Beseelte
Welt: "(Erwachsene) ... sagen dem Kind, daß die Dinge nicht fühlen und handeln können; und wenn das Kind auch vorgibt, dies zu glauben, um den Erwachsenen zu gefallen oder um nicht lächerlich gemacht zu werden, hegt es doch tief im Herzen eine andere Überzeugung. Unter dem Einfluß der rationalen Lehren anderer vergräbt das Kind sein "wahres Wissen" nur umso tiefer in sich; (dieses Wissen) ... kann aber von dem, was die Märchen zu sagen haben, geformt und erweitert werden." Der "archaischen" Denkart des Kindes (Hedwig v. Beit)8) kommt das Volksmärchen, als einzigartige Kunstform, besonders entgegen - wenn es dem Kind erzählt oder vorgelesen wird. Das hier folgende Beispiel (in dem Bettelheim einen Bericht von Bettina v. Arnim zitiert) beschreibt besonders anschaulich die Wechselseitigkeit der Beziehung zwischen Kind und Erzähler und die produktiven Prozesse, die beim Erzählen und Zuhören in beiden ausgelöst werden können: "Im Alter erzählte Goethes Mutter, wie sie ihrem Sohn Luft, Feuer, Wasser und Erde als wunderschöne Prinzessinnen dargestellt habe, und wie dadurch die ganze Natur reicher an Bedeutungen wurde ... Der kleine Junge verschlang sie fast mit den Augen, und wenn es einer seiner Lieblingsgestalten nicht so erging, wie er sich das vorstellte, konnte sie es seinem ärgerlichen Gesicht ansehen, oder sie merkte, wieviel Mühe er hatte, seine Tränen zurückzuhalten. Manchmal schaltete er sich auch in den Gang der Handlung ein und bestand darauf, daß der 'elende Schneider' die Prinzessin nicht heiraten werde, selbst wenn er den Riesen erschlagen sollte. Die Mutter unterbrach dann ihre Erzählung bis zum nächsten Abend. Oft wurde so ihre Einbildungskraft durch die ihres Kindes ersetzt, und wenn sie am nächsten Abend die Schicksale so ordnete, wie er es vorgeschlagen hatte, und fortfuhr, daß er es erraten habe, war er entzückt, und es klopfte ihm das Herz bis zum Halse."9) In diesem Buch, das in der Präzision der Analyse und der Kunst der Darstellung seinesgleichen sucht und auch in Bettelheims eigenem Lebenswerk einen Höhepunkt seiner Forschungsarbeit und seines literarischen Schaffens darstellt, beschäftigt sich Bettelheim auch mit der Frage der Buch-Illustration von Volksmärchen. Solche "erläuternden" Bebilderungen mögen zwar, wie er schreibt, Erwachsenen großes ästhetisches Vergnügen bereiten und rufen vielleicht auch nostalgische Erinnerungen an die eigene Kindheit in ihnen hervor. Aber so ansprechend und reizvoll (für sich genommen) die "Veranschaulichung" der bildmächtigen alten Märchen sein kann: sie drängt doch naturgemäß der selbstschaffenden Phantasie des Kindes die Vorstellungen des Künstlers auf und schränkt insofern die entwicklungsnotwendige freie Imagination des Kindes bereits ein. (10)
Um wieviel mehr muß das dann für die rastlos wechselnden "bewegten Bilder" im Fernsehen gelten - ganz unabhängig von dem, was sie darstellen! Sie setzen ja nicht nur des Kindes eigene schöpferische Phantasie zeitweilig außer Kraft, sondern der Ablaufzwang der Bilder nötigt das Kind obendrein zur gleichsam atemlosen, punktuellen Konzentration auf eben diese rasch aufeinanderfolgenden Bilder bzw. Bildsequenzen. Die Wirkung solcher hochdynamischen Bildabfolgen besteht deshalb vor allem darin, dass im Kind rasch wechselnde Gefühle ausgelöst werden, dass es - sozusagen - "von Emotion zu Emotion" gejagt wird.11) So bleibt dem Kind keine Zeit und keine Ruhe, "Abstand" zu nehmen und das ihm vorgeführte Geschehen innerlich zu verarbeiten. (Würde ihm die Geschichte "nur" erzählt oder vorgelesen werden, so könnte das Kind die Ereignisse, von denen da berichtet wird, vor seinem inneren Auge gemächlich vorbeiziehen lassen und den Zusammenhang und die Bedeutung der Geschichte in Ruhe mitdenkend erfassen.) Wenn
Kinder viel allein sind, laufen sie Gefahr, sich in dem Netz
wirklichkeitsfremder Bilderwelten immer tiefer zu verstricken. Um dieser
Gefahr entrinnen zu können, brauchen sie den beständigen "Dialog
mit der Welt" - vor allem im vertrauensvoll-geselligen Umgang mit
ihren Eltern (und anderen Bezugspersonen), im ausgiebigen Spiel mit
anderen Kindern, in der praktischen Erkundung und Erprobung der realen
Welt.12) Auf diesem Weg vollzieht sich im Laufe der Kindheit
unmerklich die Metamorphose des kindlichen Denkens: die inneren Bilder des
Kindes von einer beseelten Natur (die mit guten und auch bösen Absichten
erfüllt ist) treten langsam in den Hintergrund, und es erkennt mit der
Zeit, daß in dieser Welt, wenigstens was ihre sinnlich erfassbare Seite
angeht, verlässliche Naturgesetze walten.
