Bewusstseins-Politik

 

 

   Detlef Hensche, der langjährige Vorsitzende der IG Medien, gebrauchte gern den Ausdruck „Bewusstseinsindustrie“, wenn er die besondere Macht kommerzieller Massenmedien charakterisieren wollte. Es ist ein ironischer Begriff, denn offenkundig ist Schärfung des allgemeinen Bewusstseins – und der Fortschritt im Freiheitsbewusstsein aller - ja gerade nicht das Ziel jener Massenmedien, die mit „Aufregern“ aller Art in Programmen und auf Titelseiten um die Gunst des Publikums erbarmungslos kämpfen. Unerbittlich und gnadenlos richtet sich dieser Kampf vordergründig „nur“ gegen die Konkurrenz, in Wirklichkeit aber zuerst gegen die breiten Bevölkerungsschichten, die nicht erkennen können und sollen, daß sie auf dem Weg über ihr Unbewusstes gesteuert und konditioniert werden.

   Aber so wie im Schlaf und Traum unsere Seele ihre Fesseln ablegt und ihren eigenen Entwicklungsprozeß in kühnen, überwältigend schönen und erschreckenden Bildern unablässig vorantreibt, ruht das allgemeine Bewusstsein nie wirklich, sondern entwickelt sich fort und entfaltet sich im Angesicht historischer Krisen.

   Bei Beginn des Krieges im Irak bemühten sich verantwortungsbewusste Journalisten in aller Welt   – gestützt durch ihre Redaktionen –, eine solche historische Krise mit allen ihren Weiterungen in unser Bewusstsein zu heben, indem sie die Interessen und Vorgehensweisen derjenigen Schritt für Schritt aufhellten, die für den Krieg im Irak und an der „Heimatfront“ verantwortlich waren. Beispielhaft für diesen kritischen Journalismus war am 1. April 2003 eine Sendung des Deutschlandfunks – „Reiche Medien – Arme Demokratie“, die im folgenden auszugsweise zitiert wird:

    „Ausgerechnet die Erfahrungen mit Nazideutschland – als die faschistische Staatspropaganda den Volksempfänger als ihr Instrument zur Massenmanipulation entdeckte – beeinflussten 1936 die Überlegungen US-amerikanischer Kongressabgeordneter zum Schutz der Meinungsfreiheit. Doch mit der Aufhebung der Anti-Trust-Gesetze in den 90er Jahren entstand die Medienmonokultur weniger Konzerne ... Die Folgen für die amerikanische Bevölkerung sind fatal: reiche Medien – arme Demokratie. Mit der Ankündigung der Bush-Administration, noch die letzten Regulierungen aufzuheben, geht der Wirtschaftskrimi in die nächste Runde.“

 

„Patriotische Berichterstattung“

und Entflammung eines

falschen „Wir-Gefühls“

   Wirtschaftsinteressen und nicht mehr das Bürgerrecht auf Information dominierten seither immer unverblümter die Berichterstattung der Medienkonzerne, deren „natürlicher Verbündeter“ die damalige Regierung war aufgrund ihrer konzernfreundlichen Medien- und Deregulierungspolitik. „Do ut des“ – ich gebe, damit du gibst: Auf der Basis dieses stillschweigenden „Gentlemen’s Agreements“ florierte seit den erschütternden Ereignissen des 11. September in den Massenmedien die „patriotische Berichterstattung“ und verdrängte bedenkenlos die gesellschaftlich notwendige sachliche Aufklärung der amerikanischen Bevölkerung über tiefere Zusammenhänge und Hintergründe des Irakkrieges und der durch ihn ausgelösten internationalen Krise.

   Ungeniert blendeten während der schweren und verlustreichen Kämpfe im Irak „patriotische Berichterstatter“ in führenden US-Massenmedien das Leid und den Tod der unmittelbar Kriegsbetroffenen beider Seiten so weit wie möglich aus und überfluteten stattdessen die heimische Bevölkerung mit immer neuen Erfolgs- und Siegesnachrichten und rührenden Heldenepen (wie z.B. der märchenhaften Erfolgsgeschichte von der tapferen Befreiung einer jungen und schönen Soldatin aus irakischer Kriegsgefangenschaft) – erhebende Geschichten, die die Menschen bewegen, ihr Nationalgefühl stärken und die Beunruhigung von ihnen nehmen sollten, es könne sich bei dem Irakkrieg um ein völker- und menschenrechtswidriges Unternehmen handeln.

