"Ja, es gab interne Hinrichtungen"

Interview von Deniz Yücel aus Kandil
mit Cemil Bayik
in der "Welt am Sonntag" vom 23.08.2015

 

Cemil Bayik, Kampfname Cuma, ist die Nr. 2 der kurdischen PKK. Im Konflikt mit der Türkei fordert er internationale Vermittler – etwa die USA. Zudem gesteht er im Interview Fehler der PKK ein.

Als 18-jähriger Student schloss Cemil Bayik sich in Ankara der Gruppe um Abdullah Öcalan an, aus der 1978 die Arbeiterpartei Kurdistans hervorging. Seither gehört Bayik zum Führungszirkel der PKK. Der 60-Jährige ist einer von zwei Vorsitzenden der PKK-Dachorganisation KCK (Union der Gemeinschaften Kurdistans) und gilt als Stellvertreter Öcalans, der seit 16 Jahren in türkischer Haft ist. Bayik wird in der Türkei mit Haftbefehl gesucht. Das Interview wurde im nordirakischen Kandil-Gebirge geführt.

Welt am Sonntag: Seit vier Wochen bombardiert die Türkei den "Islamischen Staat" und die PKK. Ist der IS geschwächt?

Cemil Bayik: Der IS war schon vorher geschwächt. Darum ist ein Ziel, das die Türkei mit der Operation gegen die PKK verfolgt, den IS zu schützen. Die Türkei bekämpft den IS nicht.

Welt am Sonntag: Nein?

Bayik: Nein. Erdoğan strebt nach der Hegemonie im Nahen Osten, nach dem Kalifat. Der IS gehört zur sunnitischen Front gegen die Kurden in Rojava und gegen Assad. Und der IS ist für Erdoğan nicht bloß ein Instrument; es gibt eine ideologische Nähe. Doch der internationale Druck war so gewachsen, dass die Türkei etwas für ihr Ansehen tun musste.

Welt am Sonntag: Aber der IS hat gerade ein Drohvideo gegen die Türkei veröffentlicht.

Bayik: Der IS behauptet darin, dass die Türkei umzingelt sei von der PKK auf der einen Seite und den "Kreuzfahrern" auf der anderen. Die türkische Regierungspartei AKP sagt fast wortgleich dasselbe.

Welt am Sonntag: Und ist die PKK geschwächt?

Bayik: Nein. Wir haben die nötigen Vorkehrungen getroffen. Aber natürlich beeinträchtigt der Krieg uns und damit den Kampf gegen den IS.

Welt am Sonntag: Wer hat den Waffenstillstand gebrochen?

Bayik: Erdoğan. Dieser Krieg hat nicht damit angefangen, dass in Ceylanpinar in der Osttürkei zwei Polizisten erschossen wurden, sondern viel früher. Seit April durfte niemand mehr den Vorsitzenden Apo besuchen.

Welt am Sonntag: Also Abdullah Öcalan.

Bayik: Und Erdoğan hat alle erzielten Schritte für nichtig erklärt. Er hat gesagt: "Es gibt keine Verhandlungen, keine Partner, kein Kurdenproblem." Erdoğan wollte mit einem Konfrontationskurs die Wahl gewinnen. Er dachte, dass die Guerilla der PKK auf den Anschlag antworten würde, den es in Diyarbakir auf eine Kundgebung der HDP, der Demokratiepartei der Völker, gegeben hatte. So einen Gegenangriff hätte er als Vorwand benutzt, um die Wahl abzusagen. Aber in diese Falle sind wir nicht getappt. Dann hat die HDP Erdoğans Träume von einem Präsidialsystem zunichtegemacht und die AKP gestürzt. Aus Rache kam es danach zu weiteren Anschlägen in der Türkei.

Welt am Sonntag: Und war der Polizistenmord in Ceylanpinar eine Tat der PKK?

Bayik: Nein. Das waren Leute, die sich selbst Apoisten nennen.

