An Waltraut Thienhaus
Waltraut Thienhaus 1924
Hugo Distler schrieb im Sommer und Herbst 1932 eine Reihe von Briefen an seine Verlobte Waltraut Thienhaus, die sich damals in London aufhielt als Au-Pair-Mädchen bei Familie Palmer im Stadtteil Wimbledon. In einem Brief an Waltraut vom 21.Juni 32 hatte Distler seine Gereiztheit ud Erschöpfung zum Ausdruck gebracht - niedergestimmt durch ein Übermaß an beruflichen Verpflichtungen und lästigen Lübecker Kultur-Querelen. Maria Thienhaus, die Mutter von Waltraut und gesundheitlich angegriffen, lud ihn wenig später ein, sie auf einer Erholungsreise in den Harz zu begleiten.
Dienstag, Anfang Juli
32
Meine liebe Waltraut, wenn der Brief, den ich im Begriffe
bin zu schreiben, nicht wahrhaft Goetheschen Geist atmen wird - ich kann’s noch
nicht voraussagen – so liegt das ganz sicher nicht an dem Milieu, in dem er
geschrieben ist: es ist nämlich durchaus möglich, daß der Herr Geheimrat an
eben demselben Platz gesessen hat wie meine Kleinigkeit im Augenblick: das
Hotel Torfhaus, in dem Deine Mutter u. ich wohnen, hatte nämlich die Ehre,
Goethe schon als Gast beherbergt zu haben! Es wimmelt von unechten
Goetheerinnerungen hier, doch hat er tatsächlich hier ein (nicht ganz koscheres)
Bild vom Brocken gezeichnet, das ich Dir mitschicke.
Ich will Dir nun, sozusagen als Ergänzung des Bildchens
(zumal es keine anständige Photographie davon gibt) mein Milieu hier schildern:
da ist also mir gerade gegenüber der Brocken; es ist gegen 9 Uhr, es dämmert
und der Brocken ist in einen violetten Dunst gehüllt. Der Dunst ist nicht
irgendwie ein Angstprodukt meiner dichterischen Phantasie, die ich ja nicht
besitze, sondern ist das Resultat der heutigen großen Hitze, die den letzten
Tropfen von Verstand einem noch aufsaugt. Der Himmel überm Brocken ist
wolkenlos.
Die Sonne ist untergegangen. Unbeschreiblich schöne Wälder
bedecken den Hang des Berges und das zwischen uns liegende Tal: ich sitze auf
einem ordinären Gasthofstuhl und schreibe auf einem ebenso ordinären
Wirtshaustisch, den ich mit meinem Taschentuch (!) von den [unleserlich] weißen
Spuren von Vogeltieren gesäubert habe.
Ich denke, Du bist nun im Bild, mit Hilfe meiner und Goethes
Beschreibung. Das einfachste ist es nun, ich erzähle Dir den Weg unserer Route
von Lübeck an – ich habe nämlich heute sehr viel Zeit und Geld!
Maria Thienhaus 1925
Deine Mutter
und ich starteten am Sonntag partout nach dem Gottesdienst und landeten gegen 4
Uhr schweißtriefend in der Stadt, in der ich mir, wie Du wohl weißt, ein
bleibendes Denkmal errichtet habe: die Stadt meiner Pfingstkantate, der
Tagungsort meines D. H. V.,***** Hildesheim natürlich. Wir landeten
selbstverständlich im Evangelischen Hospiz, einem Wolken kratzenden 5-stöckigen
Jugendstilprodukt, 3 x so hoch wie schmal, u. zwar im letzten Geschoß, direkt
unter den Sternen. Doch hatten wir dafür einen unvergleichlichen Blick auf die
Pfingstkantatenstadt, gleichsam aus der Vogelschau. Den Abend über sahen wir
uns die Stadt an. Sie ist außerordentlich malerisch und geschlossen in der
Wirkung, eine wahre Fundgrube für Maler. [...]
Am anderen Tag, Montag (gestern) in aller Herrgottsfrühe
dampften wir nach Harzburg, dort landeten wir nach 4x-igem [unleserlich] heil
und ganz gegen 9 Uhr. Nun wanderten wir bergaufwärts unter sokratischen
Gesprächen und Schweißverlust und landeten nun wiederum hier [in Torfhaus],
heil und ganz, um Mittag.
Heute früh wanderte ich allein hinunter nach Harzburg (12
km!) in 2 ½ Stunden, besah mir die Stadt, fuhr (natürlich!) mit der „Bergbahn“
auf den Burgberg, wo sich keine Burg befindet, dafür aber eine greuliche
Bismarksäule, ein 10-Pfennig-Fernrohr und ein windiges Wirtshaus, dann der sog.