   Die „patriotische Berichterstattung“ bewirkte bekanntlich, daß eine Mehrheit der Amerikaner den Irakkrieg offenbar "wie selbstverständlich" akzeptierte (und damit "ganz nebenbei" auch seine erdrückenden Rüstungs-Steuerlasten), während er bekanntlich von den übrigen Bevölkerungen weltweit nachdrücklich abgelehnt wurde. Wie aber wurde die realitätsblinde „Kriegs-Akzeptanz“ in den USA hergestellt?

   Offenkundig vor allem dadurch, daß dortige Massenmedien – im Zusammenspiel mit der Regierung - seit dem 11. September ein grandioses „Wir-Gefühl“ in breiten amerikanischen Schichten entfachen konnten – das erhebende Gefühl, Angehörige einer dem Guten und Gerechten dienenden Familie zu sein – nämlich der großen amerikanischen Nation. (Der „Teufel“ ist außerhalb dieses vorgestellten guten Ganzen, aber er bedroht von außen die schützende "Gemeinschaft“ Tag und Nacht.)

   Solange dieser kollektive euphorische Seelenzustand andauerte, wogen individuelle äußere und innere Belastungen weniger schwer, konnten sie „aufgehoben“ werden. 

   Das ist der bestürzende „massen-therapeutische“ Effekt “patriotischer“ Kriegs-Propaganda und „patriotischer Berichterstattung“, und unser kollektives Gedächtnis erinnert uns an andere „Patrioten“, die einst mit dem selben Zynismus, der selben Durchsetzungswut und massenpropagandistischen Macht ihre ideologische Herrschaft errichtet und ein ganzes Volk ihren eigenen, zutiefst menschenfeindlichen und lebensblinden Zwecken unterworfen haben.

   Sobald aber der politische Druck und die ihn rechtfertigende Propaganda gewichen sind, fällt das massenpsychologisch stimulierte „Wir-Gefühl“, das auf (Selbst)-Täuschung beruhte, in sich zusammen. Und die Menschen (nicht die alte politische Klasse!) atmen auf und beginnen tastend, ihr Leben jenseits aller vergangenen Ideologie neu, realistischer und selbstbestimmter zu leben.
 

 

Noch einmal: Bewusstseins-Politik

    Die von Detlef Hensche so genannte "Bewusstseinsindustrie" wird von der Allgemeinheit offenkundig mit zunehmendem Unbehagen wahrgenommen, jedoch - mangels jeglicher Medienwirkungs-Aufklärung - noch nicht in vollem Umfang durchschaut. Und weil jene besondere, "mental" gerichtete Industrie der suggestiven Unterwerfung der Menschen unter fremde Zwecke dient, müsste sie eigentlich bewusstlos machende Industrie genannt werden.

   Unter ihrem Joch hindurch aber arbeiten Journalisten und ihre Redaktionen weltweit und beharrlich an der immer umfassenderen Aufklärung der Bürgergesellschaft. Und im Lichte der von ihnen geleisteten - und manchmal unter Gefahren erkämpften - Aufklärungsanstrengung erkennen wir immer schärfer das radikal Gesellschafts- und Lebens-Zerstörende jeder Form von Massenmanipulation, die immer mit unbewussten Ängsten spielt – ob sie nun die Menschen direkt aufpeitscht oder ob es sich um die „lächelnde“ Form der suggestiven Massenüberredung handelt, die ja nicht mit der „Peitsche“ operiert, sondern mit dem „Zuckerbrot“ auf Menschenfang geht. 

   Die Demokratie-notwendige, schrittweise Durchdringung und Aufhellung dieser Strategien geht, wie gesagt, heute schon vor allem aus von mutigen und verantwortungsbewußten Journalisten in der ganzen Welt, von couragierten Politikern, von Bürgerrechts-Gruppen und richtet sich an eine mehr und mehr selbstbewusste und kritische Bürgerschaft.

   Ihr gemeinsames Projekt ist die Entwicklung einer neuen Politik der Basis, die der öffentlichen Verankerung eines nicht mehr irritierbaren allgemeinen Wissens über massenpsychologische Strategien dient - und die wir Bewusstseins-Politik nennen könnten.
 