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Pro und Contra Kinderfernsehen Besagte Aktion war eine demokratisch nicht legitimierte, jedoch für Initiatoren aus Politik und anderen Gesellschaftsbereichen ungemein vielversprechende Gleichschaltung zweier vom Ziel her diametral entgegengesetzter Rundfunksyteme. In der alten Bundesrepublik schlossen, zum Zweck dieser clandestin geplanten und durchgeführten Verschmelzung, führende Politiker aller damals in Bund und Ländern regierenden politischen Parteien - trotz sonstiger erbitterter Gegnerschaft - 1987 den Ersten Rundfunkstaatsvertrag.
1) FOCUS,
Titelbeitrag: Kinder müssen fernsehen. Die Wissenschaft bricht mit
einem Tabu. Warum TV für die Entwicklung wichtig ist. März 2002 2) ELTERN, November 1993
In der Zeitschrift
ELTERN erschienen jedoch auch Beiträge, die in Sachen
Kinderfernsehen unzweideutig Stellung zugunsten des Kindes
beziehen. Besondere Beachtung verdient dabei ein Interview mit dem Bremer
Kultursenator Horst-Werner Franke, das hier wegen seines politischen
Seltenheitswerts - in bezug auf die Offenheit, Informationsdichte und
Konsequenz in der Argumentation - ungekürzt wiedergegeben wird:
WINN, MARIE: The Plug-In Drug, The Viking Press, New York 1977; deutsch: Die Droge im Wohnzimmer, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg, 16. - 18. Tausend März 1988 Unter der Überschrift "Eine gefährliche Bewußtseinsveränderung" (S. 27 ff.) schreibt die Autorin über das Fernsehen von Kindern im Vorschulalter: "'Ich halte das Fernsehen für eine ziemlich bemerkenswerte geistige Leistung', erklärte Dr. Edward Palmer, der wissenschaftliche Leiter von ‚Sesamstraße' ... Durch die Schilderungen, die Mütter von dem Verhalten ihrer kleinen Kinder geben, wird der Eindruck, daß das Fernsehen eine anregende, geistige Beschäftigung sei, jedoch keineswegs erhärtet ... Wenn Charles vom Kindergarten nach Hause kommt, macht er es sich mit seiner gesamten Ausrüstung – seiner Decke und seinem Daumen – vor dem Kasten bequem. Dann versinkt er in einen Trancezustand. Es ist fast unmöglich, seine Aufmerksamkeit zu erlangen. So sieht er stundenlang zu, wenn ich ihn lasse. Aber obwohl er nicht den Eindruck macht, wirklich ganz wach zu sein, scheint er auch nicht zu schlafen ... Ich weiß nicht, was es ist. Er scheint einfach mesmeriert zu sein.' ‚Mein Fünfjähriger ist völlig weggetreten, wenn er fernsieht. Er wird von den Vorgängen auf dem Bildschirm total gefangengenommen. Er ist vollkommen gefesselt, wenn er zuschaut, und nimmt nichts um sich herum wahr. Wenn ich ihn anspreche, während er fernsieht, hört er mich einfach nicht. Um zu ihm durchzudringen, muß ich das Gerät abschalten. Dann kommt er wieder zu sich.' ‚Wenn Tom fernsieht, geht er nicht ans Telefon, obwohl es gleich neben ihm laut läutet. Er hört es einfach nicht.' Immer wieder schildern Eltern, oft mit beträchtlicher Sorge, den tranceartigen Zustand, in den ihre Kinder beim Fernsehen geraten. Der Gesichtsausdruck des Kindes verändert sich. Der Kiefer ist entspannt und hängt leicht geöffnet herab; die Zunge berührt die Schneidezähne (soweit vorhanden). Die Augen machen einen glasigen, leeren Eindruck. In Anbetracht der unbegrenzten Vielfalt kindlicher Persönlichkeiten und Verhaltensmuster staunt man umso mehr, wie sehr sich der Bewußtseinszustand der Kinder während des Fernsehens zu gleichen scheint. Dr. Brazleton, ein Pädriatiker, der über Kinder schreibt, beschreibt ein Experiment mit Neugeborenen, das für die Fernsehtrance relevant sein könnte: ‚Wir setzten eine Gruppe ruhig daliegender Säuglinge einem beunruhigenden visuellen Reiz aus – einer grellen Operationslampe, die in 60 cm Entfernung über ihren Köpfen angebracht war. Die Lampe wurde drei Sekunden lang eingeschaltet, dann eine Minute lang