Der betrunkene Benkyö torkelte gegen den Leutnant Trotta. ‚Skandal!’ schrie der Leutnant zum dritten Mal ... ‚Wer noch ein Wort gegen den Toten sagt’, fuhr der Leutnant fort, ‚den schieß’ ich nieder!’ Er griff in die Tasche. Da der betrunkene Benkyö etwas zu murmeln anfing, schrie Trotta ‚Ruhe!’, mit einer Stimme, die ihm wie eine geliehene vorkam ...“ Joseph Roth: Radetzkymarsch. dtv, München 1998 Joseph Roth: Radetzkymarsch. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005 Claudio Magris: Der habsburgische Mythos in der modernen österreichischen Literatur. Zsolnay, Wien 2000 |
Noam Chomsky:
|