Mai 2004 / Juni 2009
Forum Bürgerfernsehen
 

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Weiterführende Informationen und Literaturhinweise:

"Medien- Vierte Gewalt im Staate" (www.oedp.de unter "Service": Journal ÖkologiePolitik, Archiv, Heft 11/2000)

Italien: www.societacivile.it;  www.centomovimenti.it

Roger Willemsen: „Der Einzig Wahre – Karl Kraus: Ironischer Meister, Idealist, Medienkritiker und Monomane, in: Süddeutsche Zeitung, 10. März 2003,  www.sueddeutsche.de

Ivan Nagel: Der Krieg und die Worte: Das Falschwörterbuch des Irakkonflikts, in: Süddeutsche Zeitung, 19. Februar 2003, www.sueddeutsche.de

Heribert Prantl: George W. Arabicus - Das Ende des Irak-Krieges ist nicht der Beginn des Friedens, in: Süddeutsche Zeitung, 17./18. April 2003, www.sueddeutsche.de

Henning Klüver: Ubu Bas zieht ins TV: Dario Fo will den Berlusconi-Sendern Paroli bieten, in: Süddeutsche Zeitung, 19. April 2003, www.sueddeutsche.de

Henning Klüver: Die Stunde der Internet-Opposition: Außerhalb von Parlament und professioneller Politik hat sich (in Italien) ein buntes Bündnis gegen die Regierung formiert, in: Süddeutsche Zeitung, 8. März 2002, www.sueddeutsche.de


Bücher zum Operationsfeld  Massenpsychologie - Propaganda - Zensur:

William L. Shirer: Berliner Tagebuch. Reclam Verlag Leipzig, Euro 12,60

William L. Shirer: Aufstieg und Fall des Dritten Reiches. Komet Verlag, Euro 15,95

Marcel Reich-Ranitzki: Mein Leben. dtv 2003, Euro 8,50

Bernd Feuchtner: Dimitri Schostakowitsch - Und Kunst geknebelt von der groben Macht. Künstlerische Identität und staatliche Repression. Bärenreiter-Verlag Kassel 2002, Euro 35,-

John Kenneth Galbraith: Anatomie der Macht. Wilhelm Heyne Verlag München, www.zvab.com                             

Michael Moore: Stupid White Men - Eine Abrechnung mit dem Amerika unter George W. Bush.  

Piper Verlag München, 23. Aufl. 2003, Euro 12,-
 
Noam Chomsky: Media Control.  "... die Bürger demokratischer Gesellschaften sollten Kurse für geistige
Selbstverteidigung besuchen, um sich gegen Manipulation und Kontrolle wehren zu können ..."
Europa Verlag Hamburg/Wien März 2003, Euro 19.90
 
Noam Chosmky: War against People: Menschenrechte und Schurkenstaaten.
Europa Verlag Hamburg/Wien  März 2003
 
Tom Holert, Mark Terkessidis: Entsichert - Krieg als Massenkultur im 21. Jahrhundert.
 Kiepenheuer & Witsch Köln 2002, Euro 9,90
 
Hubert Wolf / Wolfgang Schopf: Die Macht der Zensur - Heinrich Heine auf dem Index.
Heinrich Heine unter staatlicher und kirchlicher Zensur. Patmos Verlag Düsseldorf 1998, Euro 7,50
 
Gustave Le Bon: Psychologie der Massen. Kröner Verlag Stuttgart 1982, Euro 10,30
Das 1895 erschienene und in alle Weltsprachen übersetzte Buch des französischen Arztes und Soziologen beschreibt den Ablauf von Massenbewegungen - und Möglichkeiten, darauf Einfluß zu nehmen. Um die Jahrhundertwende wurde Frankreich  von einer Welle von Attentaten erschüttert, in denen sich die Ohnmacht und Verzweiflung der hungernden und ausgebeuteten Arbeiterschaft entlud gegenüber der korrupten herrschenden Klasse aus Politik, Hochfinanz und Teilen der Presse, die dem Elend der Massen gleichgültig gegenüberstanden. Emile Zola hat in seinem Roman Paris die explosive politische Stimmung und  Situation im damaligen Paris beschrieben, und Le Bon betrachtete dies alles mit dem gleichen  Ernst und Mitgefühl wie Zola. Im Gegensatz zu Zola aber entwickelte er aus seinen historischen Untersuchungen und zeitgeschichtlichen Analysen von Massenbewegungen ein überwiegend pessimistisches Menschenbild.

