PISAund das Recht auf Kindheit
 

   
     

   Die Ergebnisse der PISA-Studien sind auch eine Mahnung, die Bedingungen zu achten, unter denen Kinder sich Schritt für Schritt zu lebenszugewandten Erwachsenen mit sozialer und technischer Kompetenz entwickeln können. Nur wenn wir sie dazu befähigen, werden sie zukünftig die gewaltigen Sozial- und Umweltprobleme meistern können, die schon heute vor uns auftauchen. Die Meinungen darüber, wie man Kinder am effektivsten auf die Zukunft vorbereitet, gehen indes weit auseinander: während einige Vorkämpfer an der "Bildungsfront" Geist und Psyche des Kindes wie eine Art tabula rasa zu betrachten scheinen, zu deren optimaler Bearbeitung schon in den Grundschulen und Kindergärten Computertechnologie gewinnbringend eingesetzt werden sollte, weisen renommierte Entwicklungspsychologen und Erziehungswissenschaftler weltweit darauf hin, daß keine "Bildungsoffensive" gelingen kann, die nicht die Kindheit als einzigartige Daseinsform begreift und die Achtung der kindlichen Entwicklungsgesetze über jedes andere Interesse stellt.

Die Redaktion des FORUMS BÜRGERFERNSEHEN

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Aus einem Aufruf der ALLIANCE FOR CHILDHOOD www.allianceforchildhood.org

Schulkinder vor der Pubertät
und die Low-Tech-Anforderungen der Kindheit:
 

"Beim computergestützten Unterricht und anderen

auf Informationstechnologie basierenden Unterrichts-
hilfsmitteln gibt es das grundsätzliche Problem, dass ein
günstiger Kosten-Nutzen-Faktor im Vergleich mit anderen
Unterrichtsformen, wie zum Beispiel kleineren Klassen,
selbstbestimmtem Lernen, Gemeinschaftsarbeit in der Klasse,
Kleingruppen, innovativen Lehrplänen und Klassenhelfern,
niemals nachgewiesen wurde."
 
Nationaler Wissenschaftsrat der USA,
Wissenschafts- und Technikindikatoren 1998

   Warum sind wir so verliebt in Computer für Kinder? Es scheint, als komme die Fixierung der Unter- und Mittelstufe auf das Konzept "Eine Größe passt für alle" vielen Bedürfnissen der Erwachsenen entgegen. Sie lässt Politiker und Verwaltungsleute entscheidungsfreudig erscheinen. Sie führt überarbeitete Eltern und Lehrer in Versuchung, einen bequemen, faszinierenden elektronischen Babysitter einzusetzen. Und sie bietet High-Tech-Firmen am Bildungsmarkt einen unwiderstehlichen Anreiz mit der Hoffnung auf rasch zunehmende Verkaufszahlen.

Eine Maschine im Zentrum des Bildungsansatzes entspricht jedoch nicht den Entwicklungsbedürfnissen von Schulkindern vor der Pubertät und wird bei ihnen auch nicht die Phantasie, den Mut und die Willenskraft mobilisieren, die sie für ihr Erwachsenenleben brauchen, wenn sie die  gewaltigen Sozial- und Umweltprobleme anpacken sollen, die vor uns auftauchen. Weder seelisch noch sozial, moralisch oder intellektuell sind Kinder darauf vorbereitet, sich von zwingenden logischen Abläufen festnageln zu lassen, wie es der Computer erfordert. Und das ständige Sitzen beim Lernen tut den sich entwickelnden Sinnen und Gliedern nicht gut.

Was fürs Geschäft gut ist, muß nicht auch für die Kinder gut sein. Wir können uns keine Bildungspolitik leisten, die den (Computer-)Markt auf Kosten der Kinder erweitert. Wir können uns auch nicht die Selbsttäuschung leisten, dass die Kinder irgendwie gegen künftige wirtschaftliche und kulturelle Unsicherheit geimpft sind, wenn wir sie so schnell wie möglich zur Bedienung der neuesten technischen Gerätschaften befähigen. Solche Sicherheit kann durch nichts bewirkt werden – schon gar nicht durch Fertigkeiten im Umgang mit Geräten, die schon bald wieder überholt sind.

   Auf lange Sicht wird es den Kindern am besten helfen, wenn sich Eltern, Erzieher, Politiker und Gemeinschaften an die so einfachen Low-Tech-Anforderungen der Kindheit halten: gesunde Ernährung, sichere Wohnverhältnisse und erstklassige Gesundheitsvorsorge für jedes Kind – besonders für jenes Fünftel der Kinder, das heute in Armut aufwächst. Diese Anforderungen schließen für alle Kinder auch verlässliche Liebe und Zuwendung ein, ferner aktives, phantasievolles Spielen, ein gutes Verhältnis zur umgebenden Welt des Lebendigen, künstlerische Betätigung und Handarbeit jeglicher Art, und vor allem Zeit – viel Zeit, um Kind sein zu dürfen.