Kaiserbrunnen, der so aussieht: [Zeichnung einer fensterlosen Holzhütte mit von
außen verriegelter Tür und einem Schild mit der Aufschrift „Eintritt 10 Pfennig“]
alles schön mit Brettern vernagelt; ob hier unser Willy II getrunken hat oder Barbarossa
drin ertrunken ist, konnte ich nicht erfahren, da jedes Astloch zugekittet war.
Nachmittags wär ich zu gern ins Kino, in „die Metamorphosen des schönen Adulas“
gegangen, bekam aber dann Gewissensbisse, ging nicht hinein, sondern fuhr dafür
nocheinmal mit der „Bergbahn“ rauf und runter. Ich verhielt mich dabei sehr
tapfer. Dann machte ich mich wieder auf die Socken den Berg herauf zum Torfhaus,
wo ich hundtot müde angekommen bin. Es ist mir aber alles ganz gut bekommen,
nur muß ich gegenwärtig einherschreiten wie mein Schüler Asch, ich kann die
Beine gar nicht mehr zusammen kriegen.
Wie lange ich hier noch bleiben kann, weiß ich nicht; sicher
bis Sonnabend, hoffentlich (wenn Pastor Kühl Vertretung schafft) bis Mitte
nächster Woche. Ich weiß nicht, ob ein Brief von Dir (sofern Du Zeit und Lust
zum Schreiben haben solltest) mich noch erreicht, ich denke ja. Deine Mutter
fährt dann noch weiter, ich gen Lübeck, mein heißgeliebtes Kaff.
Nun aber zu Dir: also herzlichsten Dank für Deinen lieben
Brief: die englische Schokolade erzeugt zwar keine Horizonterweiterung*, aber
dafür andere Blähungen, um die ich Dich ebenso wenig beneide. Ramin kommt erst
im September nach London. Dann nochmals meinen innig=gefühltesten, nein: innigst
gefühlten Dank für Deine [unleserlich] Segenswünsche: ich will ja so brav
werden!
Weißt Du überhaupt, was Du mir zum Geburtstag schenktest?
Eine van-Gogh-Mappe; ja, ja! Glaub es mir!** Sie hat mich auch sehr gefreut,
wie mich alles freut, was aus Deinen geliebten Händen kommt. Habe ich mich
eigentlich schon für Deine Photographie bedankt? Soll ich sagen, sie ist
hübsch? Ja, hübsch, aber Du noch lange nicht. Um von Dir ein einigermaßen
ähnliches Bild zu bekommen, bedarf die Photographie noch einer grenzenlosen
Entwicklung. Da hab ich’s besser, meine Photographien können nur besser
werden als ihr Gegenstand.
Anbei übersende ich Dir 2 ½ Cembali nebst Stuhl und Spieler
[ Fotos von Distler an seinem Cembalo]. Der Stuhl entstammt „meiner“ neuen
Einrichtung: er war früher vollständiger, besaß eine Lehne, die nun abgesägt
ist und einstweilen im Hugo-Distler-Museum aufbewahrt ist. Außer dieser
Klavierstuhlimitation habe ich 6 Stühle von Euch, dazu eine Commode u. Spiegel;
herausgeekelt habe ich die herrlichen Plüschsessel und den
Schreibtisch [von Pastor Kühls Famlie]. Die Uhr geht natürlich, schlägt sogar; sogar die Vollen und die halben [unleserlich]. Ich komme mir vor
wie ein Urgroßvater, es fehlt nur noch der Zopf.
Gerharts*** Boot ist splendid, 5 geschlagene Meter lang!
Gerhart hat mich auch schon aufgefordert, mitzumachen, doch will ich zuvor
meine navigatorischen Kenntnisse noch erweitern; sonst könnte es passieren, daß
Lübeck einen unersetzlichen Verlust zu beweinen bekäme. Von Wittenberg habe ich
noch keine Nachricht, auch von Breitkopf nicht.****
Nun der Pullover: wie schön, daß Du Dich des Frierenden
erbarmst! Du meinst wohl, der blaue Pullover paßt gut zu dem bläulich
erstarrten Inhalt? Ich finde die Farbe aber auch sonst sehr schön. Ich möchte
ihn ohne Ärmel, da meine Arme noch wachsen können, ich rechne bestimmt damit. Wie
schön, daß Du meiner Tante geschrieben hast!
Nun leb wohl, liebe Waltraut, verzeih mir meine Ergüsse und
laß mich nun meine heißverdiente Ruhe finden: es ist nun leibhaftig 10 Uhr
geworden. Gute Nacht [...] sei herzlich gegrüßt [...] von
Deinem Hugo
Adresse: Torfhaus bei Bad Harzburg
Hotel Wendt nicht vergessen,
sonst geht er zur Konkurrenz!
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