Im 20. Jahrhundert avancierte Le Bons Buch zum geheimen Vademecum von Machteliten in der ganzen Welt. Viele mißbrauchten (und mißbrauchen immer noch) seine Erkenntnisse über die leichte Entflammbarkeit und "Lernfähigkeit" der "Massen" zur Entwicklung menschenverachtender Strategien, die sich gegen die Freiheit, die Selbstbestimmungsfähigkeit und das harmonische Zusammenleben von Individuen, Gruppen und Völkern richten.

Sigmund Freud: Massenpsychologie und Ich-Analyse. Sechste, unveränderte Auflage: Fischer Taschenbuch Verlag 2002, Euro 8,90  
In seiner 1921 erschienen, geistvollen und tiefgreifenden Untersuchung knüpft S. Freud gleich im ersten Kapitel an Le Bons Arbeit an: "Zweckmäßiger als eine Definition voranzustellen scheint es, mit dem Hinweis auf das Erscheinungsgebiet zu beginnen und aus diesem einige besonders auffällige und charakteristische Tatsachen herauszugreifen, an welche die Untersuchung anknüpfen kann. Wir erreichen beides durch einen Auszug aus dem mit Recht berühmt gewordenen Buch von Le Bon, Psychologie der Massen (...) Ich lasse nun Le Bon zu Wort kommen. Er sagt (S. 13):
An einer psychologischen Masse ist das Sonderbarste dies: welcher Art auch die sie zusammensetzenden Individuen sein mögen, wie ähnlich oder unähnlich ihre Lebensweise, Beschäftigung, ihr Charakter oder ihre Intelligenz ist, durch den bloßen Umstand ihrer Umformung zur Masse besitzen sie eine Kollektivseele, vermöge deren sie in ganz anderer Weise fühlen, denken und handeln, als jedes von ihnen für sich fühlen, denken und handeln würde. Es gibt Ideen und Gefühle, die nur bei den zur Masse verbundenen Individuen auftreten oder sich in Handlungen umsetzen. Die psychologische Masse ist ein provisorisches Wesen, das aus heterogenen Elementen besteht, die für einen Augenblick sich miteinander verbunden haben, genauso wie die Zellen des Organismus durch ihre Vereinigung ein neues Wesen mit ganz anderen Eigenschaften als denen der einzelnen Zellen bilden'."  

Sowohl Le Bon als auch Freud setzen sich mit dem Phänomen der Wechselbeziehung der Masse mit ihrem "Führer" auseinander. Am Beispiel der "künstlichen" militärischen Masse führt Freud u.a. aus, daß "Panik" - als Massenangst - um sich greift und die Masse sich zersetzt, sobald der Führer, an den sie gefühlsmäßig gebunden war, abhanden kommt: "Der typische Anlaß für den Ausbruch einer Panik ist so ähnlich, wie er in der Nestroyschen Parodie des Hebbelschen Dramas von Judith und Holofernes dargestellt wird. Da schreit ein Krieger: 'Der Feldherr hat den Kopf verloren', und darauf ergreifen alle Assyrer die Flucht. Der Verlust des Führers in irgendeinem Sinne, das Irrewerden an ihm, bringt die Panik bei gleichbleibender Gefahr zum Ausbruch."

Im April 2003 brachte der Deutschlandfunk eine Reportage über die Einstellung der  Bewohner eines amerikanischen Städtchens in Westvirginia zum Irakkrieg. Stellvertretend für viele äußerte sich dazu ein Mann freundlich und bestimmt: "Wenn der Präsident verlangt, daß wir in den Krieg ziehen, dann ziehen wir eben in den Krieg." Diese Antwort "ohne Wenn und Aber" wirft die Frage auf nach der Funktion medialer Attrappen: Hatten womöglich die mittlerweile 60 Jahre währenden "medienpädagogischen" Bemühungen der vereinten Fernsehwerbe- und Unterhaltungsindustrie in den USA dazu geführt, daß im Irakkrieg schon eine "Führer-Attrappe" ausreichte, um "die Leute" in welche Richtung auch immer zu treiben?

 

 

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