Mit anderen Worten: Die Mitgift, die unsere Kinder am besten auf die Unwägbarkeiten der Zukunft vorbereiten kann, ist eine erneuerte Achtung vor der Kindheit selbst. Solcherart gestärkt, können unsere Kinder zu starken, belastbaren und kreativen Menschen werden, die mit Kompetenz und Mut der unbekannten Zukunft ins Auge sehen.

Manch einer mag die Befürchtung haben, dass unser hohes wissenschaftlich-technisches Niveau leiden könnte, wenn wir die Kinder nur Kinder sein lassen. Das Gegenteil ist wahr. Denken wir an die kürzlich erschienene Anzeige von Microsoft. "Auf der Jagd nach Zukunft". Da wird deutlich gemacht, dass die Firmen bei der rasch aufeinander folgenden Entwicklung neuer High-Tech-Produkte ständig "ihre Langzeitreserven an intellektuellem Kapital auffüllen" müssen. Forschung, so Microsoft, ist der Motor des technischen Fortschritts, also, heißt es dort weiter, "war Forschung nie wichtiger als heute".

Spielerisches Erfassen der realen Welt

   Insofern das stimmt, war damit auch die Kindheit nie so wichtig wie heute – aber auch noch nie so gefährdet, wenn man Kinder zu Technikern trimmen will. Die Kindheit ist gerade die Zeitspanne im Menschenleben, in der die grundlegendste Wissenschaft angelegt wird, und daher ist es kurzsichtig, die Kinder stattdessen mit Powerpoint-Präsentationen zur Nachahmung der Erwachsenenwelt zu verleiten. Es ist genau so kurzsichtig, wie es gemäß der Argumentation von Microsoft kurzsichtig wäre, der Grundlagenforschung in einer Gesellschaft das Wasser abzugraben und nur noch kurzfristige Produktentwicklung zu finanzieren.

Durch die Förderung der Grundlagenforschung geben wir unseren kreativsten Wissenschaftlern die benötigte Zeit, um sich spielerisch mit den wesentlichen Kräften und Fragen der Natur zu beschäftigen. Wir hören von Wissenschaftlern, dass dieser offene Prozeß während schöpferischer Phasen ihr ganzes Leben beherrschen kann – ob sie gerade arbeiten, essen, schlafen oder mit anderen Menschen zusammen sind. Sie leben ihre Wissenschaft. Wenn ihnen diese Freiheit gewährt wird, gelangen sie zu Einsichten, die dann zu fruchtbaren Entdeckungen, bisweilen sogar zu Durchbrüchen an den Grenzen des Wissens und damit zu Paradigmenwechseln führen.

Der selbe kreative Prozeß [...] zeichnet die Kindheit aus, wenn sie auf die ihr gemäße Weise geschützt wird. Auch die Kinder brauchen die Zeit, in der sie mit den wesentlichen Kräften und Fragen der Natur spielerisch umgehen, mit ihrem ganzen Sein mit ihnen leben können. Die enge Verknüpfung dieser Wunder-vollen Suche der Kindheit mit dem weit gespannten Geist der Grundlagenwissenschaften wird von Alison Gopnik und ihren Mitarbeitern exakt erfasst: "Aus dem Erwachsenenzustand kaum zu erklären, ist unsere geheimnisvolle Fähigkeit zu wissenschaftlicher Forschung vielleicht etwas, das wir aus der Lernfähigkeit der Kindheit bewahrt haben ... Erwachsene Wissenschaftler profitieren von den natürlichen menschlichen Fähigkeiten, die es Kindern ermöglichen, in so kurzer Zeit so viel zu lernen. Ich will nicht behaupten, dass Kinder große Wissenschaftler wären, aber Wissenschaftler sind große Kinder."

Phantasie und Spieltrieb sind entscheidende Elemente sowohl in der kindlichen als auch in der erwachsenen Form solcher "Grundlagenwissenschaft". Die Anthropologin Ashley Montague hat darauf hingewiesen, dass die kreativsten Wissenschaftler auch besonders gut das Spiel "Nehmen wir mal an ..." spielen: "Der Wissenschaftler sagt sich: ‚Ich tu mal so als ob das so und so wäre, und dann sehen wir, was passiert.’ Das tut er lediglich im Kopf, oder er probiert es mathematisch auf dem Papier oder physikalisch im Labor. Bei dem Vorgang setzt er die Phantasie jedenfalls genau so ein wie das kleine Kind. Tatsächlich ist das höchste Lob für einen Wissenschaftler nicht, dass man ihn als Faktensammler bezeichnet, sondern dass er ein Visionär ist. Was aber ist dieses Visionäre in Wirklichkeit? Es ist Spiel – ein Spielen mit Ideen."
 