Welt am Sonntag: Also Anhänger des PKK-Chefs Öcalan. Aber Sie haben den Mord nicht verurteilt.

Bayik: Das wäre inmitten dieser Angriffe gegen uns verwendet worden.

Welt am Sonntag: Aber jetzt sind Sie im Krieg.

Bayik: Wir sind nicht im Krieg. Wir machen nur von unserem Recht auf Vergeltung Gebrauch.

Welt am Sonntag: In einigen kurdischen Städten sah es letzte Woche nach Krieg aus.

Bayik: Dort verteidigen sich die Jugend und das Volk amateurhaft gegen die Angriffe des Staates. Dagegen geht der Staat mit seiner ganzen Macht vor. Darum haben wir gewarnt: Wenn ihr weiter gegen das Volk vorgeht, werden wir der Guerilla befehlen, in die Städte zu gehen.

Welt am Sonntag: Das wäre dann Krieg?

Bayik: Wenn die Türkei auf dieser Politik beharrt, dann könnte die Guerilla in den Krieg ziehen. Aber wir wollen das nicht. Wir wissen, dass die HDP das eigentliche Ziel dieser Militäroperation ist.

Welt am Sonntag: Warum?

Bayik: Durch die Politik der Verleugnung und Vernichtung waren in der Türkei die anderen Minderheiten kurz vor dem Verschwinden. Aber die Kurden haben sich nicht nur dagegen gewehrt, sie haben auch die übrigen Minderheiten wiederbelebt und sie durch die HDP ins Parlament getragen. Jetzt tut Erdoğan so, als hätte die Wahl nie stattgefunden. Er versucht, die HDP zu diskreditieren, damit sie nicht wieder ins Parlament einzieht.

Welt am Sonntag: Bedeutet der HDP nicht einen Machtverlust der PKK?

Bayik: Nein. Es war der Kampf der PKK, der die HDP hervorgebracht hat. Der Vorsitzende Apo hat die Kurden und die Linken ins Parlament gelenkt, um das Kurdenproblem und alle anderen Probleme dort zu lösen. Das ist die Aufgabe der HDP. Es gibt keine Lösung ohne die HDP.

Welt am Sonntag: Ist die HDP der PKK unterstellt?

Bayik: Nein. Die kurdische Bewegung hat drei Bestandteile: den Vorsitzenden Apo, die HDP und die PKK. Alle haben verschiedene Rollen.

Welt am Sonntag: Schaden Sie nicht der HDP mit dem, was Sie "Recht auf Vergeltung" nennen?

Bayik: Nein. Recep Tayyip Erdoğan dachte: "Ich kann angreifen, und die PKK hat dem nichts entgegenzusetzen. Und wenn doch, dann kann ich das gegen die Kurden benutzen." Also gegen die HDP und gegen die PKK, die mit ihrem Kampf gegen den IS internationales Ansehen gewonnen hatte.

Welt am Sonntag: Der Plan geht doch auf.

Bayik: Nein. Denn jeder weiß, was Erdoğans Gründe sind. Aber er hat einen Prozess in Gang gesetzt: Weil er das Parlament missachtet hat, beginnt das Volk, zumindest auf lokaler Ebene demokratische Verhältnisse zu schaffen.

Welt am Sonntag: Der HDP-Chef Selahattin Demirtas hat beide Seiten dazu aufgerufen, die Eskalation zu beenden.

Bayik: Nicht nur er. Wir finden diese Aufrufe wertvoll. Denn wir glauben, dass weder die Türkei noch wir die Probleme mit Waffen lösen können. Aber wir haben achtmal einen einseitigen Waffenstillstand ausgerufen und zuletzt sogar angefangen, unsere Einheiten abzuziehen. Doch die Türkei hat uns erst hingehalten und dann alles verleugnet, was im Friedensprozess bereits erreicht worden war.

Welt am Sonntag: Was müsste für einen Waffenstillstand passieren?