abgeschaltet. Dieser Vorgang wurde zwanzigmal wiederholt. Während des ganzen Tests wurden der Herzschlag, die Atmung und die Gehirnwellen der Babies gemessen. Beim ersten Anschalten des Lichts waren die Säuglinge sichtlich beunruhigt; die Heftigkeit ihrer Reaktion verringerte sich jedoch nach mehrmaliger Wiederholung des Lichtreizes sehr rasch. Nach dem zehntenmal waren keine Veränderungen des Verhaltens, des Herzschlags oder der Atmung feststellbar. Nach dem fünfzehnten Anschalten tauchten EEG-Schlafmuster auf, obwohl kein Zweifel bestand, daß ihre Augen noch Licht aufnahmen. Nach Ablauf dieses Reizgeschehens erwachten die Kinder schreiend und um sich schlagend aus ihrem ‚induzierten' Schlaf. Unser Experiment bewies, daß das Neugeborene nicht auf Gnade oder Ungnade seiner Umgebung ausgeliefert ist. Es verfügt über eine Art von Abschaltvorrichtung, durch die es ihm gelingt, mit beunruhigenden Reizen fertig zu werden.: Es kann sich abkapseln und in einen schlafähnlichen Zustand versinken. Aber wenn wir uns vorstellen, wieviel Energie das Kleinkind auf dieses Abschalten verwenden muß – Energie, die es für bessere Zwecke brauchen könnte -, dann verstehen wir, wie teuer es diese Fähigkeit bezahlen muß ...
Das Fernsehen
schafft ähnlich wie das Scheinwerferlicht
eine Umgebung, deren Reize das Kind bedrohen
und überfluten; es kann sich ihrer nur erwehren, indem es sich
über seinen Abschaltmechanismus passiver macht.
Ich habe dies bei meinen eigenen Kindern ebenso beobachtet wie bei den
Kindern anderer Leute. Solange sie vor dem plärrenden und flimmernden
Kasten saßen und einen mit Schrecknissen verschiedenster Art gespickten
Film ansahen, waren die Kinder mucksmäuschenstill ... sie waren
‚gebannt'.'' Vgl. auch:
Piaget, Jean:
La construction du réel chez l'enfant, Neuchatel u. Paris 1937,
deutsch: Der aufbau der Wirklichkeit beim Kinde, Klett Verlag,
Stuttgart 1974
Über den Prozeß der
Personalisierung des kleinen Kindes schreibt Winnicott in seinem
Buch Familie und individuelle Entwicklung:
Fußnoten
zum obigen Beitrag 6) Piaget, Jean: La représentation du monde chez l'enfant, Presses Universitaires de France 1926; deutsch: Das Weltbild des Kindes, Klett-Cotta im Ullstein Taschenbuch, Frankfurt am Main - Wien - Berlin 1980. 7) Bettelheim, Bruno: The Uses of Enchantment, Alfred A. Knopf, Inc., New York 1975, 1976; deutsch: Kinder brauchen Märchen, dtv München 1995, 18. Aufl., S. 56 8) v. Beit, Hedwig: Das Märchen. Sein Ort in der geistigen Entwicklung, Francke Verlag Bern und München 1965.
9) Bettelheim,
Bruno: Kinder brauchen Märchen, S. 176.
10) "Das Fernsehen
nimmt die Phantasie gefangen, es befreit sie nicht. Ein gutes Buch regt
den Geist an und befreit ihn gleichzeitig." Aus:
11) Der renommierte
Medienwissenschaftler Bernward Wember untersuchte diesen
Fernsehwirkungs-Mechanismus am
Beispiel der Zuschauerwirkung von politischen Infomationsfilmen des ZDF.
Wember stellte der Öffentlichkeit seine grundlegende
Medienwirkungs-Analyse vor in dem Film "Wie informiert das Fernsehen?",
der am 12. Dezember 1976 vom ZDF mit großer Publikumsresonanz
ausgestrahlt wurde.
12) Bruno
Bettelheim schreibt dazu: "Kinder, die man gelehrt hat oder die
konditioniert wurden, den größten Teil des Tages passiv dem
Kommunikationsstrom zu lauschen, der vom Bildschirm ausgeht, und sich der
emotionalen Wirkung der sogenannten Fernsehpersönlichkeiten zu überlassen,
sind oft unfähig, auf wirkliche Personen zu
reagieren, weil diese weit weniger Gefühle freisetzen als gute
Schauspieler. Was noch schlimmer ist, diese Kinder verlieren
die Fähigkeit, von der Realität zu lernen, denn die eigenen
Lebenserfahrungen sind viel komplizierter als die Ereignisse, die sie auf
dem Bildschirm sehen." Aus:
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Juni 2015