Der High-Tech-Fahrplan treibt die Kinder zur Eile an

   Der High-Tech-Fahrplan treibt Kinder zur Eile an; sie sollen möglichst schnell geschickte kleine Techniker werden, die von anderen produzierte Antworten auf eng umrissene Fragestellungen anwenden und maschinenerzeugte Bilder verarbeiten können. Dieser Fahrplan unterbricht den kreativen Prozeß des spielerischen Hervorbringens von Bildern in der eigenen Phantasie. Wir wissen nicht, welche Auswirkungen eine solche maschinell betriebene Bildung auf das Erwachsenenleben haben wird. Wir haben aber den Verdacht, dass eine Verengung und Abflachung im Bereich der Erkenntnis eintreten wird, dass soziale und technische Phantasie ebenso abnehmen wie die aus phantasievollen Ideen erwachsende Produktivität. Kurzum, ein High-Tech-Fahrplan für Kinder wird aller Wahrscheinlichkeit nach langfristig an unseren wertvollsten geistigen Reserven zehren, nämlich an den geistigen Fähigkeiten unserer Kinder.
 

Schulreform

   Schulreform ist eine soziale Forderung, nicht ein technisches Problem. Die eigene Studie des amerikanischen Erziehungsministerium von 1999 ist dafür der schlagendste Beweis. Es wird dort von neun Problemschulen in Stadtteilen mit hoher Armutsrate berichtet; sie alle hatten vor niedrigem Leistungsniveau, Perspektivlosigkeit und hohem Konfliktpotential resigniert, und sogar die Erwachsenen lagen miteinander im Clinch. All diese Schulen verwandelten sich aber in leistungsstarke und sozial gesunde Gemeinschaften. Auf dem Weg dahin entwickelten alle Beteiligten – Schulleiter, Lehrer und andere Mitarbeiter, Eltern und Schüler – hohe Erwartungen an sich selbst und in die anderen. Die Studie macht die Strategie deutlich, die dies bewirkt hat: Ausdauer, Kreativität im Finden neuer Möglichkeiten der Zusammenarbeit, optimales Eingehen auf jedes Kind und die gemeinsame Verpflichtung, dem gesamten Spektrum der kindlichen Bedürfnisse Rechnung zu tragen.

Es scheint also, als habe das zutiefst menschliche Vorgehen alle neun Schulgemeinschaften aus der Verzweiflung zur Hoffnung geführt – und nicht irgendwelche Ausgaben für technische Hilfsmittel. Bildungstechnologie spielt in dem Bericht eine relativ geringe Rolle, die Worte "Computer" und "Technologie" kommen in der Zusammenfassung nicht einmal vor, wohl aber wird der neuen Qualität menschlicher Beziehungen hohes Lob gezollt. "Besucher", heißt es im Bericht, "spüren in diesen Schulen sofort, dass Lehrern und Mitarbeitern die Schüler wirklich am Herzen liegen ... Die Verbesserungen im Betragen der Schüler wurden auch dadurch beeinflusst, dass die Schüler zunehmend das Gefühl bekamen, geschätzt und anerkannt zu werden." In allen neun Schulen "kannten die Schulleiter alle Schüler namentlich und kannten auch viele ihrer Familien. Die persönlichen Beziehungen zwischen Schülern und Kollegium bildeten eine starke Basis für gutes Betragen." In allen neun Schulen wurden auch die Eltern zu aktiven, engagierten und ideenreichen Partnern, und zwar weil die Schule deutlich zum Ausdruck brachte, dass sie die Eltern als Partner brauchte und respektierte – und weil die Eltern "greifbare Beweise dafür sahen, dass ihre Kinder der Schule etwas bedeuteten".

FRITJOF CAPRA, NEIL POSTMAN, JOSEF WEIZENBAUM und viele andere unterstützten in den USA die Initiative ALLIANCE FOR CHILDHOOD. In Deutschland und der Schweiz schlossen sich u.a. Dr. med. MICHAELA GLÖCKLER von der Medizinischen Sektion am Goetheanum/Schweiz und Dr. LEONHARD JOST von der Schweizerischen Korczakgesellschaft einem gleichlautenden Aufruf an.

Die wissenschaftliche Grundlage für den Aufruf von Capra, Postman und Weizenbaum bildete das Buch "Fools Gold. A critical Look at Computers in Childhood" von COLLEEN CORDES und EDWARD MILLER, das 2002 unter dem Titel " Die pädagogische Illusion", auch in Deutschland erschien .
 (Abbildung ganz oben: Titelbild der deutschen Ausgabe, mit freundlicher Genehmigung des Verlags für Freies Geistesleben, Stuttgart).

 

 

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