Bayik: Einen einseitigen Waffenstillstand wird es nicht mehr geben. Auch die Türkei müsste offiziell einen Waffenstillstand verkünden. Eine unabhängige Kommission müsste dessen Einhaltung überwachen. Dann müssen die Verhandlungen unter gleichen und freien Bedingungen stattfinden, der Vorsitzende Apo muss als Verhandlungsführer anerkannt werden. Und wir brauchen eine dritte Partei als Vermittler. Nur so können wir sichergehen, dass die Türkei nicht plötzlich alles wieder bestreitet.

Welt am Sonntag: Wer könnte das sein? Die USA?

Bayik: Das haben wir schon oft vorgeschlagen.

Welt am Sonntag: Glauben Sie das wirklich?

Bayik: Warum nicht? Die USA haben auch in Nordirland vermittelt.

Welt am Sonntag: Haben Sie Kontakte zu den USA?

Bayik: Ja.

Welt am Sonntag: Die US-Regierung bestreitet das.

Bayik: Die USA wollen die Türkei in den Krieg gegen den IS einbeziehen und nehmen darum Rücksicht auf türkische Befindlichkeiten.

Welt am Sonntag: Haben die USA die Angriffe auf die PKK gebilligt?

Bayik: Sie sagen das zwar nicht, aber ich glaube: Wenn die USA kein grünes Licht gegeben hätten, hätte es sie nicht gegeben. Andererseits wissen die USA, dass die kurdische Freiheitsbewegung am effektivsten gegen den IS kämpft. Die Koalition braucht beide: die Türkei und die PKK.

Welt am Sonntag: Wie könnte eine dauerhafte Lösung aussehen?

Bayik: Die Türkei muss anerkennen, dass ein Kurdenproblem existiert. Auch Erdoğan hat nur von den "Problemen der kurdischstämmigen Bürger" geredet, nie vom Freiheitsproblem eines Volkes.

Welt am Sonntag: Aber das Staatsfernsehen hat heute einen kurdischsprachigen Kanal, in den lokalen Behörden wird auch Kurdisch gesprochen.

Bayik: Wir kämpfen seit fast 40 Jahren. Natürlich hat das die Türkei dazu gezwungen, einige Schritte zu unternehmen. Aber das waren kleine Schritte, um die großen zu vermeiden. Das Kurdenproblem muss in die Verfassung aufgenommen werden, der Druck auf die kurdische Identität muss aufhören, Kurdisch muss zur Ausbildungssprache werden, und die Kurden müssen sich durch ihre lokalen Verwaltungen selbst regieren können.

Welt am Sonntag: Dann würden Sie die Waffen abgeben?

Bayik: Den bewaffneten Kampf zu beenden und die Waffen abzugeben sind zwei verschiedene Dinge. Solange das Kurdenproblem nicht gelöst ist und die IS-Gefahr andauert, kann niemand von uns verlangen, dass wir die Waffen abgeben. Wir kämpfen nicht nur für die Kurden. Gegen den IS zu kämpfen bedeutet, für die ganze Menschheit zu kämpfen.

Welt am Sonntag: Das "neue Paradigma" der PKK, das Öcalan 2004 verkündet hat, kam nicht urplötzlich?

Bayik: Nein. Das Fundament dafür wurde beim ersten Waffenstillstand von 1993 gelegt und danach weiterentwickelt. Der Vorsitzende Apo hat es nur auf Imrali nur vollendet.

Welt am Sonntag: Sie wollten einst ein vereintes, unabhängiges, sozialistisches Kurdistan gründen. Was ist davon übrig?

Bayik: Damals gab es auf der ganzen Welt ein vom Realsozialismus vorgegebenes Paradigma, an dem auch wir uns orientiert haben. In der Praxis haben wir die Mängel dieses Paradigmas bemerkt und ein neues entwickelt. Zum Beispiel haben wir gesehen, dass wir unser Ziel – freie Gesellschaft, freie Persönlichkeiten – nicht mit einem Staat erreichen können, geschweige denn durch die Diktatur des Proletariats.

Welt am Sonntag: Was ist der größte Erfolg der PKK?

Bayik: Die Befreiung der Frauen.

Welt am Sonntag: Und was waren ihre größten Fehler?

Bayik: Jeder, der kämpft, begeht Fehler.

 

Welt am Sonntag: Der ehemalige PKK-Funktionär Selim Cürükkaya schreibt, dass mehr Gründungskader durch interne Hinrichtungen starben als bei Gefechten oder durch Folter.

Bayik: Das stimmt nicht. Ja, es gab interne Hinrichtungen. Und vielen Opfern hat die PKK ihre Ehre posthum zurückgegeben. Wissen Sie, wer für die meisten Hinrichtungen verantwortlich war? Leute, die die PKK heute dafür beschuldigen. Aber damals gehörten sie zur PKK. Wir stellen uns unserer Verantwortung.

Welt am Sonntag: Auch für die Morde an Lehrern oder an Angehörigen der Dorfschützermiliz, die mit ihren Familien umgebracht wurden?

Bayik: Keiner von denen, die für die Aktionen gegen Dorfschützer verantwortlich waren, ist heute noch bei der PKK. Auf dem vierten Parteikongress 1990 haben wir dafür öffentlich um Entschuldigung gebeten. Und wir schlagen vor, dass Wahrheitskommissionen wie in Südafrika untersuchen, was wir getan haben und was der Staat. Aber solche Vorschläge kommen nur von uns, nicht vom Staat.

Welt am Sonntag: Welche Sprache spricht eigentlich die PKK?

Bayik: Früher vor allem Türkisch. Heute sind etwa 70 Prozent der internen Berichte auf Kurdisch.

Welt am Sonntag: Werden in der PKK viele Berichte geschrieben?

Bayik: Ja. Jeder schreibt welche: Funktionäre, Kämpfer, auch ich.

Welt am Sonntag: Werden diese Berichte archiviert?

Bayik: Das ist unsere Geschichte. Wie könnten wir die vernichten?

Welt am Sonntag: Sie haben selbst erst später Kurdisch gelernt, richtig?

Bayik: Ja. Ich war in staatlichen Internaten und türkisiert. Erst nachdem mich mein Freund Kemal Pir mit dem Vorsitzenden Apo bekannt gemacht hat, habe ich gelernt, dass ich Kurde bin. Ich bin Kemal Pir bis heute dankbar dafür.

Welt am Sonntag: Pir war Türke und starb 1982 bei einem Hungerstreik im Gefängnis.

Bayik: Das war für mich der schwerste Moment.

Welt am Sonntag: Haben Sie geweint?

Bayik: Ein bisschen. Aber ich habe es mir nicht anmerken lassen.

Welt am Sonntag: Sie waren bei der Gründung der PKK 23 Jahre alt. Was unterscheidet Ihre Generation von der heutigen Jugend?

Bayik: Die heutige Jugend weiß viel mehr von der Welt. Dafür spielen in Kurdistan Clans und feudale Strukturen kaum noch eine Rolle. Die heutige Generation ist selbstbewusster und widerspenstiger – auch uns gegenüber. Und sie ist radikaler. Viele wurden mit ihren Familien aus ihren Dörfern vertrieben und sind in Armut aufgewachsen. Sie haben eine große Wut, die sie manchmal auf falsche Ziele richten.

Welt am Sonntag: In diesem Konflikt sind mindestens 35.000 Menschen ums Leben gekommen, davon die meisten in Ihren Reihen. Übernehmen Sie dafür Verantwortung?

Bayik: Es gibt Menschen, die durch unsere Fehler gestorben sind und für die wir verantwortlich sind. Aber insgesamt ist der türkische Staat verantwortlich. Wenn die Türkei das kurdische Volk nicht verleugnet hätte, hätte es all dieses Leid nicht gegeben.


 

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